Die Idee der kulturellen Identität ist reaktionär

Kultur ist Zwang

Der Begriff von einer kulturellen Identität ist von Grund auf reaktionär. Solidarität mit Flüchtlingen kann daher nur antirassistisch sein, wenn sie antikulturalistisch ist.

Eine wie auch immer als sinnvoll anzusehende »Integrationsdebatte« hätte sich selbstverständlich, sollte man meinen, zumindest implizit auf die realen gesellschaftlichen Bedingungen zu beziehen. So aber, wie sie tatsächlich geführt wird – in bewusster Abstraktion von dieser Realität, das heißt, zentriert um den Begriff der Kultur –, bringt diese »Debatte« zum Ausdruck, dass es den Beteiligten um etwas anderes geht als das Schicksal der von der Kapitalverwertung Ausgegrenzten: nämlich um ein allein den Diskutierenden gemeinsames Ziel, für dessen Erreichung »nur« noch der richtige Weg, die richtigen Mittel zu finden seien.
Um zeigen zu können, worin dieses Ziel besteht, wäre die Realität, von der dabei abstrahiert wird, zunächst »auf den Begriff« zu bringen. Weil dies hier unmöglich zu leisten ist, seien nur die für das Verständnis des Darzulegenden notwendigen Bestimmungen der in der Integrationsdebatte missachteten Realität – aufs Äußerste komprimiert – expliziert.

Zum ersten: Das Verhältnis von Ökonomie und Politik dreht sich um das Kapital als Souverän gesellschaftlicher Realität. Dieser ist negativ in dem doppelten Sinne, dass er zum einen nur formal und abstrakt »existiert« und als solcher nicht, wie ein Kaiser oder Patriarch, positiv fassbar ist, zum anderen in dem präskriptiven Sinne, dass er gerade in seiner rein formalen Existenz die Ausbeutung und die Herrschaft des Menschen über den Menschen festschreibt. Und insofern er seinen Subjekten unbegreiflich ist, werden diese, sobald sie ihn sich konkret, in persona, vorstellen, zu Psychotikern: Diese Gesellschaft ist strukturell antisemitisch.

Zum zweiten: Aufgrund des dem Staat innerhalb dieser Souveränität erwachsenden Anspruchs auf das Gewaltmonopol ist ihm die Möglichkeit nicht zu nehmen, sich von den Voraussetzungen seiner Existenz – der Sicherstellung der formalen Voraussetzungen kapitalistischer Reproduktion – zu »emanzipieren« und in die gesellschaftliche Verwertung der Subjekte einzugreifen, allerdings, um hier jedes Missverständnis auszuschließen, unmöglich in einem sie von ihrem Souverän emanzipierenden Sinne. Jedenfalls: Insofern der Staat die Mittel hat, zu bestimmen, wer sich wie auf seinem Territorium ökonomisch betätigen darf, ist er von seiner Struktur her unaufhebbar rassistisch verfasst. Die Geschichte des Kapitals ist die Geschichte der Beziehung des Staats zum ökonomischen Grund seiner Existenz, ist die Geschichte der staatlich organisierten Einbettung »partialer, spezifischer Identitäten« in den »Universalismus« des Kapitals.

Zum dritten: Die Produktion der als ungeheurer »Reichtum« erscheinenden, im Überfluss vorhandenen verschiedensten Waren fällt in sich zusammen, wenn die formalen Voraussetzungen dieser Produktion politisch ausgehebelt werden. Dass eine von der notwendig negativen Souveränität des Kapitals abstrahierende Gestaltung des Politischen die produktive Basis des Kapitals (negativ) aufheben muss, ist den ihren Souverän nicht begreifenden Subjekten unvorstellbar; für sie geht diese Reichtumsproduktion, als ob sie von Natur aus existieren würde, aus sich selbst heraus immer weiter bis ins Unendliche; ihnen geht es allein um die Frage nach der Aneignung dieses Reichtums.

