Thomas Schroedter erklärt im Gespräch, wie polyamouröse Beziehungen funktionieren

»Wer arm ist, kann sich Polyamorie nicht leisten«

Der neue Film von Tom Tykwer (»Drei«) beschert dem Thema offene Beziehung eine neue Öffentlichkeit. Ist Polyamorie die sexuelle Revolution der weißen Bionade-Mittelschicht? Der Soziologe Thomas Schroedter hat Vorläufer des Beziehungsmodells in verschiedenen Kulturen und Epochen entdeckt und glaubt dennoch, dass es die Privilegierten sind, die polyamourös leben werden.

Sie haben gemeinsam mit Christina Vetter ein Buch zum Thema verfasst. Wieso nennen Sie es »Polyamory – eine Erinnerung«? Handelt es sich bei Polyamorie nicht eher um ein neueres Phänomen?
Der Begriff »Erinnerung« soll deutlich machen, dass Polyamorie historisch nichts Neues ist, obwohl der Begriff erst in den Neunzigern in den USA entstanden ist. Der Fakt, den dieser Begriff beschreibt, ist historisch immer wieder vorzufinden.
Wo zum Beispiel?
Es gab immer Menschen, die polyamourös gelebt haben. Jean-Paul Sartre und Simone de ­Beauvoir werden da immer genannt, als ein Paar, das so gelebt hat …
… aber nicht unbedingt mit Happy End. Die Beauvoir war dabei ja nicht so glücklich.
Nein. Ich würde auch sagen: Polyamorie verspricht kein Happy End. Das ist eine Form von Beziehung, die ihre Schwierigkeiten hat wie jede andere Form von Beziehung auch. In der Poly-Szene wird oft, bewusst oder unbewusst, die Haltung eingenommen, dass Poly-Beziehungen etwas Besseres seien als monogame Beziehungen. Das würden wir, meine Co-Autorin und ich, aber nicht sagen.
Es hat in der anarchistischen Bewegung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder Menschen gegeben, die polyamourös gelebt haben, die das aber nicht so genannt haben. Emma Goldman zum Beispiel war eine Zeit lang in zwei Männer verliebt und hat das den beiden nicht verheimlicht.
Historisch weiter zurückgehend hat es immer Gesellschaften gegeben, wo die Normalität nicht die monogame Ehe war. Das ist ja auch eher eine christliche Vorstellung, die sicherlich, wie vieles im Christentum, im antiken Griechenland ihren Ursprung hat. Vor allem in Athen war sehr klar, dass beispielsweise die Kinder Privatbesitz des Vaters waren. Er konnte über Leben und Tod des Kindes entscheiden, während es in Sparta eine staatliche Einrichtung gab, die darüber entschied, ob das Kind als Spartaner aufgezogen oder in eine Schlucht geworfen wurde. Beides ist natürlich sehr brutal, aber da zeichnet sich ab, inwieweit dieser Privatbesitz des Mannes an Kindern und oft auch der Frau auch noch eine Grundlage unserer Gesellschaft ist.
Welche Beispiele für polyamouröse Beziehungen haben Sie sonst noch in anderen Kulturen gefunden?
Es gibt nur wenige Darstellungen solcher Beziehungen. Aber feministische Ethnographinnen haben etwa bei den Khasi im Himalaya geforscht, einem Volk, das noch mutterrechtlich organisiert ist. Dort gibt es eine Form der Besuchsehe, die besagt, dass Mann und Frau nicht zusammenwohnen und dass die Frau im Lauf der Zeit verschiedene Männer zu sich kommen lassen kann. Die Kinder wachsen in der Familie der Frau auf. Diese Gesellschaften gelten als emotional sehr stabil. Aber aktuelle Darstellungen über weitere Fälle gibt es nicht, nur von Forschenden an der Wende zum 20. Jahrhundert. Das ist noch ein breites Forschungsgebiet.
Inwieweit geht es bei Polyamorie um die Umwertung bürgerlicher Begriffe wie Liebe und Treue?
