Abdruck aus: »Anständig essen. Ein Selbstversuch«

Bruder Baum und Schwester Schnittlauch

Fleisch und Fertiggerichte sind sowieso verboten. Käse ist Folter. Und Getreide ist eigentlich Vogelfutter. Aber vermutlich ist es keine gute Idee, deswegen gleich auf »feinstoffliche Lichtnahrung« umzusteigen. Karen Duve hat für ein paar Monate versucht, ermordete Zwiebeln und stachelbewehrte Viehsaugentwöhner hinter sich zu lassen und frutarisch zu leben. Dabei hat sie ein Paralleluniversum entdeckt.

»›Wollen Sie mir etwa erzählen‹, sagte Arthur, ›ich sollte keinen grünen Salat bestellen?‹ ›Nun ja‹, sagte das Tier, ›ich kenne viele Gemüse, die dazu eine sehr klare Meinung haben.‹«
(Douglas Adams, »Das Restaurant am Ende des Universums«)

Den ersten Tag als Frutarierin beginne ich mit einem schönen Tropicana-Frühstück: Obstsalat aus Banane, Melone, Ananas und Pfirsich. Dazu ein paar Blaubeeren. Außerdem stehen in meiner Küche und im Wohnzimmer Früchtekörbe wie in einer Hotelsuite, durch die ich mich im Laufe des Tages hindurchäse. Ich weiß natürlich nicht, wie grob oder sorgsam diese Früchte gepflückt worden sind. Aber die Apfelernte in meinem Garten ist wegen des vielen Regens praktisch ausgefallen, und deswegen muss ich mich damit begnügen, Früchte zu kaufen, die zumindest rein theoretisch gewaltlos gepflückt sein könnten. Bei Früchten, die am Baum wachsen, bin ich wohl halbwegs auf der sicheren Seite. Schließlich wollen die Obstbauern auch noch im nächsten Jahr ernten. Aber ob bei der Melonenernte die Melonen alle vorsichtig von ihrer Mutterpflanze getrennt worden sind, wage ich doch sehr zu bezweifeln. Wahrscheinlich wurden die Blätter und Stängel kurz danach ausgerissen oder untergepflügt. Zum Glück sind in diesem Jahr wenigstens die Kürbisse auf dem Misthaufen in meinem Garten gediehen und können eigenhändig eingesammelt werden. Als ich den ersten vorsichtig abdrehen will, reiße ich der armen Kürbispflanze die grüne Haut einen halben Meter weit vom Stängel herunter. Die anderen Kürbisse ernte ich daraufhin doch lieber mit dem Messer. Das vorsichtige Abdrehen der Früchte, das in meinem Gartenbuch empfohlen wird, bezieht sich wahrscheinlich eher auf die Apfel- und Birnenernte. Immerhin dürfen meine Kürbispflanzen weiterhin in Ruhe auf dem Misthaufen wuchern, wo sie dann am Ende des Jahres friedlich an Altersschwäche oder Frost eingehen werden.

Zur Erinnerung: Einen Apfel kann man essen, ohne den Apfelbaum zu verletzen. Da der Baum sich mittels seiner Äpfel fortpflanzt, hat er in gewisser Weise sogar ein Interesse daran, dass sie gegessen werden. Obst, Nüsse, Samen, Beeren, Tomaten, Bohnen, Erbsen usw. sind also erlaubt. Wurzel-, Knollen- oder Stängelteile gehören ausdrücklich nicht dazu. Also keine Kartoffeln, keine Rüben, kein Lauch und kein Spinat. Ob ich Getreide, also Brot, essen darf (als Samen eigentlich erlaubt, aber nach der Ernte wird das Feld umgepflügt, wobei die Getreidepflanzen vernichtet werden), konnte ich bisher noch nicht klären, weil ich immer noch mit keinem einzigen Frutarier gesprochen habe. Eigentlich bin ich ja davon ausgegangen, dass ich im Laufe meiner Recherchen über Vegetarier oder Veganer irgendwann von selber auf einen stoßen würde. Aber acht Monate sind vergangen, ohne dass ich auch nur einem einzigen lebendigen Frutarier begegnet wäre. Kurzzeitig habe ich mich schon gefragt, ob es die in Wirklichkeit vielleicht gar nicht gibt, obwohl ja Apple-Mitbegründer Steve Jobs einer gewesen sein soll. »Damals war ich tatsächlich noch Frutarier, aß nur Obst. Mittlerweile bin ich, wie jeder andere auch, ein Abfalleimer«, soll er angeblich mal ­gesagt haben. Als ich endlich jemanden treffe, der wenigstens einen Frutarier kennt, kann auch der mir keinen Kontakt vermitteln, weil er den Frutarier beim Jugendamt angezeigt hat. Der Frutarier hatte auch sein Kind frugivorisch ernährt, wovon dem Kind die Zähne ausgefallen waren. Dem Vegetarierbund in Berlin ist ebenfalls kein Frutarier bekannt, man verweist mich jedoch an einen Herrn Anko Salomon, Gründer und Vorsitzender der Naturangesellschaft. Dessen Lebensauffassung würde am ehesten in diese Richtung gehen. Ich rufe Herrn Salomon an. Leider hat er gerade überhaupt keine Zeit, verspricht aber, mir ein Buch zum Thema zu schicken. Ich möchte es natürlich bezahlen, aber das will Herr Salomon wiederum nicht. Schließlich einigen wir uns darauf, dass ich das Geld an die Hundehilfe Nepal überweisen darf. Der entscheidende Tipp kommt am Ende von Susanne Starck von der Tierrechtsorganisation »Die Tierfreunde«, die mich darauf aufmerksam macht, dass in verschiedenen Internetforen immer mal wieder jemand namens »Fruchtesser« auftauche, bei dem es sich offenbar um einen Frutarier handle. Ich schicke ihm eine Mail mit meiner Adresse und Telefonnummer und einigen Fragen zum Frutarismus. Eine Woche später mailt Fruchtesser zurück, dass er gerade überhaupt keine Zeit habe, sich aber später meinen Fragen widmen wolle. Ich bin etwas verblüfft, dass Frutarier genauso unter Zeitdruck zu stehen scheinen wie unsereiner. Irgendwie habe ich wohl erwartet, dass jemand, der sich der Normalität der Gewalt in unserem Alltag komplett entzieht, den ganzen Tag in der Sonne sitzt und den Schmetterlingen zuschaut. Achtsamkeit und Stress, das passt doch irgendwie nicht zusammen.
