Warum Pessismismus nicht negativ genug ist

Alles scheiße außer ich

Pessimismus ist Affirmation. Seine Fürsprecher sind in ihrer bornierten Selbst­gewissheit von ordinären Optimisten nie zu unterscheiden gewesen. Eine kleine Phänomenologie der Schwarzseherei.

Wird alles besser oder wird alles schlechter? Ist die Menschheit noch zu retten oder geht sie an sich selbst zugrunde? Müssen wir auf die »revolutionäre Situation« noch bis zum Sanktnimmerleinstag warten, oder ist sie längst schon da? Wer ernsthaft auf solche Fragen antwortet, setzt sich dem Verdacht aus, auch über den Börsenkurs, den Klimawandel und das Wetter von morgen seine unverrückbare Meinung zu haben, und disqualifiziert sich damit von vornherein für jede weitere Diskussion. Er pocht, ob er sich nun zuversichtlich oder düster über seine Zukunftserwartungen äußert, immer schon auf die Unangreifbarkeit des eigenen Selbst, das seinerseits in nichts anderem besteht als in einem Konglomerat von Weltanschauungsresten und Ad-hoc-Urteilen, die sich bei passender Gelegenheit zücken lassen wie Asse beim Kartenspiel. Der einzig angemessene Ort für den Streit zwischen Optimisten und Pessimisten ist der Stammtisch, ihre adäquate Kommunikationsform der Feierabend­tratsch. Ob die Welt dabei in Rosa gemalt wird oder in Schwarz, ist völlig egal, solange man sich die gegenteilige Meinung des anderen als letztgültige Bestätigung der eigenen tumben Selbstgewissheit gutschreiben kann. Pessimisten und Optimisten können miteinander über alles reden, ohne jemals an der Triftigkeit ihrer unermüdlichen Besserwisserei zu zweifeln. Gesellt sich dann noch ein Vertreter des Mittelwegdenkens zu ihnen, der jeder Partei zustimmt und lediglich ihre Einseitigkeit rügt, fühlen sich alle bestätigt und können, einig im Streit, zufrieden nach Hause gehen.
Das Gezänk zwischen Optimisten und Pessimisten ist für beide wohltuend, weil sie sich in einem einig sind: in ihrem Hass auf die Negativität. Pessimismus hat nämlich entgegen einer verbreiteten Ansicht nichts mit Negativität zu tun. Negativität zielt auf Nicht-Identität: Den Anspruch auf Glück begreift sie als wahr, aber ohnmächtig, das herrschende Unglück als wirklich, aber nicht als notwendig. Der Pessimismus dagegen exorziert das Glück als trügerischen Spuk und affirmiert das Unglück als notwendige Wirklichkeit. Negatives Denken will nicht Recht behalten, sondern Verhältnisse herstellen, die es widerlegen. Der Pessimist aber möchte sich ins Recht setzen, indem er die Welt in ihrer Schlechtigkeit bejaht: Darin ist er Positivist. Deshalb treten Pessimismus und Optimismus, sobald das negative Denken im Kurs fällt, ihren Siegeszug an. Der Streit, der dann zwischen beiden entbrennt, besiegelt lediglich ihr Einverständnis. Wenn Wirklichkeit und Wahn, Irrationalität und Vernunft, Brutalität und gute Laune konvergieren und die Fähigkeit zur Erfahrung von Negativität ebenso verkümmert wie die zur Erfahrung von Glück, werden Pessimismus und Optimismus schließlich tendenziell identisch: Wer sich nichts erhofft und jeden Nebenmenschen als Charakterschwein beargwöhnt, kann als lebenstauglicher Realist ebenso zuversichtlich in die Zukunft blicken, wie umgekehrt jeder pausbäckige Optimist, um einer zu bleiben, die Menschen als Unmenschen behandeln muss. Wie routiniert gerade schlichte Gemüter diese Übung beherrschen, lässt sich täglich im Treppenflur, in der Bahn oder beim Familientreffen studieren, wenn im Gespräch auf den Satz »Es wird alles immer schlimmer« der Trost »Es wird schon werden« ebenso bruchlos folgt wie das Lob des erfolgreich sein Leben meisternden Nachwuchses auf das Lamento über die Verwahrlosung der Jugend. In jedem Fall, da ist sich die Bagage einig, ist das Leben etwas, das wir weder verschmähen noch verschwenden dürfen, sondern etwas, wo wir durchmüssen.

