Ein Besuch beim Kälteschutz in Offenburg

Nur für Hartgesottene

Rein ins Warme – das ist für Obdachlose im Winter lebenswichtig. Ein Besuch beim Kälteschutz in Offenburg.

Ein früh einsetzender, harter Winter wie der diesjährige mag Skifahrer und Snowboarder freuen – für Obdachlose ist er gefährlich, wenn nicht sogar tödlich. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) sind in diesem Winter bisher drei Obdachlose erfroren. Schätzungen der BAGW zufolge gab es in Deutschland im Jahr 2008 ungefähr 230 000 Wohnungslose, d.h. Menschen, die nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügten, etwa 20 000 von ihnen lebten ohne jede Unterkunft auf der Straße. Die deutschen Behörden führen keine Statistiken zur Zahl der Wohnungslosen.

Das St. Ursulaheim in Offenburg ist die Anlaufstelle für Obdachlose im Ortenaukreis, dem größten Landkreis in Baden-Württemberg. Vor allem bei klirrender Kälte und gesundheitlichen Problemen ist das Heim oftmals die letzte Rettung. Denn wer auf der Straße lebt, der zahlt einen hohen Preis: Soziale Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit und gesundheitliche Probleme gehören dazu. »Wer drei Monate auf der Straße lebt, ist nicht mehr gesund«, sagt Aki Kiokpasoglou, Sozialpädagoge, Streetworker und stellvertretender Heimleiter. Die meisten Obdachlosen leiden unter Mangelernährung, Rheuma, Hauterkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparats, psychischen Krankheiten oder Suchtproblemen leiden, so ist unter ihnen zum Beispiel die Anzahl der psychisch Erkrankten fünfmal höher als beim Rest der Bevölkerung, ein Drittel hat zudem erhebliche Alkoholprobleme. Das sind schwierige Voraussetzungen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Kiokpasoglou sucht die Menschen auch an Ort und Stelle auf, geht zu einschlägigen Treffpunkten, versucht mit den Leuten ins Gespräch zu kommen und vermittelt zwischen Anwohnern und Betroffenen. Nicht alle Obdachlosen wollen Hilfe annehmen – viele haben schlechte Erfahrungen gemacht, der Streetworker muss häufig Überzeugungsarbeit leisten. Vor kurzem hat er einen Gehörlosen von der Straße geholt, der auf dem kalten Boden vor einem großen Kaufhaus saß. »Stellen Sie sich vor, was das bedeutet«, sagt Kiokpasoglou, »obdachlos und auch noch gehörlos. Das ist eine fatale Kombination.«
Während der Straßenarbeit hat er auch den 52jährigen Klaus gefunden, der sich derzeit im Ursulaheim im Kälteschutz befindet und dessen Geschichte als typisch gelten kann. Seine Augenlider sind geschwollen, die Haut ist fleckig. »Ich habe ein großes Problem mit Alkohol«, sagt er, »ich habe damals deswegen erst eine Abmahnung bekommen und dann die Arbeit endgültig verloren. Als diese weg war, waren auch Wohnung und Freunde weg. Seitdem schlage ich mich durch.« Als nächstes will Klaus wieder einen Alkoholentzug in einer Klinik wagen: »Sonst stürze ich ins Nichts. Vom Bier geht es nämlich zum Wein und dann zum Schnaps.« Dass er im Ursulaheim im Rahmen des Kälteschutzes übernachten kann, ist wenigstens ein kleiner Trost: »Hier ist es warm und man kann mit den Leuten reden. Mir bedeutet das viel. Im Winter ist es nämlich echt schlecht.«

