Über abstürzende Dohlen und Rotschulterstärlinge

Blackbird down

Dass der Tod der Dohlen im schwedischen Falköping mit dem Absturz der Rotschulterstärlinge in Beebe, Arkansas, in Zusammenhang gebracht wird, ist ein Ausdruck der modernen »Vulgarisierung des Wissens«.

Das mit Abstand interessanteste Merkmal der Nachrichten über die um Silvester in den USA und Schweden tot vom Himmel gefallenen Vögel war die Wiederentdeckung einer weitgehend vergessenen Wahrheit des klassischen Empirismus von David Hume. Glauben ist demnach kein Privileg der religiösen Sphäre, es gehört in einem gewissen Sinn zu jeder Form der Tatsachenerkenntnis. Und zwar in dem Sinn, dass es immer nahe liegt, von Dingen, die gegeben sind, auf solche zu schließen, die nicht gegeben sind.
Das konnte man exemplarisch an den Meldungen und Kommentaren zu dem Ereignis verfolgen, mit dem die Kette der toten Vögel begann. In der Silvesternacht waren in der Kleinstadt Beebe im Bundesstaat Arkansas an die 5 000 Rotschulterstärlinge vom Himmel gefallen. Die Vögel lagen dabei an manchen Stellen so dicht auf der Straße, dass es Autofahrern unmöglich war, die Kadaver zu umfahren. Das sah bestimmt nicht schön aus, zumal die Vögel sowieso schon schwere Verletzungen aufwiesen, auch ohne dass sie überfahren worden wären.

Soweit reichen die unbestrittenen Tatsachen. Darauf folgte dann aber sofort das Glauben im Hume’schen Sinn. Manche Einwohner von Beebe hätten nach dem Vogelregen sofort ihre Silvsterparties abgebrochen, weil sie meinten, dem Beginn der Apokalypse beizuwohnen, war zu lesen. Das wäre dann die klassische Form des Glaubens. Sehr wahrscheinlich religiös motiviert, genügen dem Glauben an die Apokalypse Scharen vom Himmel fallender Vögel, um sich bestätigt zu sehen. Eine richtige Apokalypse kennt ja keine Unterschiede mehr zwischen Tier und Mensch.
Darauf folgte aber gleich eine andere, heute wahrscheinlich weltweit wesentlich häufiger anzutreffende Form des Glaubens, nämlich der naturwissenschaftlich inspirierte Kurzschluss. Die Ornithologin Karen Rowe von der Wild- und Fischbehörde des Staates Arkansas machte nämlich die Silvesterballerei für den Tod der Stärlinge verantwortlich. Wahrscheinlich, so vermutete Rowe, seien die Vögel von der Knallerei aufgeschreckt worden und dann, weil sie nachts schlecht sehen, mit Häusern, Bäumen oder sonstigen Dingen zusammengestoßen. Womöglich seien sie in ihrer Orientierungslosigkeit sogar mit ihren eigenen Schwarmgenossen zusammengeprallt und hätten sich dabei verletzt.