Drei Tage später ruft mich Fruchtesser plötzlich an. Er hat sich entschlossen, mit mir ein Gespräch zu führen, weil wir ja Kollegen sind, denn er hat ebenfalls ein Buch geschrieben, wenn er sich dann auch entschieden hat, es nicht drucken zu lassen – der Bäume wegen.
»Na, jetzt gibt es ja E-Book«, sage ich.
»Ach, mich interessiert das alles nicht mehr … «
Fruchtesser erzählt, dass er schon als Kleinkind Frutarier war – Fruktarier nennt er es.
»Ich habe meine Mutter gefragt, was die Menschen im Paradies gegessen haben, und meine Mutter hat gesagt: Früchte.«
Von da an war die Sache klar. In der Schule ließ sich das jedoch nicht durchhalten, später auch schlecht, aber nach eine Übergangsphase, in der er sich bereits über einen langen Zeitraum zu 95 Prozent fruktarisch ernährte, wurde Fruchtesser vor etwa 15 Jahren zum reinen Früchte­esser.
»Was essen Frutarier … – ich meine Fruktarier denn nun eigentlich?«
»Reife Früchte der Saison und ab und zu auch mal Samen und Nüsse. Nicht zu viele Nüsse. Vielleicht zwanzig im Jahr. Haselnüsse sind gut.«
»Zählt Getreide auch dazu? Das sind doch eigentlich auch Samen.«
»Nein, kein Getreide. Ich esse kein Getreide, weil es in Monokulturen angebaut wird. Aber du kannst es natürlich essen, wenn du willst. Man darf alles essen, man muss nur die Hintergründe sehen. Wenn du unbedingt Getreide essen willst, dann solltest du dir Hirse kochen. Es gibt Fruktarier, die würden in einer Notsitu­ation auch ein überfahrenes Tier von der Straße nehmen und zubereiten. Etwa, wenn eine Ernte ausfällt. Die meisten Fruktarier würden allerdings eher pranisieren.«
»Äh … was?«
»Durch Prana überleben.«
Später google ich das: Prana bedeutet im Hinduismus so viel wie Lebensenergie, Atem. Seit etwa zehn Jahren kursiert die Prana-Lehre verstärkt in esoterischen Kreisen. Wer sich durch Prana – also feinstoffliche Lichtnahrung – ernährt, braucht angeblich weder zu essen noch zu trinken. Im April des vergangenen Jahres erregte der 83jährige Hindu Prahlad Jani Aufsehen, der laut eigener Aussage seit 70 Jahren weder gegessen noch getrunken hatte, was in ­einem indischen Krankenhaus unter ständiger Videoüberwachung und unter wissenschaftlicher Kontrolle bewiesen werden sollte. Der Neurologe Sudhi Shah vermutete laut Bild-Zeitung, dass Prah­lad Jani kosmische Energie aus dem Licht der Sonne ziehe und in seinem Körper eine Art Photosynthese stattfinde. Jani selbst behauptete allerdings, von einer Hindu-Göttin gesegnet worden zu sein und seitdem einen Nektar durch ein Loch in seinem Gaumen zu empfangen. Der Versuch bewies und widerlegte nichts und wurde von verschiedenen Seiten als unwissenschaftlich kritisiert, weil nicht ausreichend sichergestellt worden war, dass Jani nicht doch heimlich an Wasser kam. Eine der wichtigsten westlichen Vertreterinnen des Pranismus ist die Australierin Jasmuheen, bürgerlich Ellen Greve, eine ehemalige Bankangestellte, die jetzt esoterische Seminare leitet, medial mit einem verstorbenen Mitglied einer »Großen Weißen Bruderschaft« verbunden ist und behauptet, dass ihre DNA aus zwölf statt wie bei allen anderen Lebewesen nur aus zwei Strängen besteht. Jasmuheen behauptete auch, sie würde sich seit 1993 ausschließlich von Prana ernähren, und hat ein Buch mit einer Anleitung zur Lichternährung geschrieben. Nachdem sie mehrmals beim Essen gewöhnlicher Nahrungsmittel beobachtet worden war, sagte sie, es sei für ihre Lehre irrelevant, ob sie esse. Für drei Menschen ging der Versuch der Lichternährung tödlich aus. Vermutlich starben sie an Organversagen, weil in der ersten Woche des dreiwöchigen Prozesses zur Umstellung auf Lichtnahrung kompletter Flüssigkeitsentzug gefordert wird. Jasmuheen wies eine Mitschuld zurück und sagte über eine der drei Toten: »Sie war nicht rein (im Sinne von ›reine Aura‹) und hatte auch nicht die richtige Motivation.« Immerhin propagiert sie jetzt einen »sanften Weg zur Lichtnahrung«, bei dem man wohl auch in der ersten Woche trinken darf.