Große Teile der Polyamorie-Bewegung hängen den bürgerlichen Vorstellungen von romantischer Liebe nach.
Gilt das weltweit?
Ja. Diese Bewegung gibt es aber vor allem im globalen Norden und in Australien. Das ist eine postmodern geprägte Bewegung, die dem Bildungsbürgertum zuzuordnen ist. Deshalb verschafft sie sich auch großes Gehör, sie hat die Mittel dazu: Internet, Printmedien oder auch mal einen Film.
Dieses Motiv der romantischen Liebe ist nun eine Umkehrung der Freien Liebe, die wir aus den Sechzigern und Siebzigern kennen, wo die befreite Sexualität im Vordergrund stand. Bei Polyamorie wird das Sexuelle häufig eher ausgeklammert, was wir übrigens kritisieren. Ein großer Teil der Polyamorie-Bewegung sagt: Es geht um Liebe, wie wir sie von Goethe, Leibniz und anderen kennen. Aber ihre Kritik ist: Die klassische romantische Liebe war nur auf eine Person bezogen – wir können das aber auch als ein Kollektiv leben. Es findet eine Umdeutung bürgerlicher Werte statt, denn der Blick wird zwar erweitert, bleibt aber bei einer Form von Liebe stehen, die stark von romantischen Vorstellungen geprägt ist und weniger von der Pragmatik anderer Gesellschaften, wo Ehe nichts mit Liebe zu tun hat.
Wir weisen in unserem Buch darauf hin, dass im Mittelalter sogar diskutiert wurde, dass in der Ehe nicht geliebt werden könne, da sie auf einem Vertrag beruhe, während in der Liebe alles freiwillig, uneigennützig gemacht werde. Während heute die Liebe als Grundlage der Ehe betrachtet wird, wurde damals oft das Gegenteil behauptet: Geliebt werde bekanntermaßen oft außerhalb der Ehe, und da nur ein einziger Mensch geliebt werden könne, könne dann in der Ehe keine Liebe herrschen.
In der Epoche der Aufklärung war oft von rationaler Liebe die Rede: einem Kompromiss zwischen Pragmatismus und Verliebtsein. Vor allem der göttliche Aspekt von Liebe wurde da auseinandergenommen. Als Gegenbewegung hat die Romantik gesagt: Liebe kann man nicht erklären, das steckt, wenn es schon nicht von Gott gegeben ist, in den Menschen, kommt irgendwann, und dann kann man ewig zusammenleben. Sie hat die Verliebtheit als Grundlage der Ehe überhaupt erst eingeführt, und diese Sichtweise wird in der Poly-Bewegung nicht aufgegeben.
Es gibt aber auch einen politischen Teil. Besonders für die Queer-Szene ist Polyamorie Gesellschaftskritik, denn sie sagt, wir müssen alle Beziehungsgeflechte in Frage stellen – und zwar auch durch unsere Praxis. Da geht es um kollektive Lebensformen, das verschränkt sich dann mit Gedanken zu alternativer Besitzverwaltung und Produktion.
Sie sprechen von »Werten und Glaubenssätzen« dieser seit den Neunzigern existierenden Polyamorie-Bewegung. Was meinen Sie damit?
»Glaubenssätze« bezieht sich in unserem Buch darauf, dass es einen ganzen Zweig dieser ­Bewegung gibt, der spirituell ausgerichtet ist. Ich würde aber eher von Werten, Wertskalen sprechen, wo die wichtigsten Grundsätze Kommunikationsbereitschaft und Ehrlichkeit sind. Daraus leiten sich andere ab: etwa die eigene Identität zu behalten, die andere Person zu ­respektieren. Stark ist auch die Abgrenzung von Promiskuität, von Sachen wie Fremdgehen.
Zwischen Werten und Glaubenssätzen ist ja ein Unterschied. Was gibt es für Extremformen?
