Peter O. Chotjewitz ist gestorben. Ein Nachruf

Jedem Trend zum Trotz

Eine Erinnerung an Peter O. Chotjewitz, der am vergangenen Dienstag in Stuttgart beigesetzt worden ist.

Am 15. Dezember ist Peter O. Chotjewitz gestorben. Einer der letzten Großen der Nachkriegsliteratur ist damit tot, und einer ihrer vielseitigsten Autoren, vielleicht der vielseitigste von ihnen allen. Chotjewitz beherrschte den Essay und das Gedicht ebenso wie das Drama und den Roman. In seinen Texten beschäftigte er sich genauso souverän mit der Antike oder der Renaissance wie mit aktuellen Geschehnissen, er analysierte Malerei und Musik, schrieb über Politik und Alltagsfragen. Er hatte Stil, schrieb vermeintlich leichthin, doch sein Urteil war immer abgewogen. Er war in den Bibliotheken und Nachschlagewerken ebenso zu Hause wie in der Gegenwart.

Wir alle konnten dies oder Ähnliches in den vergangenen Tagen in nahezu jeder Zeitung und Zeitschrift lesen, deren Feuilleton noch etwas auf sich hält. Und das war schon merkwürdig, waren es doch viele von gerade diesen Blättern, die eben nicht mehr Chotjewitz’ neue Bücher rezensierten, die ihn als Autor ignorierten, obschon er für viele von ihnen lange Jahre geschrieben hatte – immer mal wieder. Lediglich in Konkret und in der Jungle World war regelmäßig von ihm zu lesen, von den Redaktionen dieser Blätter wurde er auch regelmäßig um Beiträge gebeten. Ihnen hielt er die Treue, selbst wenn es seinem Ruf eher schadete.
Schon dies zeigt: Peter O. Chotjewitz war bis zuletzt ein Linker. Und das wiederum erklärt, warum der Literaturbetrieb, der seine Existenz und seine bedeutende Rolle für die deutschsprachige – und die Vermittlung der italienischen – Literatur nicht leugnen konnte, ihn, so lange er lebte, weitgehend ignorierte. Die Leute in den Redaktionen waren selbst – wenn sie denn je links gewesen waren – keine Linken mehr und wollten von ihm nicht daran erinnert werden, dass man auch nach 1990 Linker sein konnte, und das mit Würde, und jedem Trend zum Trotz.
Diejenigen, die eh nie mit dem Sozialismus oder dem Anarchismus geliebäugelt hatten, hassten Chotjewitz mit Leidenschaft. Doch selbst sie mussten zähneknirschend anerkennen, dass Chotjewitz’ Literatur alles andere war als selbstgenügsame Texterei für die eigene Partei. Chotjewitz überprüfte seine Positionen wieder und wieder, er wog die Positionen gegeneinander ab, deckte Lügen und Selbstbetrügereien auf und schonte weder sich noch andere. Sein Mittel war Ironie, auch Selbstironie. Sarkastisch war er nicht. Er provozierte, aber nicht einfach um der Provokation willen, sondern um die, die um ihn herum schliefen, aufzuwecken. Er war Optimist, den Glauben an die Möglichkeit, die Welt verbessern zu können, verlor er nicht, auch wenn die Bewohnerinnen und Bewohner der Welt sich alle Mühe gaben, ihm zu beweisen, dass sie unverbesserlich seien. Er wusste, dass sie nicht besonders viel über sich selbst wissen.

