Die Debatte um das Manifest »Der kommende Aufstand«

Ein Feuer auf die Erde zu bringen

Das französische Manifest »Der kommende Aufstand« kann nicht der Schmuddelecke der deutschen Ideologie zugeordnet werden. Es schöpft aus anderen literarischen Quellen.

Zu den Merkwürdigkeiten um die Debatte, die das Manifest »Der kommende Aufstand« des unsichtbaren Komitees in den Feuilletons ausgelöst hat, gehört die Tatsache, dass die deutschesten und ideologischsten Beiträge in der Taz und in der Jungle World erschienen sind. Beide (»Fast wie Gas« in der Taz und »Links ist das nicht!« in der Jungle World) wurden vom selben Schreiber verfasst.
Dieser Schreiber, dessen Namen auszusprechen wir uns hier – einer Liedzeile Heinrich Heines folgend – nicht erfrechen, lieferte ein Stück sozialdemokratischen Denkens ab, das Josef Dietzgen alle Ehre machen würde. Dietzgen, Verfasser einer »sozialdemokratischen Philosophie«, kennt heute zu Recht niemand mehr, genauso wie in fünf Jahren niemand mehr Thilo Sarrazin kennen wird. Es gehört zum Wesen des sozialdemokratischen Denkens, dass seine Verfasser verschwinden wie der Schnee im Frühling, dafür aber die Inhalte unverbesserlich alle paar Jahre unter neuem Namen wieder auftauchen. Deshalb nennen wir der Kenntlichkeit halber unseren Schreiber den »Neuen Dietzgen«.
Ewig in die Geschichte der Philosophie eingeschrieben ist Josef Dietzgen nur, weil er in Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen der ausgesprochene und zitierte Gegner ist. Die Thesen, unter dem Titel »Über den Begriff der Geschichte« veröffentlicht, sind Benjamins letztes Werk. 1939/40 im französischen Exil unter dem Eindruck des Nazi-Horrors entstanden, richten sie sich gegen die Sozialdemokratie in all ihren Erscheinungsformen. Benjamin muss geahnt haben, dass nach dem Sieg über die Nazis ein Übel unbeeindruckt wieder auftauchen würde: das sozialdemokratische Denken, das für Benjamin von Anfang an ein Ort des »Konformismus« war. Wichtiger ist hier aber ein anderes Zitat aus den Thesen. »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist«, schreibt Benjamin auf der Flucht vor den Nazis. Den in Anführungszeichen gesetzten Begriff des »Ausnahmezustands« übernimmt Benjamin von Carl Schmitt, kehrt ihn aber um. War für Schmitt der Ausnahmezustand allein auf den Staat bezogen, auf eben den Moment, in dem der Staat droht aufzuhören bzw. unterzugehen, ist er für Benjamin die Regel der Unterdrückten, nämlich rechtloses Ausgeliefertsein an die Willkür der Herrschenden. Für Schmitt gab es nichts Schlimmeres als das Ende des Staats, weil dann das Chaos ausbreche und Recht und Ordnung untergingen. Als Staatsrechtler hatte sich Schmitt dieser Staatsobsession so ergeben, dass er, aus seiner Sicht komplett folgerichtig, 1934 nach den Morden der SS an den SA-Führern den berüchtigten Aufsatz schrieb, dessen Titel lautete: »Der Führer schützt das Recht«.
Zwei Dinge sind hier von Bedeutung. Zum einen: Schmitt war eine Zeit lang Nazi und nie ein Demokrat. Das Problem daran ist nur: Das ist weder neu noch bestreitet das heute irgendjemand. Und zum Zweiten: In »Der kommende Aufstand« wird der Begriff vom »Ausnahmezustand« exakt in der Bedeutung benutzt, die Walter Benjamin ihm gegeben hat. Carl Schmitt kommt im ganzen Text nicht vor, weder explizit noch implizit. Die Behauptung des Neuen Dietzgen, das Manifest stütze sich auf die »Theorien des Nazijuristen Carl Schmitt«, ist also falsch.