In den USA gibt es regelrechte Sekten. Diese, sagen wir, Kommunen haben richtige Glaubenssätze. Diese Teile der Polyamorie-Bewegung kritisiere ich auch. Sie speisen sich aus dem, was Paulus Nächstenliebe genannt hat, und sagen: Im Christentum sind vor Gott alle Menschen gleich, und ich muss meinen Nächsten lieben wie mich selbst – das kann ich nur in einer ­offenen Beziehung verwirklichen; wenn ich zur Liebe mit allen Menschen bereit bin, mit denen ich zusammenwohne.
Ich kritisiere daran, dass dabei von gesellschaftlichen Machtverhältnissen völlig abgesehen wird und eine naive Verklärung mensch­licher Beziehungen stattfindet. In diesen Gemeinschaften entstehen auch sehr oft wieder vertikale Hierarchien, die der Polyamorie-Gedanke eigentlich überwinden will.
Kommt es vor, dass sich Menschen explizit aus dem christlichen Gedanken der Nächstenliebe für Polyamorie entscheiden?
Ja, das hat es aber im Christentum immer gegeben. Die Katharer zum Beispiel, eine widerständige christliche Bewegung im Mittelalter in Südfrankreich, haben sich gegen diese Moral­vorstellungen des Christentums bekannt. Auch die Wiedertäufer in Münster haben mit diesen Strukturen von Monogamie gebrochen. Die hatten übrigens, das ist kaum bekannt, die sehr starke Unterstützung einer reinen Frauenarmee aus den Niederlanden, die mit ein paar hundert Frauen in den Kampf eingriff. Widerstand gegen die monogame, patriarchale Familie hat es also gerade in der christlichen Geschichte immer wieder gegeben.
In der Bewegung gibt es Netzwerke und Treffen. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Sehr viel wird über das Internet organisiert, auch die halböffentlichen Treffen. Da kommen dann auch mal Leute, die sich nur über Polyamorie informieren wollen.
Wie laufen solche Treffen ab?
Ich war noch nie auf einem. Aber sie dauern meistens ein Wochenende, und mal gibt es Workshops zum Thema, mal informellen Austausch.
Gibt es einen Interessenverband oder feste Strukturen?
Nein, es gibt keine durchformalisierten Organisationen. Eine Netzwerkstruktur passt auch mehr zu Polyamorie. Aber ich bin sicher: Irgendwann wird es einen Verband geben – und zwar zuerst in Deutschland (lacht).
Welches gesellschaftliche Grundübel kann die Polyamorie denn bekämpfen?
Wir betrachten Babylon als Wiege dieser Kultur. Von dort stammen die ersten Zeugnisse sowohl von Beziehungen, als auch, ich sag mal: Romantik. Damals, im Zweistromland, 3 000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, wurde die Grundlage unseres heutigen Alphabets entwickelt. Seitdem gibt es verständliche Zeugnisse sowohl von Ehe, also der rechtlichen Seite der Beziehung, als auch, etwas später, von Liebesgedichten. Das sind die beiden hauptsächlichen Forschungsgrundlagen. Vor allem an der rechtlichen Seite wird deutlich, dass es um Arbeitsteilung ging. Die Frau war für die Reproduktionsarbeit zuständig, also den Haushalt, und der Mann für die Produktion, also etwa Land zu bearbeiten. Ein anderer Aspekt ist, dass dort Privatbesitz bestand und sich somit die Frage stellte, wie er vererbt wird. Von der Mutter zur Tochter, also matrilinear, oder patrilinear vom Vater zum Sohn – es gibt aber auch Mischformen. Bei matrilinearer Vererbung ist es relativ einfach, denn jede Frau weiß, welche Tochter von ihr ist. Wenn es patrilinear ist, dann muss der Mann sicherstellen, dass es auch sein Sohn ist, der erbt. Das ging historisch nur so, dass der Frau verboten wurde, mit anderen Männern zu schlafen. Das ist einer der wesentlichen Mechanismen des Patriarchats. Schon in den Gesetzestafeln des Hammurabi, die zu den ältesten zählen, die wir kennen, ist das genau geregelt. Der Ehebruch der Frau wird dort als das schwerste Vergehen betrachtet und mit dem Tod bestraft. Dem Mann haben im gleichen Fall hingegen meistens kaum Strafen gedroht. Das Patriarchat ist ein wesentlicher Grund für die Monogamie, die sich dann auch in Europa als herrschende Form der Beziehung durchgesetzt hat.
