Charles A. Small im Gespräch über den deutschen Streit um Antisemitismus und Islamfeindschaft

»Es gibt einen blinden Fleck in der deutschen Forschung«

Charles A. Small ist Gründer und Leiter der Initiative für das interdisziplinäre Studium des Antisemitismus an der Universität Yale im US-Bundesstaat Connecticut. Als sie 2006 ins Leben gerufen wurde, war die am Institut für Sozial- und Politikwissenschaften beheimatete Initiative die erste universitäre Einrichtung in Nordamerika mit diesem Studiengebiet. Im August vorigen Jahres wurde Small zum Präsidenten der Internationalen Vereinigung für Antisemitismus-Studien gewählt.

Folgen Sie gegenwärtigen Debatten über Antisemitismus und Islamfeindschaft in Deutschland?
Es gab zwei Ereignisse, die ich sehr alarmierend fand. Das erste war die einstimmige Verurteilung Israels für den Angriff auf die sogenannte Free-Gaza-Flottille, noch bevor die Fakten überhaupt aufgeklärt waren. Das war sehr beunruhigend. Es gab keine einzige Gegenstimme im Bundestag. Heute wissen wir, dass Gewalt geplant war, dass die Leute auf dem Schiff Lieder der Vernichtung und des Aufrufs zum Genozid sangen, als sie von der Türkei nach Gaza in See stachen. Wo ist der kritische Diskurs in diesem Land? Der Bundestag schuldet der israelischen Regierung eine Entschuldigung.
Und das zweite?
Und dann gibt es noch Thilo Sarrazin und den Erfolg seines Buches, in dem er antisemitische, muslim- und fremdenfeindliche Rhetorik gebraucht. Das ist ein gefährliches Zeichen.
Wie interpretieren Sie diese Debatten?
Als Außenseiter scheint mir, dass dieser aktuelle Vergleich von Antisemitismus und dem, was man inzwischen »Islamophobie« nennt – ich mag den Begriff eigentlich nicht –, vor allem ein falscher Vergleich ist. Ziel sollte nicht sein, Muslim- und Judenfeindschaft zu vergleichen oder gar gegeneinander auszuspielen. Dass deutsche Gelehrte diese falsche Dichotomie zwischen unterschiedlichen Narrativen aufmachen, ist verstörend. Die eigentliche Frage ist doch: Hat die deutsche Gesellschaft gelernt, mit Antisemitismus umzugehen? Haben die Deutschen gelernt, Antisemitismus und andere Formen des Rassismus, inklusive antimuslimischen Rassismus, zu erkennen und damit fertig zu werden?
Arbeiten Sie mit dem Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung zusammen?
Ich habe das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung kontaktiert, weil es nicht wirklich in der Erforschung von gegenwärtigem Antisemitismus, insbesondere in der islamischen Welt und in Hinsicht auf das iranische Regime, engagiert ist. Ich habe ein Forschungsprojekt vorgeschlagen, wir hatten Diskussionen per E-Mail. Sie schrieben zurück, ob ich irgend­eine besondere Herangehensweise verfolgen würde, und ich antwortete: »Nein, wir sind ein interdisziplinäres Zentrum, unsere Herangehensweise ist es, ein Projekt gemeinsam zu entwickeln.« Das Ganze zog sich viele Monate lang hin. Es wurde nie etwas daraus.
Warum?
Ich denke, es gibt da einen blinden Fleck beim Berliner ZfA und in der gesamten deutschen Forschung, einen Unwillen, die Verbindung zwischen islamistischem Gedankengut und der Politik zu untersuchen. Die deutsche Forschung will das einfach nicht angehen, und das ist tragisch. Ich kenne nur wenige Ausnahmen, etwa Matthias Küntzel.
Welchen Themen sollte die deutsche Antisemitismusforschung größere Aufmerksamkeit widmen?
Es gibt eine genozidale soziale Bewegung, die an Stärke gewinnt. Das iranische Regime, Hamas, Hizbollah und al-Qaida bedienen sich ständig Topoi des europäischen Antisemitismus: Juden und Israelis als Kindermörder und so weiter. Warum gibt es in Deutschland keine seriöse wissenschaftliche Recherche, die sich dieses Themas annimmt? Wie kann man Antisemitismus erforschen, ohne dies zu tun? Ich habe eine Sammlung von genozidalen Äußerungen aus dem Iran allein aus dem letzten Jahr. Warum interessiert das die deutsche Forschung nicht? Warum schweigt sie dazu?
Können Sie sich eine Zusammenarbeit mit diesen Forschern in der Zukunft vorstellen?
Ich denke, angesichts dieser genozidalen sozialen Bewegung müssen wir das sogar tun. Wenn irgendwer diese Fragen ernsthaft angehen will, wäre ich selbstverständlich bereit, jegliche Art von Forschung zu unterstützen. Wer weiß, was die Zukunft bringt. Aber es gibt auch Probleme: Eine prominente deutsche Antisemitismusforscherin hat mir einmal ins Gesicht gesagt, dass mein Institut Teil einer »Lobby« sei. Ich begann, ihr ganz ruhig zu erklären, dass wir nicht Teil einer Lobby seien, als mir plötzlich klar wurde, was sie da gesagt hatte. Ich bezweifle, dass man jemandem von einem Institut für Postcolonial Studies vorwerfen würde, Teil einer »Dritte-Welt-Lobby« oder »Palästinenserlobby« zu sein.