»Kennst du eigentlich noch andere Fruktarier?« frage ich Fruchtesser. »Seid ihr irgendwie vernetzt oder gibt es eine Vereinigung?«
»Ach, es gibt ja auf der ganzen Welt vielleicht bloß 1 000 Fruktarier. Vielleicht auch 10 000. Wir waren schon immer Einzelkämpfer. Interessant ist, dass wir alle fast synchron geboren wurden. Ich lebe mehr so wie ein Eremit. Zurzeit lebt eine sehr liebe Freundin bei mir, aber sonst lebe ich ein bisschen wie ein Eremit. Das ist die beste Gesellschaft. Die Fruktarier haben auch die unterschiedlichsten Gründe – gesundheitliche Gründe oder ethische, pathologische, religiöse Gründe. Die gewaltlose Ernährung in der Gesellschaft – wie oft ist das Rad jetzt erfunden worden? Du bringst die absolute Meisterleistung, wenn du wirklich eins mit dir bist. Es ist völlig in Ordnung, Hirse zu essen, wenn du Hirse essen willst. Braunhirse kannst du auch roh essen. Aber Getreide ist eigentlich Vogelfutter. Ich bleibe bei meinem Weg, der Mensch ist ja schon von der Anatomie her Frugivore, und Adam und Eva haben im Paradies Früchte gegessen. Das war noch vor der Kontinentalspaltung.«
»Vor der Kontinentalspaltung? Hm … tja … vermutlich … das war wohl noch vor der Kontinentalspaltung.«
»Es ist ja auch so, dass alte Menschen oft lieber alte, reife Früchte essen und junge Menschen lieber junge, unreife Früchte mögen, man muss darauf hören, was man braucht.«
»Hast du nie Mangelerscheinungen gehabt?«
»Nein, ich fühle mich viel, viel besser, seit ich mich so ernähre. Es macht einen friedlicher und cooler. Und wenn man nicht gern kocht, dann ist das die bequemste Lebensweise überhaupt. Diesen Vitamin-B12-Mangel, den gibt es ja überhaupt erst seit 1950, seit bestimmte Chemikalien in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen und die Bakterienkulturen zerstören.«
»Vermisst du nichts? Also ich selber finde es sehr schwer, nur Früchte zu essen.«
»Ja, man muss sich erst daran gewöhnen. Wir sind dermaßen in Nahrungsmittelabhängigkeiten gefangen, dass eine solche Nahrungsumstellung wie ein Drogenausstieg sein kann. Ich habe über zehn Jahre gebraucht, um mich daran zu gewöhnen.«
»Das ist aber ganz schön lang.«
»Was isst du denn so? Isst du Äpfel?«
»Ich esse zweimal am Tag einen Topf mit grünen Bohnen oder Erbsen in Kokosnussmilch«, sage ich, »und sonst Obst. Manchmal ist da auch ein Apfel dabei.«
Fruchtesser empfiehlt mir, mehr Äpfel zu essen. Oder Hirse, wenn ich das unbedingt bräuchte.
»Ich spüre, dass du ein lieber Mensch bist«, sagt Fruchtesser.
»Ja … hm … meinst du … ?«
»Ich weiß ja, dass du Taxifahrerin gewesen bist, und ich kenne auch zwei Taxifahrer, die besonders liebe Menschen sind. Ich wünsche dir, dass es dir gut geht.«
»Äh … danke. Ich wünsche dir auch, dass es dir gut geht.«
»Danke. Ruf mich an, wenn du noch Fragen hast«, sagt Fruchtesser.