Mit Benjamin ist man jedenfalls schon etwas näher dran an den literarischen Traditionslinien, aus denen »Der kommende Aufstand« seine sprachliche Kraft schöpft. Und um die Linien, die weiß Gott keine geraden sind, auf denen die Autoren des Manifestes sich so souverän bewegen wie Maos Partisanen auf dem langen Marsch in den Bergen, Dörfern und Schluchten des ländlichen China, soll es hier gehen.
Bevor es aber soweit ist, muss man zumindest noch den gröbsten Müll wegräumen, den der Neue Dietzgen hier hinterlassen hat. Denn die Sätze unseres Mannes sind gedankenarm, ressentimentgeladen und denunziatorisch. Gedankenarm, weil sie als Ausblick nichts anderes kennen als die »Emanzipation des Bürgers von den Eliten« durch parlamentarische Demokratie. Es ist nun aber eine Lehre nicht nur der deutschen Geschichte, dass Demokratien weder Cäsaren noch Diktaturen verhindern.
Was man zurzeit ja auch sehr schön an den Befürwortern der Demokratie sehen kann. Denn wer bekennt sich heute uneingeschränkt zur Demokratie? Zu nennen wären da zum Beispiel solche Hochsympathen wie Jean Marie Le Pen und Silvio Berlusconi. Wer hat dagegen seine Schwierigkeiten mit der Demokratie? In der langen Reihe der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Demokratie sind das – um nur wenige zu nennen – zum Beispiel Platon, Hegel, Marx, Nietzsche, Wittgenstein, Deleuze und heute Agamben, Badiou und Toni Negri. So verschieden sie auch sind, die Dümmsten waren und sind sie nicht. Hinzu kommt, dass sie sich alle auf die Suche nach der Wahrheit begeben haben, was sie auf immer von der Sozialdemokratie trennt. Denn die Sozialdemokratie kennt keine Wahrheit, kein »Entweder-oder«, sie kennt nur das »kräftige Sowohl-als-auch« (Willy Brandt). Wirkliches Denken fängt genau an der Sollbruchstelle von Parlamentarismus und den politischen wie philosophischen Wahrheitsprozeduren an. Der Neue Dietzgen hört hier aber auf und gibt sich lieber seinem Ressentiment hin. Es wird vor allem durch den Erfolg des »etwa 100seitigen Pamphlets« befeuert. Ein Ressentiment, mit dem unser Mann hierzulande nicht allein dasteht. Das hat schon so manchen deutschen Gastprofessor in den USA auf die Palme getrieben, wenn er auf der Suche nach den schönen, jungen Menschen über seinen Campus schritt und feststellen musste, dass die Jungen nicht Helmut Schmidt, Thilo Sarrazin oder Peer Steinbrück lesen, sondern Giorgio Agamben, Alain Badiou oder »Der kommende Aufstand«. Da sitzt zum Beispiel der Neue Dietzgen in einem DFG-Graduiertenkolleg und macht sich so seine Gedanken über das Wort »Glamour« und seine Verbindungen zur Herrlichkeit der Kirchenväter – und was macht die Welt? Sie liest Giorgio Agamben und »Der kommende Aufstand«. Was in diesem Fall eindeutig für die Welt spricht und nicht ohne Witz ist, weil es nämlich auch die Invek­tiven des Neuen Dietzgen sind, die den Verkauf etwa von Agambens »Die kommende Gemeinschaft« fördern, wie man vom Verlag erfahren konnte.