Sie behaupten, dass sich einige Menschen Polyamorie leisten können, andere nicht.
Es gibt Anzeichen dafür, dass Polyamorie in Zukunft eher eine Beziehungsform von Privilegierten sein wird: Menschen, die Zeit haben, was eine Voraussetzung für den Willen zur Auseinandersetzung, für Kommunikation ist. Wer arm an Bildung, Zeit und materiellem Wohlstand ist, kann sich keine polyamouröse Beziehung leisten. Und verarmt in der Beziehung wie auch sonst – ökonomisch und kulturell. Ich fürchte eine Ausbeutung und Verwahrlosung zwischenmenschlicher Beziehungen. Wenige andere haben dann Polyamorie vielleicht in der Gated Community.
Sie befürworten also Polyamorie. Sie soll allen möglich sein.
Ja, aber nicht nur Polyamorie. Die Utopie ist, dass die gewählte Beziehungsform – also die Ebenen Sexualität und Lebensform – sich hierarchiefrei entwickeln kann. Denn es gibt diese Hierarchie. Wer im Vorstellungsgespräch eine polyamouröse Beziehung angibt, muss mit Diskriminierung rechnen.
Warum glauben Sie das?
Vielleicht, weil ich aus dem katholischen Paderborn komme, wo das noch mal eine andere Rolle spielt. Ich kann das nicht quantitativ-empirisch belegen, aber wer etwa bei kirchlichen Trägern arbeitet, hätte sicherlich ein Problem. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, zusammen mit anderen Erwachsenen und Kindern eine Wohnung zu finden. In Berlin ist das sicherlich eine andere Geschichte.
Praktizieren Sie Polyamorie?
Zurzeit nicht.
Welche Erfahrungen machen Kinder mit ­polyamourösen Beziehungen?
Kinder sind schon im Kindergarten sehr sensibel in Bezug auf die Verhältnisse, aus denen andere Kinder kommen. Es gibt dort schon einen sehr starken normativen Druck. Das merken ja meistens selbst allein erziehende Frauen. Kinder, wo Vater und Mutter da sind, halten sich für etwas Besseres als Kinder von Alleinerziehenden. Da gibt es sicherlich Unterschiede zwischen Metropolen und Provinz, aber es gibt einen riesigen Druck auf Kinder, von denen etwa der Vater nicht bekannt ist. Die wollen dann unheimlich schnell wissen: Wo ist der, was macht der? Ich glaube, viele Eltern heiraten nur, damit die Kinder nicht unehelich ­aufwachsen. In unseren Gesprächen mit polyamourös Lebenden kam immer wieder der Hinweis, dass die Kinder deswegen Schwierigkeiten haben. Sie werden gedisst. Auch Lehrkräfte in der Schule sind oft sehr unsensibel.
Aber was bedeutet denn das offene Beziehungsmodell selbst für das Kind?
Die Beziehung an sich wäre für Kinder eine Bereicherung, völlig klar. Vor allem, wenn es mehrere Kinder sind – bei Einzelkindern gibt es ja immer eigene Probleme. Der Austausch mit ungefähr Gleichaltrigen ist immer eine Bereicherung. Eine Großfamilie, oder Kommune, oder Clan, wie auch immer wir es nennen wollen, wo jedenfalls mehrere Kinder sind, ist für die psychosozial immer von Vorteil – wenn die polyamourösen Beziehungen funktionieren.

Thomas Schroedter/Christina Vetter: Polyamory – eine Erinnerung. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2010, 168 Seiten, 10 Euro