Chotjewitz wusste zudem, dass niemand im Besitz der absoluten Wahrheit ist, doch wusste er auch, dass man das definitiv Falsche ausschließen kann und muss, und dass man damit dem, was ist – oder dem, was sein könnte –, näher kommt. Ein Ideologe war er nie, loyal war er dagegen oft. Seine Loyalität ließ ihn Freundinnen und Freunde, Weggenossinnen und Weggenossen, Kolleginnen und Kollegen niemals verraten. Fand er eine Aussage dumm, so sagte er es. Doch er sagte es stets denen, die die dumme Aussage gemacht hatten, nicht jenen, die nur darauf warteten, es diesen Leuten heimzuzahlen. Das war schwer auszuhalten, denn der, der nicht verrät, kann nicht als Verräter weggedrängt werden, man muss seine Kritik folglich auf sich wirken lassen. Oder aber man muss selbst zum Verräter werden – durch feige Flucht oder durch Denunziation, also durch das, was Chotjewitz eben gerade vermied.
Ich hatte das Glück, Peter O. Chotjewitz kennen zu dürfen, fast sieben Jahre lang. Ich hatte das Glück, mit Pit arbeiten zu dürfen, und er ließ mich, der ich ein großer Fan seiner Bücher war, mit ihm auf Augenhöhe arbeiten. Wie ich oft beobachten durfte, hatte dieser elegant gekleidete, hochgebildete Mann keinen Standesdünkel, er redete mit jeder und jedem, war wirklich interessiert, half, wo er konnte, und das ohne Dank dafür zu erwarten. Im Gegenteil.
Elfriede Jelinek oder Dario Fo – nehmen wir nur diese beiden als Beispiele – verdanken ihm einiges. Erstere schulte, wie sie mehrfach erklärte, an seinen Texten ihren Stil und lernte, dank seines Romans »Die Insel«, auf allzu viel Pathos zu verzichten. Letzterer wurde auch dank der Übersetzungen ins Deutsche, die Chotjewitz angefertigt hatte, zum weltbekannten Schriftsteller. Darauf angesprochen, etwa von Jelineks Biografen, wies er alles von sich. Auch mir gegenüber.
Das tat er auch, wenn es um den Verbrecher Verlag ging. Er verlieh unserem Verlag einigen Glanz, und nicht nur das, er bestärkte auch Autorinnen und Autoren darin, bei uns zu veröffent­lichen. Hörte ich, dass er sich hier oder da lobend über unseren Verlag geäußert hatte, dass er unsere Bücher öffentlich gelobt hatte oder einen Journalisten sogar dazu angehalten hatte, eines dieser Buch zu lesen, so stritt er das ab. »Warum sollte ich das tun?« fragte er und lächelte fein. Dann tat er es wieder.

Pit wirkte mit 76 Jahren, gesundheitlich schwer angeschlagen, noch immer jünger als manch ein 26jähriger. Ein Beispiel auch dafür: In unseren Druckfahnen ist immer auch ein Platz für eine mögliche Widmung freigehalten, dort steht dann, der Einfachheit halber: »Widmung«. »Wem soll ich denn die Bücher widmen«, fragte er mich, als er das Wort in den Fahnen zu Band 3 und 4 der »Fast letzten Erzählungen« fand. »Ich weiß nicht«, antwortete ich, »wem du willst.« »Alterchen« – er nannte mich, wie sich gleich zeigen wird, völlig zurecht, Alterchen. »Alterchen, dann schreib: ›Für Werner Labisch und Jörg Sundermeier, dafür, dass sie diesen Scheiß zwischen zwei Buchdeckel pressen.‹«
Erst lachte ich – wir alberten oft herum –, dann merkte ich, dass er es nicht ganz unernst meinte. Ich brauchte zwei Tage, um es ihm wieder auszureden. Das war mein Kotau vor dem Literaturbetrieb. Ein Kotau vor einem Literaturbetrieb, der die Güte dieses Autors nicht wahrnehmen wollte. Erst jetzt ist mir klar, dass ich viel spießiger bin, als er es war. Er hatte Nachsicht mit mir, dennoch. Auch dafür danke, Pit.
Dieser Autor hatte noch viele Pläne, große Pläne. Er konnte sie in den letzten Jahren nicht mehr verwirklichen, es fehlte die Zeit, dann bald auch die Kraft. Und es war bitter zu sehen, wie dieser Schriftsteller, der sich gern als arbeitsscheu stilisierte und der doch mit ungeheurer Energie und Disziplin an Texten, Auftritten, Statements arbeitete, zuletzt nicht mehr so arbeiten konnte, wie er wollte. Dennoch: Er arbeitete bis zuletzt, wirklich bis in die letzten Tage der Bettlägerigkeit hinein, so kraftvoll, wie er noch konnte.
Wir, die Bewohnerinnen und Bewohner der Welt, die er verbessern wollte und auch zu bessern half, haben Chotjewitz verloren. Allerdings haben wir weiterhin den Menschen als Beispiel und den Autoren als Ratgeber. Machen wir das Beste draus! Ich trauere sehr um meinen Autor, Übersetzer, Lehrmeister, Genossen und nicht zuletzt: Freund. »Mach et jut«, sagte er immer. Mach et jut, Pit!