Über die Mindeststandards einer universellen Ethik 

Der Wille zur Freiheit

Im Sinne der Emanzipation müssen manche Aussagen universell gültig sein, und das gilt auch für Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Unterdrückung muss überall bekämpft werden.

Wer kulturrelativistisch argumentiert, also unterschiedlichen sozialen Gruppen und den dazugehörigen Ideologien – »Kulturen«, »Ethnien«, Religionsgemeinschaften – je eigene Werte zugesteht, richtet sich damit zugleich gegen den Anspruch auf universelle Gültigkeit von Postulaten, die modernen gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen zugrunde liegen. Dadurch wird Kulturrelativismus, jedenfalls in seinen konsequenten Ausprägungen, reaktionär.

Es gibt axiomatische Aussagen, die zu hintergehen den Kampf gegen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse unmöglich macht und die nur als universalistische Postulate Sinn ergeben. Udo Wolter (Jungle World 2/2011) hat eine davon zitiert: den Marxschen »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Ein anderes Axiom ist Adornos Feststellung, Hitler habe »den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe.«
Die Formulierung derartiger Postulate wurde allerdings erst unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen möglich bzw. notwendig. Marx’ kategorischer Imperativ hatte die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft zur Voraussetzung, als sich global durchsetzender Formation, wodurch eine klassenlose, herrschaftsfreie Gesellschaft sich als realisierbar abzeichnete. Wie die kapitalistische Gesellschaft hatte auch die Marxsche Kritik ihren Ursprung in »Europa«. Radikale Kritik und den Kampf für Freiheit und Glück aus diesem Grund als »eurozentrisch« zu brandmarken, ist schon deshalb Unsinn, weil diese sich auf Befreiung im Weltmaßstab »zentrieren« und die Menschen, gleich wo sie leben, als Subjekte ihrer Selbstbefreiung im Blick haben.
Forderungen universalistischen Charakters sind nicht erst für die kommunistischen Protagonisten kennzeichnend, sondern konstitutiv für die sich durchsetzende bürgerliche Ideologie. Die Werte der Aufklärung, die Forderung nach Menschenrechten, nach Demokratie, nach »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, das bürgerliche Glücksversprechen waren dabei zwar Voraussetzungen der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und dienten damit einer neuen Herrschaftsordnung, ganz zu schweigen von der im Begriff »Brüderlichkeit« enthaltenen Fortschreibung patriarchaler Verhältnisse. Doch brachten sie den Individuen neue relative Freiheiten und Bewegungsmöglichkeiten, in­klusive einklagbarer Garantien, die es gegen alle Einschränkungen zu verteidigen galt und gilt und für deren Ausbau es sich zu kämpfen lohnt. Zugleich stecken darin Versprechen, die unter kapitalistischen Bedingungen nicht einlösbar sind und deshalb Sprengkraft beinhalten. Da­rauf wäre kritisch hinzuweisen, statt ihren universalistischen Anspruch zu denunzieren.