Ich wache mit einem leichten Schwindelgefühl und einem Pochen in den Schläfen auf. Vielleicht hat Fruchtesser recht mit seiner Theorie von den Nahrungsmittelabhängigkeiten. Ich fühle mich jedenfalls wie auf Drogenentzug. Und sehr hungrig. Über einen Link von Wikipedia bin ich auf eine Frutarier-Homepage gestoßen. Wie schon die Veganer, wie auch bereits die Vegetarier und wie auch die Bio-Zeitung Schrot und Korn behaupten die Frutarier, dass es großen Spaß machen würde, nach ihrer Ernährungsform zu leben. Sie schwärmen, wie hübsch die runden Früchte sind und wie toll sie schmecken und wie wahnsinnig schlank und gut aussehend man durch diese Ernährungsform wird. Nie sagt mal jemand: Diese Ernährungsform bedeutet Verzicht und Zumutung, aber ich bringe das Opfer, weil es meiner Überzeugung entspricht. Die Frutarier-Homepage tut so, als wäre es ein Privileg, ausschließlich Früchte zu essen. Ich beiße in einen Apfel. Mann, macht das Spaß!
Immerhin schlafe ich gut. Abends falle ich bereits um neun ins Bett und schlafe wie ein Stein bis zum nächsten Morgen. Beim Einkauf habe ich in der ersten Woche zwei Fehler gemacht. Gurken werden doch wohl erlaubt sein, habe ich gedacht, schließlich sind Gurken Gemüse-Früchte. Und Senfkörner sind als Samen ebenfalls erlaubt. Also kaufe ich mir ein schönes Glas Gewürzgurken. Falsch! Erstens ist Zucker mit drin (ermordete Zuckerrüben), zweitens auch noch ein paar durchsichtige Zwiebelscheiben (ermordete Zwiebeln). Der zweite Fehler war eine Tüte gesalzener Cashewkerne. Auf der Tüte stand, dass die Cashews in Pflanzenöl geröstet waren. Ich ging davon aus, dass das Öl von einer Frucht, einem Samen oder einer Nuss stammte. Wo sonst steckt so viel Öl in einer Pflanze, dass man es herauspressen könnte? Erst später fiel mir ein, dass die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß ist, dass es sich um Maiskeimöl handeln könnte. Und Mais ist als Monokultur ja verboten. Also keine Salznüsse mehr. Auch in Konserven steckt oft Rübenzucker. Am sichersten ist es, frisches oder tiefgefrorenes Obst und Gemüse zu kaufen. Fertiggerichte haben sich sowieso erledigt.

»Und was ist mit einjährigen Pflanzen?« fragt mein Verleger am Telefon. »Darfst du die auch nicht essen?«
»Natürlich nicht«, sage ich. »Oder möchtest du, dass man dir mit 70 Jahren einen über die Rübe zieht mit der Begründung, dass du es ja sowieso nicht mehr lange machst?«
Moralisch bin ich jetzt kaum noch zu toppen. Ich vernichte kein Leben mehr. Ich bin die Super-Grille.
»Dann darfst du wohl auch keine Baumwolle tragen.«
»Doch, darf ich. Baumwolle wird aus den Samenfäden der Baumwollpflanze gemacht und kann abgepflückt werden, ohne die Pflanze zu zerstören.«
»Ich schick dir mal ein Buch über die Zustände auf den Baumwollfeldern in Usbekistan.«
Bei einer so streng moralischen Lebensführung wie der eines Frutariers reizt es ethisch tiefer agierende Subjekte nun einmal, ein Haar in der Früchtesuppe zu finden.

Ich gehe nicht mehr gern aus. Die guten Gerüche überall in der Stadt machen mir zu schaffen. Zu Hause kann ich mich mit meinem Topf gekochter Erbsen oder Bohnen leichter abfinden. Also sitze ich jetzt oft vor dem Fernseher. Noch öfter, würde meine Freundin Jiminy sagen. Beim Zappen bleibe ich immer wieder bei Kochshows hängen. So etwas hätte ich mir früher nie angesehen. Seit ich Frutarierin bin, verfolge ich mit saugnapfgroßen Pupillen jeden Schritt der Lebensmittelzubereitung und komme mir wie ein Porno-Konsument vor. Diesmal stoße ich allerdings auf eine Talkshow: »Natürlich Steffens!«. Nach sportlichen Rentnern und dem XXL-Ostfriesen Tamme Hanke kommen die hessische Ex-Milchkönigin Melanie Reusse und der Literaturwissenschaftler Florian Werner zu Wort. Die hessische Milchkönigin hat zu Hause 270 Kühe im Laufstall stehen, und es ist ihr ein großes Anliegen, dass wir alle noch viel mehr von der guten Milch trinken. Sie hat ein Kalb mitgebracht, das die ganze Zeit an ihrer Hand saugt und sabbert. Dass Kälber auf diese Weise ihre Verlassenheitsgefühle ausagieren, ist in der Milchwirtschaft normalerweise nicht erwünscht. Im Agrarkatalog der Firma Siepmann kann man stachelbewehrte »Viehsaugentwöhner« kaufen, deren »elastisches Material« eine »einwandfreie Befestigung im Nasenknorpel der Jung­tiere« gewährt. Jedes Mal, wenn ein Kalb mit so einem Ring in der Nase an einem anderen Kalb saugen will, drückt es ihm die Stacheln des Saug­entwöhners ins Fleisch, und das andere Kalb nimmt Reißaus. In einer Talkshow kommt das neurotische, ständig saugende Kalb natürlich sehr niedlich rüber. Aber vielleicht hat es ja auch einfach bloß Hunger. Der Literaturwissenschaftler Dr. Florian Werner hat ein Buch geschrieben: »Die Kuh – Leben, Werk und Wirkung«. Moderator Steffens erwähnt die Methangase, die für das Klima doch so schädlich sein sollen, genauso schädlich wie Auto fahren. Der Literaturwissenschaftler gibt zu, dass es nicht gerade optimal für das Klima ist, wenn die 1,3 Milliarden Kühe auf der Welt täglich und pro Kopf 250 Liter Methangas ausstoßen.