Ob links, postmodern oder islamisch: Man versteht sich, über alle nationalen Grenzen und kulturellen Unterschiede hinweg. Denn gemeinsam ist das Ziel, ist ein gegen die negative Souveränität gerichteter positiver, inhaltlich verstandener Universalismus, der den Souverän aus seiner Fesselung an Manager, Banker und Spekulanten im besonderen, aus seinen westlichen Wurzeln im allgemeinen »befreit«, diese Welt also von ihren allergrößten Übeln erlöst. Ein derartig »entfesselter« Souverän, von dem man glaubt, unter ihm ließe sich derselbe Reichtum wie unter dem alten produzieren, kann aber nur als Abstraktion von der Realität, als Kopfgeburt »existieren« – also als Wahn, der nur deshalb nicht als solcher medizinisch diagnostiziert wird, weil er die Normalität repräsentiert, in der die meisten Subjekte sich in ihren Phantastereien bewegen.
Den Nazis gelang eine tatsächliche »Befreiung« des kapitalistischen Souveräns aus seiner Negativität, indem sie die deutschen Gruppen-Körper in all ihrer Pluralität, ihrer chaotischen Vielfalt, zur Volksgemeinschaft verschweißen konnten. 1933 wurde der Wahn der psychotisierten Subjekte Wirklichkeit, mit den daraus sich ergebenden Folgen: Rassismus und Antisemitismus wurden offiziell-positives, vom gesamten Volk zu verwirklichendes, bis zur Niederlage auch verwirklichtes Programm; und der durch die Übersetzung der negativen in die positive Souveränität unwiderruflich gewordene Zusammenbruch der Kapitalreproduktion wurde, polit-ökonomisch konsequent, durch Raubkriege kompensiert.

Ideologisch verwirklichten die Deutschen in all dem die Philosophie des Lehrers von Foucault, Derrida & Co., also die Martin Heideggers – zugegebenermaßen ohne dessen Philosophie wirklich zu kennen; aber das war auch gar nicht nötig. Dessen universal Allgemeines, das ominöse »Sein«, wird heute zwar nicht mehr so wie von den Nazis benannt, also anders denn als Volksgemeinschaft; es wird womöglich – nicht ganz richtig, aber eben auch nicht ganz falsch – als angeblich ganz anderer Inhalt gedacht (Welt-Frieden, allgemeine Gerechtigkeit – das gesamte Arsenal linker, sozialdemokratischer Allgemeinplätze lässt sich hier unterbringen). Und von den philosophisch »Gebildeteren« wird es wie je von vornherein bewusst uneindeutig gefasst: Sie sprechen das, wofür oder wogegen sie »kämpfen«, nur in ständig variierten Andeutungen aus, und vor allem: Statt für sich selbst zu sprechen, lassen sie sprechen, kurz: Sie fragen, ohne sich festlegen lassen zu wollen, permanent nach den Orten und Modi, in denen sich »uns« das Sein offenbart. In einem aber sind sie sich alle einig: Das Kapital konstituiert die Menschenrechte nicht, sondern desavouiert sie, weshalb sie allesamt sich, je auf ihre Weise – die einen eher individualistisch, die anderen kollektivistisch, auf jeden Fall aber: inhaltlich –, berufen fühlen, ihr, der »bloßen« Form, den »wahren« Inhalt zu verschaffen.
Beim kapitalistisch konstituierten Souverän hingegen, dem negativ-realen, dem, der den unermesslichen Warenreichtum liberal-kapitalistisch verfasster Gesellschaften erst zu produzieren erlaubt, handelt es sich um nicht sehr viel mehr, aber auch nicht weniger als den welthistorischen, wenn auch in seiner Ausführung allzu oft sich selbst dementierenden Beweis dafür, dass die Menschheit ohne Vergemeinschaftung auskommen kann, die auf unmittelbarer, personaler Herrschaft, auf Befehl und Gehorsam, auf überlieferten Sitten, Gebräuchen und Traditionen, auf »ewig« festgeschriebenen Tugenden beruht, den Beweis dafür also, dass der Mensch in einer (in präzise zu bestimmender, hier nicht zu leistender Weise: rein formal synthetisierten) Gesellschaft, in der das Individuum sich selbst überlassen bleibt, nicht nur überleben, sondern auch sehr viel besser und selbstbestimmter, und sogar, obwohl das naturgemäß schwer nachzuweisen ist, vom Prinzip her moralischer leben kann als sonstwo zuvor. Dies festzustellen, bedeutet alles andere als ein Loblied auf das Kapital zu singen, sondern nichts weiter, als dass sich jedes anthropologisch oder sonstwie begründete Gerede über die Notwendigkeit einer positiven Bindung des Individuums an eine Religion, eine Kultur beziehungsweise ein Volk, eine Ethik oder sonst ein »Sein« historisch längst als das erwiesen hat, was es ist: reaktionäres Gewäsch.

