Micha Brumlik im Gespräch über Postkolonialismus und Homonationalismus

»Die wildesten Gerüchte kursierten«

Anfang Dezember hielt der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik einen Vortrag auf der internationalen Konferenz »Fundamentalism and Gender: Scripture – Body – Community«, die an der Berliner Humboldt-Universität stattfand. An der Konferenz nahm auch Jasbir Puar als Rednerin teil, Assistenzprofessorin an der Rutgers University in New Jersey und Autorin des Buches »Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times«. Während einer Podiumsdiskussion zu ­Puars Vortrag mit dem Titel »Beware Israeli Pinkwashing«, an der auch der Erziehungswissenschaftler teilnahm, kam es zu einem Eklat. Micha Brumlik spricht über den Vorfall und Puars Thesen zum »Homonationalismus«.

Sie haben Kritik an dem Vortrag von Jasbir Puar geäußert. Was genau hat die Referentin auf der Konferenz gesagt?
Frau Puar hat eine radikalisierte Variante der Argumente der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Spivak vorgetragen. Frau Puar hat behauptet, dass der Staat Israel die Liebe zu homosexuellen Menschen entdeckt habe. Das kann man übrigens hier in Europa bei rechtspopulistischen Bewegungen beobachten. Und dazu lieferte Puar eine Werbekampagne aus Israel als Beweis, die sich damit brüstet, dass sich Israel unter allen nahöstlichen Staaten am liberalsten gegenüber Homosexuellen verhält.
Dies bezeichnete sie als ein Beispiel und eine neue Form des »Homonationalismus«, den sie auch etwa in den USA zu entdecken glaubt. Der weitere vorgebliche Beweis für ihre These war eine Parade in Jerusalem für homosexuelles Selbstbewusstsein, auf der auf einem Transparent zu lesen war: »Pride in Palestine«. Obwohl man nicht weiß, wer das warum geschrieben hatte, interpretierte Puar dies so, als würden vor allem westliche, womöglich israelische Homosexuelle die palästinensische Autonomiebehörde indirekt dafür kritisieren, dass Homosexuelle in den palästinensischen Gebieten nicht genug Freiheiten hätten.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe versucht, zwei Fragen zu stellen. Ich habe Frau Puar gefragt, ob es jenseits dessen nicht tatsächlich reale Unterdrückungsverhältnisse in den Autonomiegebieten gäbe. Darauf hat sie geantwortet, dass sie im Moment nicht daran interessiert sei, dies normativ zu beurteilen. Sie hat dann noch eine Ausführung gemacht, die ich jedenfalls so verstanden habe, dass man das Verhältnis von Juden und Muslimen womöglich verbessern könne, wenn man einräume, dass die israelische Politik tatsächlich die Palästinenser unterdrücke. Daraufhin habe ich sie gefragt, ob sie denn meine, dass das reale Verhalten des israelischen Staates eine Ursache für den Antisemitismus in Europa und anderswo sei.
Daraufhin kam es zum Eklat: Bevor Puar mir diese Frage beantworten konnte, ist mir die Moderatorin, eine niederländische Professorin für Interkulturelle Theologie, ins Wort gefallen und wollte diese Äußerung nicht mehr zulassen. Ich habe mich sehr geärgert und wäre auch fast gegangen, wenn die Veranstalterinnen mich nicht besänftigt hätten.
Hätten Sie noch weitere Fragen an Puar gehabt?
Was ich bei ihr schwierig finde, ist – und das scheint auch in ihrem Buch so zu sein –, dass sie meint, der Terrorismus, zumal der Selbstmordterrorismus, werde in der westlichen Rezeption so wahrgenommen, als handele es sich bei den Tätern um kranke Perverslinge. Wobei ich psychoanalytisch orientiert immer noch denken würde, dass mit jemandem, der so etwas tut, tatsächlich irgendetwas nicht stimmen kann.
