Gegen Rassismus, für die Emazipation!

Situierter Universalismus

Ein Plädoyer für einen dritten Weg zwischen Kulturrelativismus und der Affirmation »westlicher Zivilisation« und für die Verteidigung des universalistischen Anspruchs auf Emanzipation.

Die Debatte um Universalismus ist seit Jahren festgefahren – in falschen Entgegensetzungen. Die Diskussion innerhalb der deutschen Linken bildet hier keine Ausnahme. In den sich zuspitzenden Kontroversen um Migration, Islamismus etc. treten zwei Positionen besonders hervor.
Die erste kann als Kulturrelativismus bezeichnet werden. Kulturen werden dabei essentialisiert, mit einem Eigenwert ausgestattet und als »von außen« unhinterfragbar präsentiert. Die einmal kritisch gemeinte Reflexion auf Kontextgebundenheit des Wissens schlägt so in Kritikunfähigkeit gegenüber Herrschaftsverhältnissen um, die als kulturelle Praktiken daherkommen. Nach kulturrelativistischer Vorstellung kommt Herrschaft immer nur »von außen«, meist: »dem Westen«, und ist die Behauptung dagegen »Widerstand«, den es irgendwie zu unterstützen gelte – wobei übersehen oder geflissentlich in Kauf genommen wird, dass dieser »Widerstand« frauenverachtend, antisemitisch etc. sein kann. Zudem wird unterschlagen, dass Kulturen nicht statisch sind. Als Praktiken unterliegen sie vielmehr sozi­alen Dynamiken und sind gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausgesetzt.
Die zweite Position findet sich im antideutschen Spektrum. Hier wird die »westliche Zivilisation« gegen den Islamismus, zunehmend auch: gegen den Islam, hochgehalten. Und es wird, wie anlässlich des Irak-Kriegs, der bewaffnete Import »bürgerlicher Verkehrsformen« in außereuropäische Kontexte befürwortet. Zweifellos ist eine Bekämpfung des Islamismus geboten und eine rati­onale Kritik am Islam als religiös-ideologischem System bzw. an verschiedenen islamisch begründeten Alltagspraktiken dringend nötig. Aber schon die naiv-unmaterialistische Basis, von der aus solche Positionen in den meisten Fällen formuliert werden, macht sie für eine antiherrschaft­liche Gesellschaftskritik unbrauchbar.

Demgegenüber soll hier für eine dritte Position plädiert werden: gegen Rassismus (auch in seiner kulturalistischen Spielart) und für die Verteidigung des universalistischen politischen Anspruchs auf Emanzipation, der von einer grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen ausgeht. Dabei muss genauer bestimmt werden, was unter Universalismus zu verstehen ist. Es geht um zweierlei: einerseits um einen Anspruch, der aus einer politischen Perspektive formuliert wird und damit »situiert« ist; andererseits um ein antiherrschaftliches Projekt, dass sich von uniformierend-verallgemeinernden Universalismen, die herrschaftlich, »von oben« durchgesetzt wurden und werden, unterscheidet. Kurzum: Der Bewertungsmaßstab für Universalismus sollte seine herrschaftssubvertierende oder -stabilisierende Wirkung sein.
Herrschaftsverhältnisse existieren global, sind jedoch regional ganz unterschiedlich miteinander angeordnet und schaffen weltweit ganz verschiedene Subjektpositionen. Dies hat zur Folge, dass nicht nur Handlungsmöglichkeiten variieren, sondern auch Emanzipation verschiedene Formen annimmt bzw. der Kampf für sie in Auseinandersetzung mit kontextspezifischen Gegebenheiten geführt werden muss. Schon allein deshalb ist Skepsis angebracht, wenn sich in Berlin oder Leipzig ein paar Jungs zusammensetzen, ihre Vorstellung von Emanzipation für »universal« erklären oder sie gar als »bürgerliches Glücksversprechen« jeder Begründungsanforderung ent­ziehen. Der hier vorgeschlagene situierte Universalismus ist hingegen kommunikativ. Er versucht, sich über kulturalisierte Grenzen hinweg über Erfahrungen zu verständigen und sich mit antiherrschaftlichen Kräften zu verbünden.
In einem ähnlichen Sinne hat Nora Sternfeld (Jungle World 48/2010) mit einem »strategisch« genannten Universalismus die Frage nach der (Un-)Möglichkeit von Solidarität, gemeinsamen Kämpfen und Allianzen aufgebracht. Situierung lässt sich als theoretische Vorarbeit für solch eine strategische Perspektive begreifen. Doch zunächst lohnt es sich, den Moment genauer anzusehen, in dem der Universalismus problematisch wird: bei der Erfahrung von Differenz. Diese ist ideologisch auf zwei Weisen gemanaged und rationalisiert worden: eurozentrisch und rassistisch.