Typisch ist der Fall des Mannes, weil der Obdachlosigkeit zumeist die Arbeitslosigkeit vorausgeht, die wiederum den Verlust der Wohnung und von sozialen Kontakten nach sich ziehen kann. »Ein wichtiger Punkt sind auch die Hartz-IV-Reformen«, sagt Kiokpasoglou, »dadurch haben viele junge Menschen miserable Bildungschancen, was den Weg in den sozialen Abstieg ebnen kann.« So hat der stellvertretende Heimleiter eine steigende Zahl von Obdachlosen unter 25 Jahren beobachtet. Letztlich sei Obdachlosigkeit eine rigorose Form von Ausschluss: vom Erwerbsleben, vom sozialen Leben und von der Gesundheitsfürsorge.
Eine andere Geschichte kann der 54jährige Joachim erzählen, der mittlerweile im Ursulaheim tätig ist: »Ich habe damals meine Frau verlassen und hatte einfach die Schnauze voll. Ich habe dann beschlossen, mir mal Europa anzuschauen.« Acht Jahre lang war er auf den Straßen im In- und Ausland unterwegs. Dass er an Epilepsie leidet, machte ihm dank der Medikamente nicht zu schaffen. Doch schließlich fing er sich eine Grippe und eine Lungenentzündung ein und landete im Ursulaheim. Dort richtete man ihn wieder auf. Nun gehört Joachim zur Belegschaft im Kälteschutz. Er weiß, dass beileibe nicht alle Obdachlosen das Angebot in Anspruch nehmen: »Die Hartgesottenen sind gut mit Schlafsack und Isomatte ausgerüstet und übernachten auch im tiefsten Winter unter der Brücke. Sie trauen niemandem.«
Das Ursulaheim hat dabei ein Modellkonzept entwickelt, das über die Akuthilfe hinausgeht. Im Jahresdurchschnitt ist die Einrichtung zu 120 Prozent ausgelastet, also deutlich überbelegt. Vor allem wegen der eisigen Temperaturen der vergangenen Wochen bedurfte eine zunehmende Zahl Hilfesuchender des Kälteschutzes. Neben ambulanten Angeboten wie Übernachtungen zwischen 20 und acht Uhr bietet das Heim auch stationäre Hilfe an. In der Fachberatung ist es möglich, rechtliche Fragen zu klären und sich den ALG-II-Tagessatz von knapp zwölf Euro auszahlen zu lassen. Daneben unterhält das Heim in der Stadt eine Wärmestube und eine sogenannte Pflasterstube, in der Ärzte und eine Krankenschwester ehrenamtlich Menschen behandeln.
Etwa 40 stationäre Plätze stehen für Obdachlose offen, das Ziel aller Maßnahmen ist die Wiedereingliederung. Es gibt Arbeitsprojekte wie eine Schreinerei oder ein Secondhand-Kaufhaus, um den Obdachlosen den Übergang in ein geregeltes Leben zu erleichtern. Im Heim hat Partizipation einen hohen Stellenwert: Die Hausordnung wurde von Bewohnern festgelegt, in allen Gremien sitzen auch ehemalige Betroffene. Etwa ein Drittel der 40 Mitarbeiter war selbst obdachlos. Selbsthilfe und Selbstorganisation sind gefragt. »Wir möchten die Menschen auf Augenhöhe behandeln«, betont Kiokpasoglou.

Was der Belegschaft Sorgen bereitet, ist die wachsende Zahl von Frauen unter den Hilfesuchenden. War Obdachlosigkeit früher ein klassisches Männerproblem, so ist der Anteil der Frauen mittlerweile auf 25 Prozent angestiegen. Leben sie auf der Straße, sind damit häufig spezifische Probleme verbunden. Will eine Obdachlose etwa bei einem Bekannten übernachten, so steht sie häufig in einem materiellen und sexuellen Abhängigkeitsverhältnis. Kommt es zu Gewalt, können sich Frauen häufig schlechter zur Wehr setzen. Männer landen statistisch gesehen zwar schneller auf der Straße, kommen dort mit den brutalen Gegebenheiten aber besser zurecht.
Um weibliche Betroffene kümmert sich im Ursulaheim eine Frauenbeauftragte. In den ohnehin beengten Räumlichkeiten führt der steigende Frauenanteil zu Platzproblemen, da die Geschlechter bei Übernachtungen getrennt werden müssen. Dies kommt zu den immer wieder auflodernden Konflikten zwischen den unterschiedlichen Charakteren hinzu. In Zeiten der Wirtschaftskrise mehr Geld von der Politik fordern? »Fast aussichtslos«, sagt Kiokpasoglou, »an solchen Projekten wird zuerst gespart.«