Außerdem fand ich problematisch, dass die Frage der realen Unterdrückung – in diesem Fall von Homosexuellen – für Puar nicht wichtig ist, sondern dass sie nur das diskursive Dispositiv der Homosexuellenfeindlichkeit und Homosexuellenfreundlichkeit interessiert. Und es wäre über ihre Aussage zu streiten gewesen, dass die Unterdrückung von Homosexuellen in den Autonomiegebieten nicht ohne die israelische Besatzung und Repressionspolitik zu verstehen sei. Aber das ging ja nicht mehr, weil meine Wortmeldung nicht zugelassen wurde.
Die Referentin hat zudem gesagt, dass sie in einem Artikel im Guardian nicht geschrieben habe, dass Israel ein im klassischen Sinne totalitärer Staat sei. Tatsächlich schrieb sie in der Zeitung aber am 1. Juli 2010 in Bezug auf Israel von »Mechanismen, mit denen liberale Demokratien ihre eigenen totalitären Regime rechtfertigen« – was immer das nun bedeuten soll.
Welche Aussagen waren für Sie indiskutabel?
Ich denke, der Bogen ist bei diesem »Singling out Israel« überspannt. Auffällig finde ich daneben, wie die Einladung an Puar zustande gekommen ist, zumal wenn man bedenkt, dass die Organisatorin Christina von Braun immerhin eine der beiden Leiterinnen des Kollegs für jüdische Studien an der Humboldt-Universität ist. Ich kann mir das nur dadurch erklären, dass Braun das Buch vorher nicht gelesen hat. Ansonsten ist mir mitgeteilt worden, dass es in der Vorbereitungsgruppe heftige Debatten darüber gegeben hat, ob man Puar einladen soll oder nicht.
Wie war denn die Stimmung auf der Veranstaltung?
Auffällig war zunächst, dass den anderen Vorträgen im Schnitt nur 20 bis 30 Zuhörerinnen und Zuhörer beiwohnten, bei dem Vortrag von Frau Puar aber mindestens dreimal so viele anwesend waren. Dieses aktivistische Publikum hat sich insbesondere auf meine Einwände hin außerordentlich unfreundlich gemeldet. Da war etwa eine junge Dame – und das ist mir zum ersten Mal in meinem Leben passiert –, die mich als »dominanten weißen Mann« kritisiert hat. Ein junger Mann behauptete, die ganze Diskussion zeige, dass in Köpfen wie meinem offensichtlich immer noch die Vorstellung vorherrsche, dass Deutschland eine »weiße Nation« sei. Und was soll man denn davon halten, dass sich während des Vortrags eine Frau gemeldet hat, um sich zu beklagen, dass sich die Deutschen immer nur für den Holocaust interessieren würden, nicht aber für den Genozid an den Hereros? Das ist ja in gewisser Weise auch richtig, nur: Es klang so furchtbar anklagend. Genauer gesagt: Die Deutschen wurden angeklagt, sich zu sehr für den Holocaust zu interessieren. Und ansonsten war der Erregungspegel sehr, sehr hoch.
Das Beunruhigende war auch, dass die ansonsten interessante Konferenz von diesen vielen, vielen Leuten gar nicht wahrgenommen wurde. Die meisten sind nach dem Vortrag von Puar auch gleich wieder gegangen. Puar ist entweder ein heimlicher Star in einer bestimmten akademischen Subkultur. Oder der Titel ihres Vortrags, »Beware Israeli Pinkwashing«, hat bei weitem die größte Hörerschaft angezogen. Was den fragwürdigen Titel angeht: Dafür muss man schon den Veranstalterinnen die Verantwortung zuweisen.
Wie gingen die Organisatorinnen und Organisatoren mit Puars Vortrag um?
Ich erinnere mich, dass am Abend vorher schon die wildesten Gerüchte im Umlauf waren. Man befürchtete etwa ein »Go-in« von irgendwelchen »antideutschen Gruppen«. Die Veranstalterinnen selbst – das war auch ungewöhnlich – haben vor dem Vortrag noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man Frau Puar eingeladen habe und auch hören wolle.
Ist der Begriff des »Homonationalismus«, den Puar eingeführt hat, nicht ein problematischer, weil unwissenschaftlicher und polemischer Begriff? Ein universalistisches Verständnis von Menschenrechten wird als nationalistisch etikettiert. Unter Nationalismus versteht man klassischerweise etwas anderes.