In der Verkettung von Ursache (Feuerwerk) und Wirkung bieten Rowes Äußerungen eine ganze Reihe von Interventionspunkten. Zum einen sind Rotschulterstärlinge auch Schwarmvögel, die insbesondere zu Zugzeiten und im Winter in teilweise riesigen Schwärmen auftreten. Daraus folgt, dass die Vögel im Schwarm fliegen können und wissen, dass sie nebeneinander und nicht gegeneinander fliegen sollten. Und das tun sie gerade auch, wenn sie erschreckt werden. Sollten doch mal zwei Vögel zusammenprallen, weil einer tatsächlich gerade einen Blackout hatte, werden sich die wendigen Flieger dabei aber kaum so verletzen, dass sie schwere äußere Wunden davon tragen. Auch dass sie nachts schlecht sehen, ist in diesem Fall kein Argument für die Orientierungs­lsosigkeit der Vögel. Schwarmvögel haben häufig ein sehr gutes Gespür für Luftbewegungen entwickelt, die ihnen auch verraten, wo ein anderer Vogel gerade fliegt und was er demnächst tun könnte. Außerdem ist die Tatsache, dass viele Vögel nachts schlechter sehen als am Tag, kein Hinderungsgrund für Bewegungen der Tiere in der Nacht. Viele tagaktive, vor allem kleinere Zugvögel sind ausgesprochene Nachtzieher. Nachtzieher bedeutet, dass sie ihre Wanderungsbewegungen vor allem in der Nacht vollziehen und auf ihren Zugrouten tagsüber rasten oder auf Nahrungssuche gehen. In unseren Breiten sind das zum Beispiel Rotdrosseln. Die amerikanischen Rotschulterstärlinge sind darüberhinaus an menschliche Siedlungsräume gewöhnt und haben genug Erfahrungen mit Häusern, Autos und selbst Stromleitungen gemacht, um zu der Annahme zu berechtigen, dass sie auch im Dunkeln bei Erregung wissen, dass diese Dinge gefährlich sind.
Ein anderer Aspekt der Feuerwerkshypothese ist natürlich der, dass mit Sicherheit nicht nur in Beebe, Arkansas, zu Silvester Raketen gezündet wurden und an diesen anderen Orten bis auf wenige Ausnahmen keien Vögel tot vom Himmel fielen. Allerdings – und da wird die ganze Berichterstattung um das Vogelsterben zu einem positiven Ereignis – kann man auch nicht sagen, dass die Stärlinge einen Einzelfall darstellten. Es ergab sich nämlich, dass am 4. Januar im schwedischen Falköping noch einmal an die 100 Dohlen verletzt oder tot vom Himmel fielen. Und in Falköping hatte es noch in der Nacht vom 4. Januar ein Feuerwerk gegeben. Das lässt zumindest zu, einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Dohlentod und der Knallerei herzustellen.
Unabhängig von der letztlichen Stichhaltigkeit des Knallereiarguments lässt sich in diesem Fall das tatsächlich Positive der Nachrichtenverarbeitung beschreiben. Die Geschwindigkeit und Detailgenauigkeit der Informationen über den Tod der Dohlen in der schwedischen Ortschaft Falköping und den 5 000 Rotschulterstärlingen in Beebe in Arkansas sind zuerst einmal Ausdruck der gewachsenen Informationsmengen über ornithologische Phänomene im Zeitalter des Internet. Wer einen Internetzugang hat, kann sich heute über die einschlägigen Vogelbeobachtungsforen oder Facebook täglich darüber informieren, welche Vögel sich auf ihrem Zug wann in welchem Teil Amerikas oder Australiens aufhalten oder sich nach New York verirrt haben.
Das hat ganz allgemein zu einem enormen Zuwachs an Daten über Vögel geführt, der zudem eben nicht nur von wissenschaftlichen Institutionen verwaltet und kommentiert werden. Beobachtungen und ihre Interpretationen sind damit buchstäblich in einen Freiraum vorgedrungen, wie auch die Hypothesenbildung den Raum von Universitäten und anderen wissenschaftlichen Institutionen verlassen hat. Wie fruchtbar das sein kann, kann man jetzt eben auch an den Meldungen zum plötzlichen Tod einiger Vögel in zwei auf den ersten Blick komplett verschiedenen Zusammenhängen sehen.

Es ist die schnellere Informationsverarbeitung, die es möglich macht, den Tod der schwedischen Dohlen wie der amerikanischen Stärlinge mit den lokalen Silvesterballereien in Verbindung zu bringen. Dass damit auch die wildesten Vermutungen ins Kraut schießen, gehört zu dieser »Vulgarisierung des Wissens«, wie der französische Philosoph Michel Serres die neue Wissensverarbeitung auch im Internet nennt. Bei Serres ist Vulgarisierung im Wissenszusammenhang ein positiver Begriff. Wie richtig er damit liegt, konnte man eben auch an den Meldungen zu den mysteriösen Vorfällen um die Vögel sehen. Es gab nämlich, anders als noch vor ein paar Jahren in den Hochzeiten der Vogelgrippepanik, sofort eine Entwarnung in dieser Richtung. Eine Epidemie oder Krankheit wurde als Ursache schnell ausgeschlossen. Selbst der Seltenheit des Vorfalls wurde das Odium der Einmaligkeit genommen. Gerade im Winter, hieß es, komme es schon mal vor, dass Vögel in großer Zahl in Folge der Witterungsbedingungen sterben. Das seien aber seltene Fälle, die für das Überleben der Populationen keine Bedrohung darstellten.
Als bis jetzt wahrscheinlichste Ursache kann tatsächlich der in vielen Berichten angegebene schwere Hagelschlag gelten. Denn es ist bei Krankheiten und Vergiftungen äußerst unwahrscheinlich, dass alle Vögel gleichzeitig tot vom Himmel fallen, wie in den USA und Schweden geschehen. Bei einem Hagelschlag würden sie aber alle gleichzeitig getroffen. Wobei »alle« in diesem Fall natürlich relativ ist.
Wenn man an der derzeitigen Berichterstattung etwas kritisieren kann, dann ist es die leichtfertige Verwendung des Begriffs »Massensterben«. Gerade die sehr häufigen Rotschulterstärlinge würden unter Massen wahrscheinlich etwas anderes verstehen als die Zahl 5 000. Zumal sie in ihrer Geschichte schon ganz andere Attacken auf ihre Existenz überlebt haben. Amerikanische Rotschulterstärlinge verbindet nämlich mit europäischen Rabenvögeln, zu denen die Dohlen zählen, die Tatsache, dass sie bei weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt sind. Amerikanische Farmer verfolgen die in Schwärmen lebenden Stärlinge bis heute immer wieder mit vergiftetem Reis, genauso wie Rabenvögeln von europäischen Jägern nachgestellt wird. Solche meist illegalen Attacken auf die vermeintlich schädlichen Vögel würden heute, davon zeugen die aktuellen Berichte, nicht mehr unbemerkt von der Öffentlichkeit geschehen können.