»Umgekehrt sollte man vielleicht nicht vergessen, dass, wenn man natürlich Kühe hält und dafür auch noch schöne Weiden hat und Graslandschaften, dass das auch wieder das Klima aufwertet. Also das Gras produziert da auch wieder Sauerstoff, steuert da also gegen. Das macht das Auto nicht.«
Ich winde mich auf meinem Fernsehsessel. Hat der Mann nicht gerade ein Buch über Kühe geschrieben? Ich habe es übrigens gelesen. Und auf Seite 198 schreibt er, dass Rinderhaltung maßgeblich für die Vernichtung der Regenwälder in Mittel- und Südamerika verantwortlich ist. »Tatsächlich tragen Kühe ganz massiv zur Umweltverschmutzung und -zerstörung bei. (…) Immer mehr Bäume fallen Kettensäge und Brand­rodung zum Opfer, um Raum für Rinderweiden zu schaffen (…).«
Ganz recht, Herr Werner, aber wenn man das doch weiß und erst vor Kurzem mühsam recherchiert hat, wie kann man dann so einen Scheiß reden, dass das Gras, auf dem die Kühe stehen, ganz prima für das Klima wäre. Zumal ja Laufstallkühe für gewöhnlich gar nicht mehr auf die Weide gelassen und mit Mastfutter aus ehema­ligen Regenwaldregionen gefüttert werden. Laut BUND besetzt allein Deutschland für seinen Soja-Bedarf rund 2,8 Millionen Hektar Anbaufläche, auf der sonst CO2-bindender Regenwald stehen könnte.
»Kann ich was dazu einbringen?« fragt die hübsche Milchkönigin, während das Kalb immer lauter schmatzend und immer heftiger sabbernd an ihrer Hand saugt. »Was ich dazu sagen möchte – das stimmt mit dem Methan. Aber wir brauchen die Kühe auch in Regionen, wo es schwierig ist, das Gras zu pflegen. Man muss beide Seiten sehen. Und ich denke mal, wenn es um den Klimawandel geht, dann sollte man sich als Normalverbraucher immer mal fragen, muss ich dreimal im Jahr in den Urlaub fahren oder reicht es auch, wenn ich ein Mal im Jahr in ein Flugzeug steige.«
Kalb: »Schmatz, schmatz, schmatz.«
Milchkönigin: »Ich meine, die Milch ist ein Grundnahrungsmittel, und das Fleisch, wir brauchen das ja für unseren Körper, man sollte erst mal diese Aspekte sehen und dann vielleicht das Hobby oder den Urlaub nebenbei stellen und … «
Was sie noch sagen will, geht in zustimmendem Applaus unter. Die Zuschauer im Studio sehen das herzig schmatzende Kälbchen auf der Bühne und applaudieren gleichzeitig der Meinung, dass es gut und richtig ist, dieses Kälbchen umzubringen, um sich sein Fleisch in den Mund zu stecken. Wie soll man solchen Leuten denn jetzt bitte vermitteln, dass auch die Lebensrechte von Pflanzen zu achten seien, diesem Unkraut, das überall unter ihren Schuhen wächst?

Ich habe meine Blutwerte noch einmal überprüfen lassen. Dr. Zeisler ist hellauf begeistert. Meine Cholesterinwerte haben sich von 160 auf 90 nahezu halbiert. (Es handelt sich um das schlechte, böse Cholesterin. Offenbar gibt es auch noch ein gutes, und das ist ausreichend vorhanden.) Auch die Niere arbeitet jetzt besser, Leberwerte gut, weiße Blutkörperchen, rote Blutkörperchen – alles ausreichend vorhanden. Eisen dürfte mehr sein, geht aber auch noch. Nur Vitamin B12 ist eindeutig zu wenig da. Noch nicht so wenig, dass ich deshalb krank werden könnte, aber es ist zu wenig. Zu dumm, dass ich die B12-Werte nicht auch schon im Januar habe messen lassen. Dr. Zeisler vermutet, dass der Mangel nicht an meiner viermonatigen Vegan-Ernährung liegt, jedenfalls nicht nur, sondern dass mein Magen möglicherweise durch Antibiotika geschädigt ist und Vitamin B12 schon länger nicht mehr richtig aufnimmt. Die beiden Frutarier-Monate halte ich aber noch durch, ohne irgendwelche Mittelchen nehmen zu müssen. Allerdings kann ich die Empfehlung aus dem Internet, bei Veganern würde eine Kontrolle der Blutwerte alle zwei bis drei Jahre völlig genügen, jetzt natürlich nicht mehr unterschreiben. Ich empfehle ausdrücklich, schon früher mal eine Blutprobe nehmen zu lassen.