Die mit dieser Individualisierung verbundene Vereinzelung gilt allgemein geradezu als Grundübel westlicher Zivilisation, aber, wer genauer hinsieht, wird bemerken, dass diese Denunziation nur dem Allgemeinen gilt und so gut wie nie auf sich selbst im Konkreten bezogen wird: Denn in die überwundenen Fänge patriarchaler Familienbande zurück will freiwillig kaum ein westlich Sozialisierter wirklich, auch und erst recht die Gender-Philosophin nicht, die den Kopftuchzwang zum selbstbewussten Ausdruck kultureller Iden­tität verklärt. Ob es sich bei dieser Abstraktion von sich selbst um bloße Reflexionsverweigerung handelt, schiere Heuchelei von autoritären Charakteren oder eine Identifikation mit dem Aggressor, wäre nur in einer Einzelfalluntersuchung zu klären. Jeder Flüchtling jedenfalls, der die Grenzen der Festungen Europa und USA unter Einsatz seines Lebens und ohne begründete Aussicht auf Erfolg zu überwinden versucht, beweist praktisch, dass er lieber unter den Bedingungen formaler Freiheit und Gleichheit sowie in Konkurrenz zu allen Anderen leben will als in de »Kultur«, aus der er stammt und die ihm inhaltlich vorgibt, wie er zu leben hat.
Statt mit diesen Flüchtlingen solidarisch zu sein, was zu versuchen hieße, ihnen das zu verschaffen, was ihnen einzig konkret hilft: die Legalisierung ihres Aufenthaltes – die ohne deren Distanzierung von hergebrachten Autoritätsverhältnissen natürlich nicht zu haben ist –, entwickeln westliche, linke Intellektuelle einen Selbsthass auf ihre Zivilisation, auf die in ihr, zu unser aller Glück, »bloß« formal garantierten Menschenrechte. Der ist umso verachtenswerter, als diese westlichen, linken Intellektuellen nicht bemerken wollen, wie sehr sie damit diese Flüchtlinge verhöhnen und als wie rassistisch sie sich erweisen, wenn sie die »Kulturen«, aus denen jene fliehen, zu einem Wert an und für sich erklären, zu etwas – in aller »Vielfalt« – Identischem, das der westlichen »Kultur« wenn nicht gar überlegen, so doch zumindest ebenbürtig sei.

Der Begriff der kulturellen Identität bringt eines der zentralen Ressentiments aus dem Arsenal deutscher Ideologie zum Ausdruck, das um keinen Deut weniger rassistisch wird, wenn es sich gegen sich selbst richtet. Der »spezifische Intellektuelle«, der sich »in konkrete Kämpfe einmischt, um andere zum Sprechen zu bringen« (Nora Sternfeld, Foucault zitierend, Jungle World 48/2010), ist der eurozentristische Repräsentant deutscher Ideologie, der genau weiß, dass der derartig zum Sprechen Gebrachte etwas anderes als eben deutsche Ideologie nicht von sich geben wird. »Alles für alle. Für uns nichts«, plärrt der Subcomandante. Das war zu allen Zeiten die Parole von Demagogen, die sich selbst aus diesem »Alle« ausnahmen, weil sie etwas Besseres erwarten: nämlich die Hirtenschaft des Seins über »alle« und »alles«; Marcos beweist damit nur erneut, wie gut man Heidegger verstanden haben kann, ohne je ein Wort von ihm gelesen zu haben.
Die Souveränität, um die es hier geht und die alle Kollektivisten und Individualisten, Universalisten und Partikularisten gleichermaßen »befreien«, was heißt: inhaltlich verwirklichen wollen, statt sie durch eine Ausbeutung und Herrschaft verunmöglichende Synthesis zu ersetzen, wurde von keinem gewollt; sie entstand aus nichts anderem als so etwas wie einem schicksalhaften Unfall in der Geschichte und kann somit keinem – keiner Macht, keiner Klasse, keiner Gruppe – als bewusst gewollte »Leistung« zugesprochen werden, so wenig wie der Pyramidenbau, die Erfindung der Schrift etc. irgendeiner Kultur. All dies wurde von – an sich immer schon gleich freien – Menschen geschaffen, wenn auch unter bestimmten, historisch vorgefundenen Bedingungen. Andere Subjekte der Geschichte als das Einzelexemplar der Gattung Mensch gibt es nicht und hat es nie gegeben.