Über Kopten und Islamisten in Ägypten

Die Stunde der Heuchler

Auf den Anschlag vor einer Kirche in Alexandria folgten Beileidsbekundungen von Repräsentanten des ägyptischen Regimes und muslimischer Geistlicher. Doch die staatliche Politik der »Islamisierung« hat antikoptische Ressentiments gefördert.

Lange sollen ägyptische Oppositionelle auf ihren Prozess nicht warten müssen. Bei den Protesten gegen den Bombenanschlag vor einer Kirche in Alexandria wurden am Dienstag vergangener Woche in Shubra, einem Stadtteil von Kairo, acht Männer festgenommen. Das Urteil sollte bereits zwei Tage später gesprochen werden. Doch zur Überraschung der Anwälte wurde der Prozess vertagt, das Gericht ordnete die Freilassung der Angeklagten an.
Tausende Polizisten hatten die Demonstranten in Shubra eingekesselt. »Vor den Festnahmen prüfte die Polizei die Namen der Protestierenden, erlaubte den Kopten zu gehen und ließ jene, die sie für Muslime hielt, im Polizeikordon«, berichtet das El Nadeem Center for Rehabilitation of Victims of Violence. Die acht muslimischen Männer sollen der »Jugendbewegung des 6. April« angehören, einer Gruppe, die im Jahr 2008 zur Unterstützung der Streiks in Mahalla al-Kubra (Jungle World 16/08) gegründet wurde. Dass ausgerechnet ihnen neben der Störung der öffentlichen Ordnung und Angriffen auf Polizisten die Anstachelung konfessioneller Konflikte vorgeworfen wird, mutet besonders bizarr an.
Weniger Eifer zeigte die Staatsmacht beim Schutz der koptischen Minderheit. 23 Menschen wurden getötet, als am Silvesterabend eine Bombe vor der al-Qiddissin-Kirche in Alexandria explodierte. Obwohl es Drohungen von al-Qaida gegeben hatte und die Kirche sich auf einer von dem Terrornetzwerk verbreiteten Liste befand, waren nur vier Polizisten anwesend. Zur Bekämpfung der Protestdemonstrationen rückten dann wieder tausende Polizisten an. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass zwei Minister und einige hohe muslimische Geistliche mit Steinen beworfen wurden, als sie Shenouda III., dem Patriarchen der koptischen Kirche, einen Kondolenzbesuch abstatteten.
Nicht nur junge Kopten, die die konziliante Politik der Kirchenführung kritisieren, halten die Beileidsbekundungen, denen sich auch die islamistische Muslimbruderschaft angeschlossen hat, für verlogen. »Vieles davon wird reine Heuchelei sein«, hatte Hani Shukrallah am 1. Januar in der englischsprachigen Ausgabe von al-Ahram prophezeit. Er kritisierte die Regierung, die Behörden und die Politiker, die »gelegentlich gerne mit bigotten antikoptischen Ressentiments spielen« und die Muslimbruderschaft an Strenggläubigkeit zu übertreffen versuchten. »Doch vor allem beschuldige ich die Millionen angeblich moderater Muslime, die Jahr für Jahr vorurteilsbeladener und engstirniger geworden sind (…). Ich war dabei, ich habe euch reden gehört, in euren Büros, in euren Clubs, bei euren Dinnerpartys: ›Man muss den Kopten eine Lektion erteilen‹, ›die Kopten werden immer arroganter‹.«
Die Stellungnahmen der Repräsentanten der Regierung und der staatstragenden islamischen Geistlichkeit in Ägypten ähneln den Reaktionen auf rassistische Anschläge in Deutschland. Sofern möglich, wird ein politischer Hintergrund bestritten, wie vor einem Jahr bei dem Attentat auf Kopten in Nag Hammadi (Jungle World 2/10). Wenn, wie im Fall des Anschlags in Alexandria, politische Motive nicht geleugnet werden können, wird die Gewalt als das Werk isolierter Extremisten dargestellt, die mit der Mehrheitsgesellschaft nichts verbindet.
»Ausländische Hände« sah Präsident Hosni Mubarak in Alexandria am Werk. Von al-Qaida sprach er zwar nicht, doch andere »ausländische Hände« kommen kaum in Frage. Zuvor hatte die Regierung die Präsenz des Terrornetzwerks in Ägypten immer abgestritten, um die Touristen nicht zu verschrecken. Nun haben sich die Prioritäten offenbar geändert.
Den Ermittlungen der Behörden, bei denen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen bereits ein mutmaßlicher Islamist zu Tode gefoltert wurde, kann man wenig Vertrauen entgegenbringen. Doch für eine Beteiligung von al-Qaida sprechen nicht nur die zuvor bekannt gewordenen Drohungen. Die ersten terroristischen Anschläge auf Kopten waren zwei Überfälle der Tanzim al-Jihad (Jihad-Organisation) auf Juweliere in Nag Hammadi und Kairo im Sommer 1981, bei denen sieben Menschen erschossen wurden, obwohl dies für die Durchführung des Überfalls nicht erforderlich gewesen wäre. Aus der Jihad-Organisation stammt Ayman al-Zawahiri, der wichtigste Ideologe von al-Qaida.

