Die Twitter-Revolution

Die Revolution wird getwittert

Revolutionen werden noch immer auf der Straße gemacht und nicht auf Twitter. Was sich dort über den Aufstand vernehmen ließ, war trotzdem aufschlussreicher als viele Korrespondentenberichte. Eine Reportage von der Twitter-Timeline #SibiBouzid.

Viele Tunesier haben ihre Profilfotos durch blutbesprengte tunesische Flaggen ersetzt und tauschen sich über das aktuelle Geschehen aus: »Ich war gerade auf der Chedi Kallela! Scheiß Gaskartuschen! Da gibt es Frauen, die Steine schmeißen«, berichtet djdanjertn am Donnerstag auf Twitter. »Lina geht es gut, sie hat eine Tränengasbombe abbekommen, ich hatte sie gerade am Telefon«, twitterte Mira404 aus Paris, die von dort Nachrichten von Verwandten und Freunden aus Tunesien verbreitet.
Andere berichten von Festnahmen. Die Bloggerin Naddo_O erinnert am Donnerstagmorgen besorgt an das Schicksal des seit Tagen inhaftierten Internet-Aktivisten Slim Amamou alias Slim404: »Ich frage mich, ob er weiß, was gerade passiert.« Das Kollektivblog Nawaat teilt auf Twitter einen Link zu einem Video: »Polizei-Scharfschützen töten Zivilisten in Tunis.« Die wackligen Bilder zeigen eine Menschenmenge an einer Straßenecke, ein paar Demonstranten werfen Steine, Schüsse fallen, alle rennen weg, aber einer bleibt liegen.

»Erinnert ihr euch, welche Rolle Twitter während den Riots im Iran spielte?«, schreibt elianchrebor. »Tunesien bewegt die Leute weniger.« In der Liste der »Trending Topics«, die die meistdiskutierten Themen auf Twitter angibt, taucht der Hashtag #SibiBouzid, mit dem die Twitterer ihre Kurznachrichten zur Revolte in Tunesien kennzeichnen, nie auf. Der Hashtag #iranelection stand 2009 dort lange weit oben. Dass die Revolte in Tunesien weniger Resonanz in der Twitter-Welt auslöst als der erfolglose Aufstand im Iran, liegt aber vielleicht schlicht daran, dass die tunesischen Twitterer nicht auf Englisch, sondern auf Französisch oder Arabisch berichten. Dabei ist das, was da in Echtzeit erzählt wird, aufschlussreicher als viele Korrespondentenberichte.
Das oppositionelle Webmagazin Takriz widerspricht etwa den Darstellungen der internationalen Medien, die anfangs so taten, als ginge es allein um die wirtschaftliche Misere des Landes: »Es geht uns nicht um Arbeit, es geht uns nicht um Geld, wir wollen unsere Freiheit zurück.« Die französische Sicht auf die Ereignisse wird auch kritisiert: »Man muss die Franzosen stoppen, die bezeugen, dass man in Tunesien gut lebe – Dein Hotel ist nicht Tunesien!« twittert reda. »Ich verstehe, warum die UMP nicht über Tunesien spricht: Weil jeder getötete tunesische Arbeitslose ein potentieller Illegaler weniger ist«, schreibt Mira404. Derweil darf im französischen Fernsehen der Unesco-Botschafter Ben Alis, Merzi Hadad, die Bilder des Aufstands kommentieren. »Die Neo-Bolschewisten, die sich mit den Fundamentalisten und Islamisten verbündet haben, wollen, dass Tunesien brennt, aber Tunesien wird nicht brennen«, phantasiert er.
Dass hinter dem Aufstand Islamisten stehen, behaupten nicht nur die Anhänger Ben Alis. Auch in den iranischen Staatsmedien wird die Revolte als erfolgreicher Export der islamischen Revolution interpretiert. Laut den meisten Twitteren und Bloggern dagegen spielen Islamisten keine Rolle beim Aufstand. Unter den tunesischen Twitterern, auch unter den arabischsprachigen, findet man kaum religiös aufgeladene Beiträge. Vielleicht haben diejenigen Recht, die verkünden: »Notiz an den Westen: Das ist kein islamischer Aufstand! Vergesst euer monolithisches Stereotyp der arabischen Welt.«

Am Freitag geht dann alles recht schnell. Der seit Tagen inhaftierte Netzaktivist Slim404 twittert früh morgens: »Ich bin frei.« Am Abend meldet AFP, dass die Armee die Kontrolle über den Flughafen Tunis-Chartage übernommen hat. Um halb sieben ist klar: Ben Ali hat das Land verlassen. »Wir haben gewonnen, Ben Ali ist weg«, schreiben Nawaat und andere. »Die Leute sind auf der Straße, manche umarmen und küssen vor Freude die Soldaten«, twittert die al-Jazeera-Journalistin Dima_Khatib. Auch in anderen arabischen Staaten ist die Begeisterung groß. »Die Tunesier sind die Helden der arabischen Welt«, schreibt SultanAlQassemi aus Katar. Der US-ägyptische Twitterer virtualactivism sieht die Tunesier als Vorbild: »Nur 20 Jahre Ben Ali? Mubarak ist 40 Jahre an der Macht. Yalla, wake up.«
Doch einige fragen sich: »War das jetzt eine Revolution oder ein Militärputsch?« Viele sind schon am Freitagabend eher skeptisch als begeistert. ByLasKo schreibt: »Es ist noch nicht vorbei. Noch immer kontrolliert die RCD das Land«.
Am Wochenende wird in vielen Beiträgen auf Facebook oder in verschiedenen Blogs neben der Begeisterung für die gelungene Revolution auch die Angst vor der politischen Ungewissheit thematisiert. »Händler, Unternehmer, Fabrikarbeiter, Angestellte, helft eurem Land, indem ihr zu eurem normalen Leben zurückkehrt! Am Montag beginnt eine neue Ära für unser Land«, schreibt etwa Yahyaoui Mokhtar auf dem Blog »Tunisia Watch«.
Am Montag nach der Regierungsbildung melden sich aber auf dem selben Blog immer mehr kritische Stimmen: »Viele sind nicht zufrieden mit der Tatsache, dass in dieser Regierung acht Minister ernannt wurden, die zum System Ben Ali gehörten«, schreibt Carpe Diem.
Slim404 ist trotzdem guter Dinge. Vor ein paar Tagen war er noch im Knast, am Montag twittert er: »Ich bin Minister für Jugend und Sport:)«. Slim Amamou ist tatsächlich von der Interimsregierung Mohammed Ghannouchis auf diesen Posten berufen worden. Die tunesische Netzcommunity gratuliert Slim404 zu seinem Posten. Anderen kommt das komisch vor. »Slim404 zum Minister zu ernennen ist ein intelligentes Manöver, um uns die bittere Pille dieser neuen Regierung schlucken zu lassen«, twittert Houeida. Und mfatta7 fragt ihn: »Warum hast du einen Posten in dieser nicht gewählten Farce-Regierung angenommen?« Auf der Facebook-Seite des Blogs »Tunisia Watch« wird die Antwort des Ministers zitiert: »Weil es meine Pflicht ist, ich will am Wideraufbau teilnehmen (…) ich glaube an den Dialog.«