Über Schnee in Literatur und Wirklichkeit

Warum der Winter der Sommer der Dünnen ist

Magnus Klaue erinnert an den Schnee von gestern. Gedanken über Kälte, Kristalle und Lebenslust.

Wie die Verächter sakraler Schönheit hinter jedem Heiligenbild eine perverse Phantasie entdecken, sehen die Verächter des Schnees in diesem nichts als den Dreck, der nach dessen Verschwinden übrigbleibt: »Was für eine Sauerei das wird, wenn es erst geschmolzen ist!« Wenn auch unter dem Pflaster schon lange nicht mehr der Strand liegt, liegt doch unter dem Schnee mit Sicherheit die Scheiße, die in der besinnlichen Jahreszeit unter den Teppich der Reinheit gekehrt wird. Eigentlich, so glaubt der überzeugte Schneefeind, müssten wir ihren Gestank täglich in der Nase spüren und sie an jeder Ecke dampfen sehen, doch der Schnee, dieser lautlos daherkommende Mythologe, deckt sie plötzlich über Nacht ganz einfach zu, als wäre sie nie gewesen. Wie viel ehrlicher ist da der Sommer, der jeden frischen Hundehaufen so richtig zur Geltung bringt und jede indezente Ausdünstung in tausend Nuancen entfaltet. Der Sommer zerrt alles ans Tageslicht: Was stinkt, stinkt schlimmer als je, vor nichts Hässlichem lassen sich die Augen verschließen, und der lärmende Mob belagert die Straßen. Der Winter dagegen zwingt selbst notorische Freunde des urbanen Dauercampings, eine Zeit lang zu wohnen statt zu lungern, und erlegt der Welt eine Stille auf, die von keiner nachts um halb drei zerschlagenen Bierflasche erschüttert werden kann. Die Konturen werden sanfter, die Tage kürzer und die Menschen freundlicher, als hätten sie neben der Wintergarderobe auch ihre ausrangierten guten Umgangsformen auf dem Hängeboden entdeckt. All das ist zu schön, um wahr zu sein, und spätestens zu Silvester treten Schneefeinde und Winterhasser den Gegenbeweis an. Dieses freudloseste aller Feste scheint einzig und allein ersonnen worden zu sein, um das Weihnachtsfest zu widerrufen: Auf den christlichen Feiertag folgt die heidnische Regression wie der Rülpser aufs Abendmahl, die bösen Geister werden vertrieben, weil man von allen guten verlassen ist, und beim kollektiven Exorzismus verwandeln sich Familienväter in Guerillakämpfer. Am Tag danach herrscht jene bleierne Stille, die den Menschen schon immer lieber als die sanfte war, und dann dauert es auch nicht mehr allzu lange, bis sich ganze Bezirke in Grillplätze und ganze Wiesen in verbrannte Ödflächen verwandeln: Endlich lässt sich’s wieder leben.

Im Sommer, schreibt Walter Benjamin, fallen die dicken Leute auf, im Winter die dünnen. Das verweist auf den Zusammenhang von Kleidung und Scham. Im Sommer müssen die Menschen sich entblößen und aller Welt zeigen, wie sie wirklich sind. Die Natur selbst zwingt sie dazu, und wer sich im Hochsommer noch wie im Frühling kleidet, ist selber schuld. Dieser Zwang aber betont nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit: Wer dick, alt oder blässlich ist, fühlt sich im Sommer gleichsam von der Natur selbst diskriminiert, die den Schönen und Fitten Recht und allen anderen Unrecht gibt. Im Winter zwingt die Natur die Menschen, ihre Natur zurückzunehmen, sie mummeln sich ein, verbergen die Faktizität ihrer Körper unter zahllosen Kleidungsschichten und stellen so eine Gleichheit her, die, gerade weil sie nicht naturgegeben ist, ihrer Natur als Gleichheit all dessen, was Menschantlitz trägt, entspricht. Deshalb fallen die Dünnen im Winter anders auf als die Dicken im Sommer: nicht als das, was sie nun einmal sind, sondern gleichsam als das, was sie nicht sind; nicht durch den Raum, den ihre Körper einnehmen, sondern durch den Raum, den ihre Kleidung zwischen ihnen und der Kälte einnimmt, vor der sie sie schützt. Das Auffallen im Sommer ist bloßstellend oder eitel, das im Winter verbergend und dezent, eine ausgleichende Gerechtigkeit.