Als mir die Postbotin ein Paket in die schmutzigen Finger drückt, schrubbe ich mir erst mal gründlich die Hände. Im Paket liegt das versprochene Buch von Anko Salomon, dem Vorsitzenden der Naturangesellschaft. Es heißt »Leben – ohne Tiere und Pflanzen zu verletzen oder zu töten«. Als Autor ist ein A. Wang angegeben, aber da es sich um eine praktische Anleitung zur Ausübung des Naturanismus handelt, gehe ich schwer davon aus, dass es sich bei A. Wang um ein Pseudonym von Herrn Salomon handelt.
Der Naturanismus unterscheidet sich von der veganen Lebensweise einerseits darin, dass außer Tieren auch keine Pflanzen verletzt oder getötet werden dürfen, und andererseits darin, dass der Autor davon ausgeht, dass es möglich sei, Tiere unter Berücksichtigung ihrer individuellen Lebensbedürfnisse so zu halten und zu nutzen, dass sie nicht darunter leiden. »Es ist durchaus möglich, auf tierische Produkte zu verzichten, allerdings sollte dies nicht auf Kosten der Pflanzen geschehen, denn pflanzliches Leben wegen seiner Andersgestaltigkeit als geringer zu beurteilen, entspricht lediglich bewertenden Kategorienbildungen, unter denen Menschen, Tiere und Pflanzen schon immer zu leiden gehabt haben.« Milch und Milchprodukte können nach Auffassung des Naturanismus schließlich auch gewonnen werden, wenn man das Kälbchen zuerst trinken lässt und lediglich die Überschüsse nimmt, die sich dann noch melken lassen. Honig und Blütenpollen lassen sich in Maßen gewinnen, ohne dass die Bienenvölker dafür rigoros ausgebeutet werden müssten, und Eier von Hühnern aus Freilandhaltung zu nehmen sei vertretbar, wenn man auch dem Bedürfnis der Hühner zu brüten Rechnung trägt, gute Haltungsbedingungen schafft und den Hühnern eine Versorgung bis zum natürlichen Tod bietet. Die Ernte von Früchten ist ja sowieso problemlos und bei Getreide vertritt Herr Salomon, beziehungsweise Herr Wang, die Meinung, dass die Getreidepflanzen bei der Ernte bereits abgestorben seien. Es bestehe also überhaupt keine Notwendigkeit, pflanzliche Lebewesen zu verletzen oder zu töten, weil sie uns durch die Bereitstellung von Sauerstoff, Fruchtfleisch und Samen bereits umfassend versorgt haben. Außerdem beinhaltet das Buch Abhandlungen über die Gleichwertigkeit aller Spezies, das Wesen von Tier und Pflanze, Anleitungen zur Lebensmittelverarbeitung und praktischen Haushaltsführung, Survivaltipps, seitenweise Rezepte und Menüvorschläge, einen psychologischen Fragebogen zur Analyse der Lebensgestaltung, Tipps zum Umgang mit Depressionen, Suchtverhalten und Übergewicht, Empfehlungen zur Krankheitsbehandlung nebst einer Liste nütz­licher Hausmittel, Rezepte für Gesichtsmasken und Badezusätze – kurz: alles, was man für ein gutes, gewaltloses Leben so wissen muss.

Jiminy ist aus Köln zurück. Sie hat drei Kilo zugenommen und will mit mir ein paar Tage frutarisch leben, damit die Jeans wieder passt. Ich habe nämlich bereits nach zwei Wochen Frutarismus vier Kilo abgenommen. Was deutlich motivierender ist als die zwei Kilo, die ich nach vier Monaten veganer Ernährung weniger wog. Jiminy kocht für uns eine Kürbissuppe mit Kokosmilch. Kürbis ist Gemüsefrucht, Kokosnuss ist ja wohl Nuss, Salz lebt nicht, und Pfefferkörner sind Samen. Zu meinem Erstaunen lässt sich ein richtiges Mittagessen aus rein frutarischen Zutaten bereiten. Und es schmeckt sogar.
Am Nachmittag wirft Jiminy ihre Diätpläne wieder über Bord, als sie ganz hinten in meinem Kühlschrank einen Fertigteig findet, der eigentlich einmal für eine vegane Pizza gedacht war. Sie fängt an, den Teig mit Tomaten zu belegen.