In der Zurückweisung dieses »Da müssen wir durch«, der grausamen Kompromissformel von Pessimismus und Optimismus, die beiden Geisteshaltungen von vornherein innewohnt, besteht die Dignität jenes zu Unrecht als »pessimistisch« verunglimpften Denkens, das in Wahrheit ein Denken der Negativität ist. Es »pessimistisch« zu nennen, ist bereits Teil seiner Neutralisierung. Denken kann per definitionem weder optimistisch noch pessimistisch sein, sondern kommt im Pessimismus wie im Optimismus an sein Ende. Movens allen Denkens sind Leiden und Hoffnung: Wie Leiden auf die Notwendigkeit seiner Aufhebung verweist, so die Hoffnung auf die Vorherrschaft des Leidens. Denken selbst ist im Grunde nichts anderes als die Entfaltung dieses Widerspruchs. Optimismus und Pessimismus dagegen kennen keinen Widerspruch, sondern leben von dessen Leugnung: Hoffnung und Leiden gerinnen in ihnen zu leeren Überzeugungen, die sich vorzeigen lassen wie ein Personalausweis. Nichts aber verachteten die sogenannten pessimistischen Philosophen mehr als Überzeugungen. Der Grundimpuls, der über die Unterschiedlichkeit historischer Konstellationen hinweg ihr Denken geprägt hat, ist die Erfahrung des Niedergangs der Urteilskraft. Dass nicht nur alle individuellen Urteile, einmal vorgebracht, von ihrer spezifischen Genese gelöst werden und zu beliebigen Meinungen verkümmern können, sondern jedes Urteil im Angesicht der falschen Totalität in Verdacht steht, nichts als bornierte Überzeugung zu sein, mit der das Subjekt sich einredet, über den Dingen zu stehen, die es beherrschen, ist die Grunderfahrung negativen Denkens.
Seine Konjunkturen erlebte es in geschichtlichen Augenblicken, in denen das Freiheitsversprechen einer jungen bürgerlichen Öffentlichkeit lebendig genug war, um die Beschränktheit der ihm angeblich entsprechenden Wirklichkeit vor Augen treten zu lassen. So polemisierten die sich auf Sokrates berufenden Kyniker gegen die sich hinter scholastischen Normen verschanzenden Charaktermasken der frühbürgerlichen Polis, um sie in der Erschütterung ihrer angemaßten Selbstgewissheit wahrhaft zu sich kommen zu lassen und einzulösen, was sie in der Realität verraten hatten: Das ist der polemische Wahrheitsgehalt der sokratischen Mäeutik. So wandten sich die französischen Moralisten des 18. Jahrhunderts gegen eine Aufklärung, deren zur Nomenklatur geronnenes Regelwerk mit der Wahrheit, die sich in ihm ausdrücken sollte, nichts mehr zu tun hatte, zugunsten einer Subjektivität, welche von den Bürgern preisgegeben worden war. So auch wandten sich die keineswegs als »romantisch«, sondern als »bodenlos« geltenden Frühromantiker gegen die Prätention von Größe, Schöpfertum und Welthaltigkeit, in deren Namen die deutsche Klassik jede Äußerung ungebundenen Denkens mit Vernichtung der bürgerlichen Existenz des Denkenden bestrafte. So schließlich wandte sich der moderne »Pessimismus«, ausgehend von Schopenhauer und in Anschluss an Kants Erkenntniskritik, gegen die von Kant selber beförderte Scheingewissheit des urteilenden Subjekts, das in der abstrakten Fähigkeit zum Urteil bereits sich selbst glaubte gewonnen zu haben. Ihr antihegelianischer »Geschichtspessimismus«, der später zum Kampfbegriff sozialistischer Dekadenztheoretiker gegen jeden ungedeckten Gedanken werden sollte, ist nur eine Folge dieser Skepsis gegenüber der hybriden Selbstgewissheit des Subjekts.