Der Eurozentrismus, grundsätzlich entstanden im Kontext der Eroberung Amerikas ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert, findet eine Bewegungsform für den Widerspruch zwischen christlichen Gleichheitsvorstellungen und den frappierenden globalen Unterschieden in der Organisation des sozialen Lebens. Die Kolonisierten gelten zwar als Menschen, aber als welche, die bekehrt werden müssen, wofür die Voraussetzungen »sittlichen Lebens« in der sozialen Organisation (Privateigentum, Familie, Staat etc.) zu schaffen sind. So wird auf verschiedene »Grade der Zivilisiertheit« geschlossen, in denen die westlichen Gesellschaften ganz oben und die von den Kolonialunternehmen verwüsteten Weltregionen ganz unten stehen. Die Idee, Europa solle seine Zivilisation in die Welt hinaustragen, entsteht vor diesem Hintergrund. Man muss sich klar machen: Wir reden hier nicht über ideologische Nebenschauplätze. Historisch befanden sich durch den Kolonialismus über 80 Prozent der Welt unter europäischer Vorherrschaft.
Die zweite Art, Differenzen zu managen, ist der Rassismus. Er entsteht in seiner modernen Form im 19. Jahrhundert als anti-universalistische Ideologie. Mit Rückgriff auf Begriffe moderner Wissenschaften wird die soziale Ungleichheit der Menschen, etwa ihre jeweilige Position im Sklavereiverhältnis, auf eine »Rasse« zurückgeführt, die über körperliche und geistige Unterschiede entscheiden soll.
Die Verschiebung vom herrschaftlichen Universalismus des Eurozentrismus hin zum Rassismus hängt mit einer ersten Etappe des »Exports westlicher Zivilisation« in außereuropäische Gegenden zusammen, genauer: mit der kreativen Aneignung bürgerlich-europäischer Gleichheitsideale durch soziale Bewegungen in nicht-westlichen Gesellschaften. Das beste Beispiel sind die in Folge von 1789 revoltierenden Versklavten auf Haiti, die nicht zufällig als »schwarze Jakobiner« (C.L.R. James) beschrieben wurden.

In diesem Transfer erweist sich die Ambivalenz des westlichen Universalismus. Der Rassismus antwortet darauf, indem er auf Basis der Gleichheit Ungleichheit zu denken ermöglicht: Die Sklaverei ist abgeschafft, aber Schwarz-Sein legitimiert das Fortbestehen von Ungleichheit. Der Rassismus ermöglicht, das bürgerliche Gleichheitsideal und die real existierende Ungleichheit nicht als Widerspruch wahrzunehmen.
Man könnte also zuspitzen. Die historische Alternative des 19. Jahrhunderts lautet: Zivilisationsmission versus Kampf der Kulturen, herrschaftlicher Universalismus versus rassistischer Anti-Universalismus. Jetzt dürfte klar sein: Die linke Debatte des 21. Jahrhunderts bewegt sich grundsätzlich in keiner anderen Bahn, auch wenn der Rassismus kulturalistisch daherkommt, als Kulturrelativismus.
Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie eine antirassistische Position vertreten werden kann, die nicht in herrschaftlich-eurozentrischen Universalismus abgleitet. Das grundsätzliche Problem scheint dabei zu sein, dass alle Seiten Emanzipation als etwas spezifisch Westliches auffassen: »Aufklärung« wird zum Kernstück eines ethnokulturell definierten Europas.
Die »Emanzipation von der Emanzipation«, also die Verabschiedung europäisch-westlicher Kultur, ist keine Lösung – sie ist vielmehr reaktionär. Die herrschaftskritische Aufgabe besteht vielmehr in dem, was Dipesh Chakrabarty die »Provinzialisierung Europas« genannt hat. Bestimmte emanzipatorische Vorstellungen sind zwar vor allem in Europa formuliert worden, wurden aber in außereuropäischen Gegenden der Welt angeeignet und weiterentwickelt. Zudem stand Europa nie für sich isoliert: Schon die antiken Griechen hatten viel von den Ägyptern gelernt. Zudem ist die Aufklärung, im Sinne einer wissenschaftlichen Erschließung der Welt, auch gebunden an die »Entdeckung« der Welt durch die expandierenden Europäer.
Europas Entwicklung schöpft aus vielen verschiedenen Quellen, viele »europäische« Ideen sind nur als Ergebnis zahlreicher Kontakte und Verbindungen zustande gekommen. Das heißt aber auch, dass Europa diese Ideen nicht gepachtet hat. Und genau hier kommt die kommunikative Perspektive ins Spiel, von dem oben ­bereits die Rede war: Sie ist die Alternative zum Eurozentrismus. Emanzipation muss als univer­salistisches Konzept, losgelöst von seiner Formulierung in Europa, neu bestimmt werden.

Genau das umschreibt »situierter Universalismus«. Er meint eine politische Positionierung, die ihren sozialen und diskursiven Kontext berücksichtigt. Kontextgebundenheit bedeutet dabei keinesfalls reinen Meinungspluralismus. Vielmehr sollte an einer unterschiedlichen politischen Wertigkeit und Realitätsangemessenheit von möglichen Aussagen festgehalten werden, über die sich Leute argumentativ-kommunikativ verständigen können und müssen – und damit gerade über den Erfahrungshorizont ihrer jeweiligen sozialen Position hinausgehen.
Grundlage einer solchen Position ist keine essentielle Gruppenzugehörigkeit, sondern der Kampf für die Emanzipation aller Menschen. Diese sind als gesellschaftliche Wesen aufeinander verwiesen. Diese Verwiesenheit hat sich in den vergangenen 500 Jahren zur globalen Interdependenz entwickelt. Schon allein deswegen ist Emanzipation nur im globalen Maßstab möglich.
Gleichheit heißt in diesem Zusammenhang, sich reflektiert-universalistisch gegen sämtliche Formen von Herrschaft zu positionieren, statt sich auf Versprechungen von vorgestellten Solidargemeinschaften wie Nation, Volk, Umma einzulassen oder sich auf »Rasse« und »Kultur« zu beziehen. Statt also herrschaftlich produzierte Dif­ferenz abzufeiern oder Zivilisationsmissionen zu starten, geht es um solidarische Kooperation, Diskussion, Verständigung – nicht mit anderen »Kulturen«, sondern aufgeschlossenen Menschen und Gruppen.

Zentrale Gedanken dieses Textes entstammen dem bisher unveröffentlichten Papier »Situierter Universalismus« ­einer Berliner Diskussionsgruppe.