Aber es liegt doch auf der Hand, dass in solchen Studienfeldern ein gewisser Grad an Politisierung der Forschung vorhanden ist. Gibt es Forscher, die sich mit dem Einfluss islamischer Pressure Groups auseinandersetzen?
Ich denke, diejenigen, die behaupten, einige Leute hätten eine Agenda und andere hätten keine, sollten sich einmal mit dem Einfluss der Petrodollars beschäftigen. Wer investiert in die Universitäten selbst, etwa aus den Golfstaaten oder aus Saudi-Arabien? Wieviel Geld stecken sie da hinein, wer wird gefördert und warum? Gerald Steinberg ist Professor an der israelischen Bar Ilan University. Er leitet eine Gruppe namens »NGO Monitor«. Ich glaube, das ist die einzige seriöse Forschungsinstitution, welche die Rhetorik derer analysiert, die Israel nicht in irgendeiner kons­truktiven oder legitimen Weise kritisieren, sondern die eindeutig gewisse Grenzen überschreiten. Und sie untersucht, wer solche Organisationen finanziert. Zum Beispiel hat die Gruppe herausgefunden, dass Human Rights Watch ein großes Fundraising-Event in Saudi-Arabien veranstaltet hat.
Wie führen Sie Ihre Studenten an das Problem des Islamismus heran?
Als Student war ich sehr engagiert in der Anti-Apartheid-Bewegung in Kanada. Ich war Vorsitzender des ANC-Solidaritätskomitees. Ich sage meinen Studenten heute immer, sie sollen einmal die Charta des ANC, in der von gleichen Rechten für alle kulturellen und sexuellen Minderheiten die Rede ist, mit der Charta der Hamas vergleichen.
Manche Linke dürften sich selbst durch solche Vergleiche nicht eines Besseren belehren lassen.
Es gibt eine entstehende rot-grüne Allianz zwischen der Linken und dem politischen Islam, darunter sind sogar Leute wie Judith Butler, die behauptet, stolz auf ihre jüdischen Wurzeln zu sein. Sie, eine bekannte Intellektuelle, Feministin und Philosophin, hat mehrfach – das ist kein Einzelfall, wie manchmal behauptet wird – gesagt, dass Hamas und Hizbollah als Teil einer globalen, progressiven Linken gesehen werden müssten. Und viele in der Linken und der feministischen Bewegung stimmen ihr zu. Es ist völlig absurd. Als Jude würde ich von einem islamistischen Terroristen nur einmal erschossen werden, als lesbische Feministin, Amerikanerin und Jüdin bekäme sie gleich vier Kugeln.
Judith Butler ist neben Norman Finkelstein oder Noam Chomsky kein Einzelfall in dieser Hinsicht. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Das sind für mich – und ich wähle meine Worte mit Bedacht – intellektuelle Kollaborateure. Wenn sie sagen, Israel sei ein »Apartheidsstaat«, dann zielt das darauf, Israel und alle, die Israels Existenzrecht verteidigen, zu delegitimieren. Ein drittklassiger Intellektueller wie Norman Finkelstein, aber auch Judith Butler sind keine wissenschaft­lichen Experten für den Nahen Osten. Butler mag eine großartige Philosophin sein, eine Expertin für Rhetorik, Gender- und Queerstudies, aber sie hat nie irgendwelche seriösen Forschungen zum Nahen Osten betrieben. Aber ihre Stimme wird nicht in Frage gestellt, sie ist sogar zu einer Art Ikone geworden. Ich glaube, es gibt Intellektuelle, die im Wissenschaftsbetrieb vorankommen, weil sie Israel angreifen. Stell dir vor, du stellst dich hinter eine reaktionäre soziale Bewegung, die gegen alles ist, woran wir im Westen glauben, und plötzlich bekommst du viel mehr Aufmerksamkeit als durch alles, was du vorher je geschrieben und publiziert hast.
Wie folgenschwer ist diese Entwicklung?
Als Intellektueller und Gelehrter war ich schockiert, als ich zum ersten Mal mit den reaktionären Bewegungen Hizbollah und Hamas sowie dem iranischen Regime konfrontiert wurde, weil sie offen davon reden, die Juden auszurotten – nur wenige Jahrzehnte, nachdem sie in Europa vernichtet worden sind. Und ich war mehr als nur ein wenig schockiert über das Schweigen der Institutionen, von denen man eigentlich erwartet, dass sie aus den Schrecken der Shoa gelernt haben. Oft denken Personen an genau diesen Institutionen, dass sie eine Lizenz haben, Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren – und jeden, der mit Israel in Verbindung gebracht werden kann, inklusive junger jüdischer Studenten auf dem Campus, die sich zunehmend nicht nur verbal, sondern auch physisch bedroht fühlen. Die Atmosphäre ändert sich gerade wirklich.