»Ermordeter Weizen«, sage ich, »von den Abertausenden Mäusen, Igeln, Hamstern, Hasen und Rehkitzen, die dabei in die Mähdrescher geraten sind, mal ganz zu schweigen.«
Daraufhin geht Jiminy aus dem Haus und setzt sich ins Auto. Nach einer halben Stunde kommt sie mit einer Supermarkttüte zurück und holt ein Stück Käse heraus, mit dem sie ihre Pizza überbacken will.
»Bizarr«, sage ich. »Ich muss darüber nachdenken, ob ich es dulden kann, dass so etwas in meinem Herd gebacken wird.«
Kurz darauf erfüllt der Geruch von Käsepizza die Küche, und ich flüchte in mein Arbeitszimmer. Leider sind es nicht Ekelgefühle, vor denen ich Reißaus nehme. Als ich später wieder herunterkomme, rattert Jiminy mit dem Rasenmäher durch den Garten, um die Kalorienbilanz wieder auszugleichen. Darauf habe ich ja nur gewartet.
»He«, rufe ich, »was tust du da?«
Jiminy stellt den Rasenmäher aus.
»Du verletzt die Gräser«, sage ich.
»Quatsch, das pflegt den Rasen. Der wird viel schöner und dichter, wenn ich ihn mähe.«
»Aber der Rasen ist nicht die Pflanze. Der Rasen ist eine Ansammlung einzelner Grashalme, die dicht gedrängt wie Fußballfans in einem Stadion nebeneinander stehen. Die Halme sind die Pflanzen, und jeder einzelne wird von dir verletzt, gestutzt und an der freien Entfaltung gehindert – nur für den Gesamteindruck.«
»Ja«, sagt Jiminy, allmählich etwas müde von den Belehrungen der Supergrille, »so etwas nennt man Zivilisation. Hast du dir übrigens mal den Holunder angesehen? Alles voller Blattläuse. Die darf ich jetzt wahrscheinlich auch nicht mehr bekämpfen, was?«
Ich schau mir den alten Holunderstrauch neben dem Maultierstall an. Dicht an dicht sitzen die Blattläuse an den Stängeln und Zweigen. Teilweise sieht das aus, als trüge der Holunder einen samtigen, hellgrauen Thermo­anzug.
»Bitte schön«, sagt Jiminy, »ich rühr nichts mehr an. Du kannst hier gerne alles verwildern und auffressen lassen.«
Eine Ameise läuft über die Blattläuse hinweg. Tierrechtler echauffieren sich ja gern darüber, dass der Mensch die einzige Spezies sei, die etwas so Krankes machen würde, wie bei einer anderen Tierart die Milchdrüsen zu stimulieren, um an die Milch zu kommen. Das stimmt – aber nur wenn man den Tatbestand daran festmachen will, dass es sich bei der Flüssigkeit um Milch handeln muss. Ansonsten gibt es ja wohl immer noch die Blattläuse melkenden Ameisen. Ameisen grabbeln und streicheln an den Hinterleibern von Blattläusen herum, um sie zur vermehrten Ausscheidung ihrer zuckerhaltigen Exkrementströpfchen zu bringen, die sie dann auflutschen. Das ist ja wohl mindestens genauso krank! Und grausam sind sie auch noch. Wenn die Blattläuse Flügel bilden, um an einen anderen Ort zu fliegen, beißen die Ameisen ihnen die Flügel wieder ab, um sie weiter melken zu können. Es gibt also keinen Grund, immer bloß auf dem armen Homo sapiens herumzuhacken.
»Wenn man schon keinen Rasen mähen darf, was ist dann eigentlich mit Bonsai-Bäumen«, fragt Jiminy provozierend, »das ist dann wohl Folter?«
Ich muss kurz nachdenken.
»Misshandlung«, sage ich dann. »Ich würde es Misshandlung nennen.«
Auch wenn man davon ausgeht, dass eine Pflanze weder über ein Schmerzempfinden noch über sonstige Bewusstseinszustände noch über einen Willen verfügt, so hat sie doch – wie jedes andere Lebewesen auch – drei grundlegende Interessen, und zwar:
1.) zu leben,
2.) gut zu leben,
3.) sich fortzupflanzen.
Die klassischen Mittel einer Pflanze, ihre Interessen durchzusetzen, bestehen darin, dorthin zu wachsen, wo die meiste Sonne hinkommt, und mit den Wurzeln tief in den Boden bis zur nächsten Wasserader vorzustoßen.
»Bonsai-Zucht, das ist künstlicher Kleinwuchs und Verkrüppelung, indem man die Bäume in zu flache Töpfe stellt, sie zu wenig düngt und ihnen absichtlich das Leben schwer macht«, sage ich. »Also, das ist ja wohl kein gutes Leben.«
»Vielleicht sollten wir mal eine Bonsai-Befreiung machen«, sagt Jiminy.

