Vielleicht doch Mord. Die Revision des Falles Oury Jalloh

Mord ist wieder möglich

In Kürze soll das Verfahren im Fall Oury Jalloh wieder aufgenommen werden. Der Mann aus Sierra Leone verbrannte im Jahr 2005 in einer Polizeizelle in Dessau, die diensthabenden Polizisten wurden 2008 freigesprochen.

»Für uns alle war der Urteilsspruch des Bundesgerichtshofs eine große Erleichterung«, sagt Mouctar Bah. Er ist der Begründer der »Initiative Oury Jalloh« und war ein Freund des Mannes aus Sierra Leone, der im Januar 2005 auf einer Matratze in einer Ausnüchterungszelle in Dessau verbrannte – mit fixierten Händen und Füßen. Im Dezember 2008 hatte das Landgericht Dessau die Polizeibeamten Andreas S. und Hans Ulrich M. vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge und der fahrlässigen Tötung freigesprochen (Jungle World 49/08). An Oury Jallohs fünftem Todestag, dem 7. Januar 2010, verwarf der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe diesen Freispruch aufgrund von »wesentlichen Lücken in der Beweiswürdigung« und ordnete eine Wiederaufnahme des Verfahrens an (Jungle World 2/10). Voraussichtlich ab dem kommenden Mittwoch soll der Fall Oury Jalloh vor dem Magdeburger Landgericht nun erneut verhandelt werden.

Die Mitglieder der »Initiative Oury Jalloh« hatten sich im Laufe des ersten Verfahrens, an dem sie als Prozessbeobachter teilgenommen hatten, unter Protest aus dem Gerichtssaal zurückgezogen. Eine Anklage wegen Mordes war von Anfang an nicht in Betracht gezogen worden, das Gericht war von vorneherein von einer Selbsttötungsabsicht Jallohs ausgegangen. Eklatante Widersprüche und offensichtliche Schutzbehauptungen der vernommenen Polizisten waren vom Richter zwar kritisiert, aber letztlich dennoch hingenommen worden, entscheidende Fragen zum Tathergang blieben unbeantwortet. Gerade wegen der Verschleierungstaktik der Dessauer Polizei und der unzähligen Ungereimtheiten in der offiziellen Version der Geschichte bleibt die Initiative weiterhin bei ihrer Parole: »Oury Jalloh – das war Mord!«
Die Frage, ob die Möglichkeit eines Mordes nicht zumindest in Betracht gezogen werden sollte, hatte im Laufe der gerichtlichen Auseinandersetzung auch zu unüberbrückbaren Differenzen zwischen Anwälten der Nebenklage und Aktivisten geführt. Dass der BGH einige der wesentlichen Kritikpunkte am Dessauer Prozess bestätigt hat und seine Richterin Ingeborg Tepperwien laut ARD-Rechtsexperte Karl-Dieter Möller einen Mord explizit nicht ausschließen wollte, ist ein wichtiger Erfolg für Bah und seine Mitstreiter, deren Position häufig als ideologisiert und emotional abgetan worden war. Die damaligen Anwälte der Nebenklage, die als Vertreter der Familie Jalloh antraten, hatten zwar den Ausgang des Dessauer Verfahrens bedauert, waren aber dennoch der Meinung, dass das Gericht ordnungsgemäß vor­gegangen und ihm kein Vorwurf zu machen sei. Einen Mord hielten sie immer für abwegig. Nur auf Drängen der Initiative reichten sie den Antrag auf Revision beim BGH ein und wurden dort von Richterin Tepperwien für ihr Vorgehen kritisiert: »Wenn man an der falschen Stelle sucht, dann kann man das Richtige auch nicht finden«, sagte sie in Anspielung auf die einseitige Fixierung auf die Frage, ob der Dienstgruppenleiter Andreas S. die unterstellte Selbstverbrennung Jallohs durch ein schnelleres Handeln hätte verhindern können.
»Dass die Vertreter der Nebenklage hinter der Position des BGH zurückbleiben und von diesem belehrt werden müssen, ist beispielhaft für die Haltung vieler linksliberaler Deutscher: Sie finden einen Mord in Polizeigewahrsam einfach so ungeheuerlich, dass sie meinen, ihn ausschließen zu können«, sagt Yonas Endrias, der den Prozess von Anfang an beobachtet hat. Für sein Amt als Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte werde er nicht mehr kandidieren, da Rolf Gössner, ebenfalls Vizepräsident der Liga, entgegen einem Vorstandsbeschluss seiner Organisation die Tötung Oury Jallohs durch Dritte mehrfach öffentlich ausgeschlossen habe.
Richterin Tepperwien hat in der Begründung ihrer Entscheidung deutlich gemacht, dass sie die dem Freispruch zugrunde liegende Rekonstruktion des Geschehens wenig überzeugend findet. Jalloh war nach Ansicht des Landgerichts Dessau trotz seiner Fesselung in der Lage, eine schwer entflammbare Matratze mit einem Feuerzeug in Brand zu setzen, das er nach einer angeblich gründlichen Untersuchung immer noch bei sich trug. Fraglich erscheint dem BGH auch, warum der Feuermelder erst nach Entstehung eines offenen Brandes und nicht schon viel früher angeschlagen haben soll, was die in Dessau veranschlagte Zeitspanne von lediglich zwei Minuten, die zur Rettung von Jalloh zur Verfügung gestanden haben sollen, entscheidend vergrößern würde. Ebensowenig konnte die Richterin nachvollziehen, wie das Dessauer Gericht zu dem Schluss gekommen war, dass Andreas S. sich »pflichtgemäß« verhalten habe, obwohl er den Feueralarm mehrmals ausgestellt und sich erst nach eindringlicher Aufforderung einer Kollegin auf den Weg in die Zelle gemacht hatte.