Besonders perfide und abwegig wird solche Denunziation, wo sie diese Postulate zum Ausdruck »christlicher Leitkultur« umdeutet und damit ähnlich argumentiert wie konservative und rechtspopulistische Politiker, die dasselbe mit umgekehrtem Vorzeichen tun. Denn durchgesetzt wurden die bürgerlichen Werte und Rechtsverhältnisse im revolutionären Kampf gegen den Feudaladel und die ihn unterstützende Kirche. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass religiöse Machtstrukturen nicht dauerhaft überwunden wurden und sich in modifizierter, meist abgeschwächter Form den neuen Bedingungen angepasst haben. Eben deshalb und weil in den meisten europäischen Ländern die Trennung von Staat und Religion unvollständig ist, bleibt der Kampf für Säkularisierung auf der Tagesordnung und hat sich nicht nur auf die Zurückdrängung christlicher, kirchlicher Einflusssphären, beispielsweise im schulischen Bereich, auszurichten, sondern auch auf die Abwehr islamischer Begehrlichkeiten.
Die Mythen, die durch aktuelle »Leitkultur«-Diskussionen lanciert werden, hat Jochen Beck sehr anschaulich in seinem Aufsatz »Christlich-­Jüdische Leitkultur oder Humanistisch-Republikanischer Konsens?« zusammengefasst und demontiert. (In MIZ – Materialien und Informationen zur Zeit – Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen, Heft 4/10.) Neben dem bereits erwähnten antiklerikalen Charakter der bürger­lichen Revolution verweist er dabei auf das sogenannte jüdisch-christliche Weltbild, das heutige Leitkulturapostel meist für sich reklamieren – eine Vereinnahmungsstrategie, die besonders perfide ist angesichts des traditionellen christlichen Antijudaismus und der sich durch die Geschichte des Christentums ziehenden Judenverfolgungen und Pogrome. Als historisch schief kennzeichnet Beck auch den Begriff »christliches Abendland«, der vor allem zur Abgrenzung von der »islamischen Welt« benutzt wird. Der Begriff diente ursprünglich zur Unterscheidung vom byzantinisch-orthodoxen »christlichen Morgenland«, während, so Beck, für das maurische Spanien durchaus die Bezeichnung »islamisches Abendland« Sinn gehabt hätte. Er macht auch auf die Absurdität aktueller Zuschreibungen aufmerksam. So hat gewiss die sehr weltlich-auf­geschlossene Religionsgemeinschaft der Aleviten in der Türkei weitaus mehr mit säkularen West­europäern gemeinsam als mit wahhabitisch-fundamentalistischen Muslimen in Saudi-Arabien.
Allerdings lässt sich am Beispiel Becks ebenso verdeutlichen, wie eine säkulare Ideologie eine antiemanzipatorische Richtung nehmen kann. So behauptet er apodiktisch, die Menschenwürde werde »heute nicht mehr mit der Willensfreiheit« begründet, denn diese sei »durch neuere neurophysiologische Befunde obsolet geworden«. Die für Religionen typische Schicksalsgläubigkeit wird hier also mit biologistisch-pseudowissenschaftlicher Begründung reformuliert und die Möglichkeit menschlicher Mündigkeit und Selbstverantwortlichkeit dementiert. Und dies steht auch im Widerspruch zu Becks Aussage an andere Stelle, wo er die »Freiheit des Denkens und die Freiheit an sich« zum ethischen Grundprinzip erhebt. Nicht nur in Religionen, auch im religionskritischen Spektrum findet sich eine Vielzahl höchst problematischer Positionen, deren universalistischer Anspruch zurückzuweisen ist. Das ist aber konkret begründbar und berechtigt nicht zur Relativierung von Säkularismus und Aufklärung, zumal die Kritik von Auffassungen wie der Beckschen konsequent nur auf der Basis »westlicher« Erkenntnistheorie formuliert werden kann.

Unterdrückungsverhältnisse sind zu kritisieren und zu bekämpfen, gleich, wie sie ideologisch legitimiert werden, ob religiös oder areligiös. Während allerdings das Christentum, wenn auch nicht überall, durch Aufklärung und Säkularisierung geschwächt, gezähmt, zu einem gewissen Grad auch »verweltlicht« ist, gilt dies für große Teile islamischer oder islamisch dominierter Länder einschließlich der Diaspora nicht. Der Entrechtung, Demütigung und gewaltsamen Verfolgung von Menschen durch orthodoxen Alltagsislam in Form von beispielsweise Kopftuchzwang, Zwangsverheiratungen, Ehrenmorden oder Homophobie ist kompromisslos entgegenzutreten. Alles andere wäre unterlassene Hilfeleistung. Den grassierenden Antisemitismus und Antiamerikanismus hinzunehmen oder herunterzuspielen, der im politischen Islam im Extremfall die Form des Jihadismus und des eliminatorischen ­Judenhasses annimmt, verbietet das von Adorno formulierte Diktum.
Dieser kategorische Imperativ schließt die Solidarität mit Israel und seiner Selbstverteidigung ebenso ein wie die Bekämpfung der Taliban in Afghanistan und die Notwendigkeit, das Ende des iranischen Mullahregimes herbeizuführen. Wer an solch grundlegenden Standards festhält, darf sich durch die unvermeidlichen Diffamierungen als »Kriegstreiber«, »islamophob« oder »antimuslimischer Rassist« nicht beirren lassen. Manchmal bekommen solche Verdikte ja auch eine unfreiwillige Komik. So wurde mir, als Mitverfasser einer Flugschrift der »Aktion 3. Welt Saar« (Titel: »Mit Islamismus gegen die Aufklärung«) in einer Attac-Mailingliste nicht nur »Islamophobie« vorgeworfen, sondern ich wurde dort, anlässlich einer kritischen Pressemitteilung zu einem Besuch des Dalai Lama in Deutschland, ernsthaft auch der »Lamaphobie« bezichtigt.
Zu den Mindeststandards einer universellen, zivilisatorischen Ethik gehört gleichermaßen die Zurückweisung jeder Form von Fremdenfeindlichkeit, auch da, wo sie als Islamkritik verkleidet auftritt. Dazu gehört die Solidarität mit Flüchtlingen und die Absage an staatliche Abschiebepraxis. Aber vielleicht gehört die Ausgrenzung von Fremden ja zu einer spezifisch deutschen oder europäischen Kultur, der man ihren Eigenwert nicht unter Berufung auf universalistische Postulate absprechen sollte.