Überhaupt nicht lustig ist aber der Drang des Autors zur Denunziation. Von einem Reimport deutscher, namentlich von Schmitt und Heideg­ger inspirierter Denkformen ist da die Rede. Die Autoren von »Der kommende Aufstand« werden damit in eine rechte, chauvinistische und – natürlich – antimodernistische Ecke gestellt, mit der ihr Text nicht das Geringste zu tun hat. Mal abgesehen davon, dass es in Hinblick auf den Verdacht des Antimodernismus und die Verbindung dieser Strömung mit der politischen Vokabel »rechts« offenbar eine weit verbreitete Begriffsverwirrung gibt. Denn antimodern im Sinne von technikfeindlich waren der Faschismus und der Nationalsozialismus nie. Von den italienischen Futuristen bis zur deutschen V2-Rakete lässt sich eine extreme Aufgeschlossenheit faschistischer Bewegungen gegenüber der industriellen Moderne feststellen, vor allem gegenüber der Mobilisierungsmoderne. Der Begriff »Blitzkrieg« ist deutsch. Aber was soll’s, das sind nur Kleinigkeiten gegenüber dem Verdikt, das französische Autorenkollektiv kritisiere die Zeitstände in »rechtskonservativer Manier« und sei über die »nationsozialistisch gefärbten Theoretiker« Heidegger und Schmitt selbst in diesem braunen Sumpf versunken. Das ist nicht nur Quatsch, es ist offensive Besatzer-Ideologie, die mit der Nazikeule auf Sachen einschlägt, die sie nicht versteht. Besatzer-Ideologie deshalb, weil deutsches Denken die einzig richtige Interpretation deutscher Denker auch in anderen, nicht-deutschen Kontexten beansprucht.
Denn in welcher Tradition das namenlose Kollektiv schreibt, ist offensichtlich. An der entscheidenden, den französischen Staat betreffenden Stelle wird Alexandre Kojève zitiert. Kojève, einer der bedeutendsten und wirkmächtigsten Hegel-Interpreten des 20. Jahrhunderts, entstammte einer russischen Familie assimilierter Juden und war vor den Sowjets über Polen und Deutschland nach Frankreich geflohen. In Frankreich war er während der Nazibesetzung aktives Mitglied der Résistance und nach dem Krieg als hoher Funktionär der De-Gaulle-Regierung am Aufbau der EWG beteiligt. Dabei bezeichnete er sich zeit seines Lebens als den letzten wirklichen Stalinisten. Alle, die Kojève kannten, rühmten sein Talent zum Bürgerschreck, und auf jenes epater le bourgeois, die ungerührte Verletzung des Bürgers im treffenden Wort, kommt es hier an. »Der kommende Aufstand« gründet auf der Überzeugung, »dass der Kompromiss, kraft dessen man in der modernen Sozietät überhaupt nur leben kann, so massiv und widerwärtig ist, dass angesichts seiner alle unsere Maßlosigkeiten und Ausfälle gerechtfertigt sind«. Geschrieben hat den Satz André Breton 1925 in der Zeitschrift La Revolution Surrealiste. Und zu den Maßlosigkeiten der Surrealisten gehörte auch die Aufforderung zur Brandstiftung, eine Forderung, die in »Der kommende Aufstand« bereits Wirklichkeit geworden ist. »Bis in die Stadtzentren hinein haben sich die Feuer gebrannt, die methodisch verschwiegen wurden«, heißt es an einer Stelle.
Es handelt sich bei dem Manifest zuerst um einen Brandtext, mit der Betonung auf Text. Die Geschichte der Feuer im Text ist es, aus der das französische Manifest seine universelle Wirkmacht zieht. Angefangen hat sie mit Jesus. »Ein Feuer auf die Erde zu bringen bin ich gekommen, und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht!« verkündet Jesus im Lukas-Evangelium. Von da aus zieht sich eine Brandschneise durch die Texte Sören Kierkegaaards (»Was sagt der Brand-Major?«), der Surrealisten, der Situationisten bis zu den Flugbättern der »Kommune 1« in West-Berlin. Aufgeschrieben hat diese Geschichte der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes in einem Gutachten für die wegen der Flugblätter angeklagten Kommunarden Rainer Langhans und Fritz Teufel 1967. Von Bedeutung für die Lektüre von »Der kommende Aufstand« ist Taubes’ Schlusssatz im Gutachten für das Gericht. »Die ›Kommune 1‹«, schrieb er, »ist ein Objekt für die Religionsgeschichte und Literaturwissenschaft, aber nicht für Staatsanwalt und Gericht.«
Der Neue Dietzgen hingegen bezeichnet in der Taz das Vorgehen der französischen Behörden gegen die mutmaßlichen Verfasser von »Der kommende Aufstand« als »zwar verfahrensmäßig skandalös, aber inhaltlich nicht ganz un­berechtigt«. Das ist der Blick eines Geistesstaatsanwalts. Aber vom Text selbst hält das natürlich auch niemanden ab.