Da gibt es schon ein Problem. Wenn man von Israel, den USA und von einem weiteren Land, von dem Frau Puar spricht, nämlich Indien, absieht, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass die neuen rechtspopulistischen Parteien sich neuerdings mit Gruppen identifizieren, die sie vor 20 Jahren nur mit spitzen Fingern angefasst hätten, nämlich mit Feministinnen, mit Juden und mit Schwulen. Geert Wilders in den Niederlanden empfinde ich dabei als prototypisch. Ich würde immer noch sagen, eine Partei wie die von Geert Wilders ist etwas anderes als die alte Rechte.
Wenn man nach Deutschland beziehungsweise nach Berlin schaut, dann kann man sich fragen, was eigentlich die Partei von René Stadtkewitz, »Die Freiheit«, tatsächlich von dem, was einmal die Republikaner oder die NPD waren, unterscheidet außer der Umstand, dass »Die Freiheit« den alten, nativistischen Nationalismus abgeworfen hat. Ich empfinde diese Partei schon als eine der Gruppen, die vor allem auf einer fremdenfeindlichen Welle segeln.
Ich habe Frau Puar so verstanden, dass sie solche Entwicklungen auch in der internationalen Arena beobachtet und nicht nur bei den entsprechenden rechtspopulistischen Parteien in Europa. In Deutschland sind wir in der glücklichen Lage, keine rechtspopulistischen Parteien in den Parlamenten zu haben. Aber dafür haben wir fast zwei Millionen Leser von Thilo Sarrazin. Die Xenophobie bildet sich im politischen System anders ab, aber die Stimmung ist hierzulande doch ebenso da wie in den europäischen Nachbarländern.
In welcher theoretischen Linie würden Sie Puars Ansatz denn einordnen?
Frau Puar hat hier in Berlin eigentlich nichts weiter vorgetragen als eine weitere Radikalisierung des postkolonialen Ansatzes. Spivak hat schon vor Jahren die weißen, die westlichen Feministinnen dafür kritisiert, dass sie die Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen westlichen Staaten und den Ländern des Südens nicht genug berücksichtigt haben. Insofern ist Puars Ansatz, diese These nun auch auf Homosexuelle auszudehnen, nicht so originell.
Würden Sie diesen radikalisierten Ansatz als eine aktuelle Tendenz in der akademischen Linken betrachten?
Diese Szenenbildung sehe ich hierzulande noch nicht in größerem Umfang. Aber was richtig ist: Auch in Deutschland passiert jetzt das, was sich in den USA schon lange vollzogen hat. Vertreterinnen und Vertreter dieses postkolonialen Theorieansatzes beziehungsweise der sogenannten Queer Studies halten nun auch Einzug in die Fachbereiche und Professuren.
Ich finde das angesichts der Globalisierung auch gut und richtig so. Es gibt hierzulande durchaus auch kritische Vertreterinnen. Man konnte schon vor ein paar Jahren in einem Buch von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan mit dem Titel »Postkoloniale Theorie – Eine kritische Einführung« die ganzen Schwierigkeiten und Kritikpunkte an diesem Theorieansatz nachlesen. Diese Theorie ist schwierig und komplex. Wozu sie hingegen definitiv nicht taugt, ist, eine plumpe Ideologie und ein Lebensgefühl für eine Szene zu stiften.
Können diese postkolonialen Theorien nicht doch als eine Art Identitätsideologie für eine neue akademische Mittelschicht betrachtet werden?
Die Bezeichnung »Mittelschicht« würde mir zu weit gehen. Aber der »Postkolonialismus« kann zu einer Ideologie mehr oder weniger arrivierter Migrantinnen und Migranten werden. Das hat übrigens Spivak schon vor zehn Jahren analysiert und heftig kritisiert. Man weiß eben nicht immer, ob diese neue, wie gesagt vergleichsweise dünne Intellektuellen- und Intelligenzschicht wirklich und zu Recht ausgewiesen für die Belange des Südens sprechen kann. Oder ob dieses Auftreten nicht nur der Verbesserung ihrer eigenen Position als Intellektuelle im westlichen Wissens- und Herrschaftssystem dient.