Schnee hat den Menschen, anders als die Kritiker der Schneeromantik nahelegen, stets eher Angst als Vergnügen bereitet. Die Schneelandschaften der romantischen Malerei sind allesamt Erscheinungsformen eines Erhabenen, dem das Moment der Selbsterhebung verlorengegangen ist, in der das Subjekt sich der Macht über das vergewissert, was es doch zugleich bedroht. Der Schnee ist diejenige Naturgewalt, in der die Natur sich selbst negiert, indem sie ins Anorganische übergeht: kein tosendes Meer, das vom Subjekt im Akt der Vergegenwärtigung heroisch bezwungen werden könnte, sondern eine starre, kalte Fläche, die sich ins Endlose dehnt. Nicht seine Dynamik, seine Statik macht Angst. Leblos und unbeweglich, vermehrt er sich doch ständig und scheint alle Grenzen unkenntlich zu machen, alle Horizonte zu überschreiten. Das Meer ist das ungebändigte Leben, das dem gebändigten gefährlich werden kann, der Schnee ist der sich ständig selbst verewigende Tod. In der Literatur des Biedermeier, die vielen zu Unrecht als spießige Verfallsform der romantischen gilt, gewinnt der Schnee vollends jene Dämonie, die zuvor, etwa im Undinen-Motiv, dem Wasser innewohnte. In den Erzählungen Adalbert Stifters, die in keinem Kompendium der Schauerliteratur fehlen dürften, figuriert Schnee als die endgültige Auslöschung jeder Orientierungsfähigkeit, als Blindheit, Stummheit und Taubheit zugleich, als Absterben jedweder Sinnlichkeit, die doch zugleich als Taumel herbeigesehnt wird, in dem das partikulare Ich für immer untergeht. Es ist allerdings ein Rausch, in dem der Tod anders gegenwärtig ist als im Motiv der Wassers: Nicht die Rückkehr zu irgendwelchen uterinen Ursprüngen wird in ihm als erlösende Selbstauslöschung imaginiert, sondern die Selbstnegation der Natur und ihrer lebendigen Bewegung. Deshalb werden Schnee und Kristall in der Literatur der Moderne, je mehr diese die traditionelle Naturmetaphorik aus sich tilgt, ihrerseits zu Chiffren der Individuation. Als erstarrte, in sich zusammengezogene und sich gerade dadurch bewahrende Natur verkörpert das Kristall in sich selbst, was die bloße Natur nicht einzulösen vermag.

Menschen, die im Schnee verschwinden, kommen zu sich selbst, indem sie der Welt verloren gehen. Der Schnee steht, zum ersten Mal vielleicht in Schuberts »Winterreise«, für eine Form des Bruchs zwischen Selbst und Welt, die durch keine Versöhnung mehr ausgeglichen werden kann. Der Wanderer im Schnee geht einen Weg, bei dem er von niemandem begleitet wird, der zu niemandem und buchstäblich zu nichts führt, der aber gerade deshalb als Weg der Individuation in einer Welt erscheint, in der zu sich selbst zu kommen bedeuten muss, die Welt zu verlieren. Die allseitige Verherrlichung des Sommers, in dem das Leben sich endlich nach Herzenslust entfalten darf, und der Hass auf die Jahreszeit, in der die Natur gefriert und erstarrt, zeugt vom heimlichen Bewusstsein um die ständige Drohung, dass ein schönes Leben nur um den Preis der Selbstabtötung, Individuation nur um den Preis des Weltverlusts zu haben sein könnte. Das Todesbild von Robert Walser, der die letzten Jahre seines Lebens freiwillig in einer Nervenklinik verbracht hat, zeigt ihn beim Spaziergang zusammengebrochen, inmitten einer Schneelandschaft. Die ganze Anstrengung seiner Literatur galt dem Versuch, im vollen Bewusstsein der allgegenwärtigen Angst eine Sprache der Freundlichkeit zu finden, die eine Spur all dessen bewahrt, woran täglich Verrat geübt wird. Sein Tod war kein tragisches Ende, sondern ein Zufall. Dennoch scheint sein letztes Bild sein Leben zusammenzufassen: Wenn es Sommer- und Wintermenschen gibt, dann war er ein Wintermensch, wie die meisten Autoren der Moderne. Vielleicht sogar wie jeder, der die Wahrheit ahnt, die hinter dem penetranten Lob von Sonne, Luft und Lebenslust steht.