Ich esse fast jeden Tag das Gleiche: morgens zwei Bananen und eine halbe Melone, mittags Erbsen und Tomaten in Kokosmilch, abends Erbsen und Tomaten in Kokosmilch und zwischendurch Äpfel, Äpfel, Äpfel. Erbsen sind das einzige Gemüse, bei dem ich einigermaßen satt werde. Ich habe die Nase allmählich voll. Jeden Tag die schlimmste aller denkbaren Diäten und in letzter Zeit nehme ich noch nicht einmal mehr ab. Wer schon einmal eine Fastenkur gemacht hat, weiß, dass die ersten drei Tage am härtesten sind. Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und ständig Hunger. Dann legt sich das. Bei der frutarischen Diät bleibt es die ganze Zeit so. Bisher habe ich mich immer mit einer Tüte Studentenfutter über den Tag gerettet, dann kommt mir eine Packung in die Finger, bei der der Produzent unvorsichtigerweise den Kaloriengehalt auf die Tüte gedruckt hat. Fast 600 Kalorien auf 100 Gramm. Oh Gott! In einer Tüte sind schon 200 Gramm. Und manchmal habe ich sogar zwei Tüten gegessen. Von nun an lasse ich die Nüsse eben weg. Ich will nicht der einzige dicke Frutarier auf der Welt sein. Meine Laune hebt diese weitere Einschränkung natürlich nicht gerade. Alle anderen können essen, was sie wollen. Wer nicht gerade zwei Herzinfarkte hinter sich hat oder Topmodel werden will, kann in diesem Kulturkreis zwischen Lebensmitteln jeglichen Geschmacks und Aussehens und jeglicher Konsistenz wählen. Selbst Veganer haben eigentlich eine Riesenauswahl. Bloß ich sitze jeden Abend vor meinem Erbsen-Kokosnussmilch-Topf und zappe mich durch die Fernsehkochshows.
Diesmal schaue ich »Deutschlands Meisterkoch«. Acht Kandidaten kochen um die Wette, und eine Jury aus drei Gourmet-Köchen bewertet das Ergebnis. Die Kandidaten sollen einen lebenden Hummer zubereiten. Es wird ihnen erklärt, wie man ihn tötet – mit dem Kopf voran in sprudelnd kochendes Wasser stecken, Deckel drauf, und nach 20 Sekunden ist er tot. 20 Sekunden! Die können vermutlich ganz schön lang werden, wenn man in kochendem Wasser steckt. Wie sagte noch gleich David Foster Wallace in seinem Essay »Am Beispiel des Hummers«? »Es bleibt die Tatsache, dass sich der Hummer verzweifelt wehrt.« Die Kandidaten schauen auch nicht gerade begeistert. Eine Frau weint beinahe. Ein bärtiger Mann erzählt später in die Kamera, dass ihm ganz schön mulmig zumute war, als er dem Hummer ins Gesicht sah. »Dann aber sagte ich mir: Ich kann das.«
In der bunten Welt der Männlichkeit gilt es immer noch als Leistung, in Situationen, die nach Mitleid geradezu schreien, dieses Mitleid in sich zu unterdrücken. Einmal wohnte ich als Stipendiatin in einem Institut für Kunstschaffende der verschiedensten Sparten. Ein halbes Jahr vor meiner Ankunft hatten dort zwei jungen Künstler gewohnt und geschaffen, von denen immer noch geredet wurde. Der eine hatte lebende Hühner auf einer Bühne geköpft, und der andere hatte einen deutschen Flughafen mit all seinen Gängen als durchsichtiges Röhrensystem nachgebildet und mit Grillen, Skorpionen, einer Maus und anderen Tieren gefüllt, die sich im Laufe einiger Tage gegenseitig massakrierten. Es hatte Beschwerden gegeben. Mein Zimmernachbar erzählte mit feinem Lächeln, wie eini­ge Stipendiatinnen sich aufgeregt hätten, aber im Institut hatte man hinter den jungen Männern gestanden. Wenn es erlaubt wäre, Hühner für den Kochtopf zu schlachten, müsste es auch erlaubt sein, sie für die Kunst zu töten. Während meines Aufenthalts dort wurden erfreulicherweise keine Tiere gequält. Nur ein alter Fluxus-Künstler kam vorbei und brachte ein nacktes junges Mädchen mit, das er mit Sahne beschmierte. Ich sagte nichts dazu. Solange die Jungs damit beschäftigt waren, Sahne auf Brüste zu schmieren, erwürgten sie wenigstens keine Hundewelpen
In der Kochshow stecken übrigens alle acht Kandidaten und Kandidatinnen ihren Hummer in das kochende Wasser. Keiner weigert sich. Nicht einmal die Frau, die beinahe geweint hätte. Als sie das große Schalentier ins Wasser gleiten lässt, krallt sich der Hummer mit dem Schwanz am Topfrand fest. Vielleicht ist er auch einfach nur zu groß, jedenfalls bekommt sie den Deckel nicht zu und muss noch einmal nachstopfen. Dann rennt sie mit erhobenen Händen vom Herd weg. Ich glaube, diesmal weint sie richtig. Es geht um 100 000 Euro.

Redaktionell gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Karen Duve: Anständig essen. Ein Selbstversuch. Verlag Galiani, Berlin 2011. 335 Seiten, 19,95 Euro