Zwar war das Urteil des BGH eine Genugtuung für die Mitglieder der Initiative, doch die Erwartungen an das neue Verfahren sind eher gedämpft. Bah zeigt sich zurückhaltend: »Nach dem, was wir in Dessau erleben mussten, sind wir schon froh, wenn sich nicht dieselbe Farce wiederholt. Wir glauben zwar, dass die Wahrheit ans Licht kommen kann, wenn nur richtig verhandelt wird. Allerdings werden die meisten Zeugen dieselben sein. Und wir wollen verhindern, dass wir durch zu großen Optimismus eine weitere große Enttäuschung erleben.« Zumindest mit der Arbeit der neuen Anwälte der Nebenklage ist die Initiative bisher aber sehr zufrieden.
Bah rechnet damit, dass viele Unterstützer seines Anliegens den Prozess in Magdeburg im Gerichtssaal verfolgen wollen. In der Vergangenheit hat die Polizei allerdings einiges unternommen, um die Arbeit der Initiative und ihrer Sympathisanten zu behindern. Als Bahs Geschäft, das er in Dessau betreibt, im Dezember 2009 als Treffpunkt für die Abfahrt eines Busses zum Prozess nach Karlsruhe diente, rückte die Polizei zu einer Razzia an. Die Anwesenden mussten sich ausziehen und auf den Boden legen.

Um Personen vom Besuch der Prozesse abzuschrecken, hat die Polizei auch wiederholt die Residenzpflicht rigoros ausgelegt. So machten Beamte zum Beispiel während der Verhandlung in Dessau Fotokopien der Ausweispapiere von anwesenden Flüchtlingen. Etliche erhielten dann wenig später Anzeigen wegen Verstoßes gegen die Residenzpflicht, was auch zu mehreren Abschiebungen führte.
Bah ist empört über diese Einschüchterungsversuche: »In den Medien ist viel die Rede von den unhaltbaren Zuständen, unter denen Oppositionelle in China oder anderswo zu leiden haben. Aber was wir als afrikanische Flüchtlinge, die es wagen, sich politisch zu organisieren, in Deutschland an täglichen Schikanen zu erdulden haben, ist nicht weit davon entfernt.« Er selbst war nicht nur anlässlich der Fahrt nach Karlsruhe von den Repressalien betroffen. Wenige Tage nachdem ihm die Internationale Liga für Menschenrechte im Jahr 2009 die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen hatte, gab es in seinem Laden eine Razzia. Bah wurde der Hehlerei mit gestohlenem Gin verdächtigt – ein völlig haltloser Vorwurf, der auch nicht weiter verfolgt wurde. Bah ist ungeachtet dieser Erfahrungen zuversichtlich, was eine rege Teilnahme am Prozess in Magdeburg angeht. Die Kampagne laufe gut, sagt er. Dass das Vertrauen in das neue Verfahren jedoch trotz der kritischen Anmerkungen des BGH und der öffentlichen Aufmerksamkeit sehr begrenzt ist, zeigt die Forderung, den Fall unabhängig vom Ausgang der Revision von einer internationalen Kommission untersuchen zu lassen.