Die meisten Angriffe auf Kopten fanden im Said statt, dem von Clanstrukturen geprägten Gebiet südlich von Kairo. Islamisten, in manchen Fällen aber auch lokale Repräsentanten der Regierungspartei NDP, politisierten banale Streitigkeiten und hetzten zu Gewalttaten gegen »die Christen« auf. Die Folgen waren manchmal ebenso schlimm wie die des Attentats in Alexandria, so wurden im Januar 2000 in al-Kosheh, 450 Kilometer südlich von Kairo, 21 Kopten und ein Muslim getötet.
Der Anschlag in Alexandria hingegen hatte jene symbolische Bedeutung, die al-Qaida anstrebt. Die Stadt, in der im 1. Jahrhundert eine der ersten christlichen Gemeinden entstand und Ende des 2. Jahrhunderts eine der ersten theologischen Schulen gegründet wurde, ist das historische Zentrum des ägyptischen Christentums. Mit einem Anschlag mehrere Ziele zu verfolgen, gehört ebenfalls zur Strategie von al-Qaida. Das Attentat destabilisiert Ägypten im Jahr der Präsidentschaftswahl, und es trägt zur Polarisierung unter den Muslimen bei.
Die Urheber könnten auch ägyptische Jihadisten ohne Verbindung zu al-Qaida sein, die ähnliche Interessen verfolgen. Zweifellos aber war es das Ziel der Täter, die weit verbreiteten Ressentiments gegen die Kopten zu nutzen und sich, den militanten europäischen Rechtsextremisten vergleichbar, als Vollstrecker des »Volkswillens« darzu­stellen.
Die koptische Kirche existierte bereits seit einem halben Jahrtausend, als christliche Missionare in Mitteleuropa begannen, gegen die heidnische Leitkultur zu predigen. Sie hat immer ihre Unabhängigkeit gewahrt, und aus der christlichen Minderheit sind viele bedeutende Theoretiker und Kämpfer der antikolonialen, später der panarabischen Bewegung hervorgegangen. Die koptischen Geistlichen sind ebenso borniert wie die muslimischen Kollegen und einer Kirche, die Scheidungen grundsätzlich verbietet, kann schwerlich unterstellt werden, sie fördere die »westliche Dekadenz«.

Das alles nützt den Kopten nichts. Es kursieren Verschwörungstheorien, die der Kirche die Beteiligung am »Kreuzzug des Westens« und Zwangsbekehrungen muslimischer Frauen vorwerfen. Wie verbreitet sie sind, lässt sich schwer feststellen, doch zweifellos hat die von Präsident Anwar al-Sadat begonnene und von Mubarak fortgeführte Politik der »Islamisierung« die Ressentiments gegen die Kopten gefördert. Es gibt eine Reihe diskriminierender Regeln, offizielle wie den Vorrang des Islam als Staatsreligion und inoffizielle wie die Benachteiligung der Kopten im Staatsdienst. Während jede Regung linker und liberaler Dissidenten Repressalien nach sich zieht, bleiben reaktionäre Staatskleriker und islamistische Prediger weitgehend unbehindert, wenn sie gegen »christliche Verschwörer« hetzen.
Deshalb gilt die Solidarisierung von Muslimen mit den protestierenden Christen dem Regime als besonders gefährlich. Sie stellt die national­religiöse Leitkultur eines Regimes in Frage, das sich gegenüber dem westlichen Ausland säkular gibt, mit seiner Politik der »Islamisierung« aber den jihadistischen Terror begünstigt. Mubaraks größte Sorge dürfte derzeit sein, dass die sozialen Unruhen in Tunesien und Algerien auch auf Ägypten übergreifen könnten.