In Zeiten, in denen die letzten Reste bürgerlicher Öffentlichkeit entweder verschwunden sind oder nur als störender Anachronismus wahrgenommen werden und der Widerspruch, auf dem die Skepsis beharrte, nicht mehr kollektiv bewusst gemacht werden kann, wird auch die Differenz zwischen Negativität und Pessimismus kassiert. Deshalb existieren heutzutage keine Schopenhauerianer mehr, sondern allenfalls deren am unerträglichen Weltzustand herumnörgelnde Karikaturen, wie sie in den Romanen und Theaterstücken Thomas Bernhards am prägnantesten dargestellt wurden. Deshalb auch unterscheidet das gegenwärtige Alltagsbewusstsein über alle politischen Fronten hinweg nicht mehr zwischen Aufklärern, Skeptikern, Kritikern und Ideologen, sondern nur noch zwischen Mitmachern und Miesmachern.
Wem irgendetwas, aus wie guten Gründen auch immer, nicht passt, der gilt als schwieriger Charakter; wem aus noch besseren Gründen das Allermeiste nicht passt, der gilt als Defätist. Wer die leere Betriebsamkeit seiner fröhlich verblödeten Mitmenschen mit dem Hinweis auf die Sinnlosigkeit ihrer Aktivität für nichtig erklärt, heißt »Kulturpessimist«, wem dabei womöglich noch anzumerken ist, dass ihm die wie auch immer vage Vorstellung von Versöhnung nicht ganz hat ausgetrieben werden können, dem wird »Bürgerlichkeit« vorgeworfen. Der historische Sinn der Begriffe hat sich derart verkehrt, dass es fast hoffnungslos anmutet, an ihre Genese zu erinnern: Wem das Leben, wie es ist, nicht als letztgültig, sondern als unbefriedigend erscheint, dem wird Konservatismus unterstellt; wer die Welt in ihrer Schlechtigkeit und die Menschen in ihrer Banalität nimmt, wie sie sind, heißt progressiv. Kritik hat nicht mehr nur in leninistischen Kaderparteien, sondern in jeder politischen Bastelgruppe von Attac bis zum antinationalen Jugendverein »konstruktiv« zu sein, wie umgekehrt jede hektische Produktivität als »kritisch« gilt. Aus jedem ungebundenen Impuls wird ein Beruf gemacht: Idiosynkratische Menschen werden in linken Wochen- und bürgerlichen Tageszeitungen gleichermaßen bereitwillig als »Polemiker« geparkt, während jene, die über das Talent verfügen, alle abzuholen, wo sie stehen, den Rest besorgen müssen. Und wenn immer mal wieder von der »kapitalistischen Gesamtscheiße« die Rede ist, in der wir alle steckten, kann man sicher sein: Hier spricht kein Kritiker, sondern ein Konformist.
In der Scheiße zu stecken, das können Optimisten wie Pessimisten bestätigen, macht nämlich nicht widerständig und klug, sondern bräsig und dumm: Man wird warm gehalten, und an den Gestank gewöhnt man sich bald. Der Registerwechsel vom kritischen Begriff zur vulgären Phrase dient nicht der Agitation, sondern indiziert das Einverständnis mit dem, wogegen man in pubertärem Gestus aufmuckt. Die Rede von der »Gesamtscheiße« benennt nicht den Verblendungszusammenhang, sondern ist selbst dessen Symptom. Sind es nun Geschichtspessimisten oder Geschichtsoptimisten, die so reden? Beides in Personalunion: Alles scheiße zu finden, heißt immer auch, sich für besser zu halten als die Scheiße, in der man steckt, und folglich für berufen, mächtig darin herumzuquirlen, damit es weiter mollig bleibt. Der Lümmel von der letzten Bank, der nach seinem Schulabschluss als Erster mit allen Lehrern, die er gestern noch foppte, auf Du und Du ist und bequemer im bürgerlichen Leben ankommt als der Außenseiter, den alle immer nur dröge und hässlich fanden, weiß das aus eigener Erfahrung. Und da wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen, wiederholt sich die Schule jeden Tag. Negativem Denken bleibt demgegenüber nur eine Möglichkeit: die Menschen, ohne Hochmut und allein um ihrer selbst willen, daran zu erinnern, dass sie von der Scheiße, in der sie stecken, manchmal nur schwer zu unterscheiden sind.