Die Sexaffären von Silvio Berlusconi. Ein Porträt des Regimes

Ein Porträt des Regimes

Seit knapp zwei Jahren beherrschen die Skandalgeschichten über die Sexaffären von Silvio Berlusconi die italienische Politik und die Berichterstattung der Medien. Nun beschäftigt sich auch die Justiz damit und hat ein Ermittlungsverfahren gegen den italienischen Premierminister wegen Amtsmissbrauch und Förderung der Prostitution eingeleitet. Eine feministische Analyse der gesellschafts- und geschlechterpolitischen Bedeutung von Berlusconis vermeintlich privaten Sexaffären.

Prostitution mit Minderjährigen und schwerer Amtsmissbrauch sind keine Kavaliersdelikte, auch nicht für den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Dass die Mailänder Staatsanwaltschaft den Antrag auf Durchführung eines beschleunigten Verfahrens gestellt hat, bedeutet, dass ihr stichhaltige Beweise vorliegen müssen. Damit wird wohl ein gerichtliches Urteil die lange Reihe sogenannter Sexskandale krönen, die von Berlusconis Ex-Ehefrau, Veronica Lario, von Anfang an treffend als »schamloser Mist im Namen der politischen Macht« beschrieben worden waren. Dieser seit nunmehr 21 Monaten andauernde »Mist« enthält alle notwendigen Elemente für ein politisches Urteil über Berlusconis Regime, auch unabhängig vom formalen Nachweis einer Straftat.

Jeder andere Politiker würde angesichts des offensichtlichen Tatbestands zurücktreten, würde sich Zurückhaltung auferlegen, leisere Töne anstimmen. Nicht so Berlusconi und sein Hofstaat. Als im vergangenen Herbst bekannt wurde, der Ministerpräsident habe in der Nacht zum 27. Mai höchstpersönlich auf der Mailänder Präfektur angerufen, damit die wegen Diebstahls festgenommene minderjährige Marokkanerin Karima al-Mahroug, genannt »Ruby«, freikomme, weil sie angeblich die »Nichte« des ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak sei, hatte Berlusconi den Vorfall zunächst geleugnet, sich dann aber stolz dazu bekannt: »Ich habe es aus Gutmütigkeit getan«, denn: »Ich liebe die Frauen«, und: »Es ist besser, Frauen zu lieben, als schwul zu sein.« Heute tönt Berlusconi, er werde sich gegen das erfundene Verbrechen »privates Abendessen im Hause des Ministerpräsidenten« zu verteidigen wissen.
Seine Vertrauensmänner organisieren sich derweil in zwei Armeen, ihre Aufstellung erfolgt nach einem erprobten Muster: Das politische Heer beschuldigt die Justiz eines geplanten Komplotts zur Destabilisierung der Regierung. Das juristische Heer der Anwälte Berlusconis sucht nach einem Vorwand, um der Mailänder Staatsanwaltschaft die Zuständigkeit für das Untersuchungsverfahren zu entziehen. Sie appellieren an das Recht des Ministerpräsidenten, sich bei »gerechtfertigter Abwesenheit« den richterlichen Vorladungen zu entziehen. Allerdings wurde dieses von Berlusconi diktierte Immunitätsgesetz zu Jahresbeginn vom Verfassungsgericht teilweise aufgehoben.
Gaetano Quagliariello, Vizefraktionsvorsitzender von Berlusconis Partei »Volk der Freiheit« im Senat, ist der Verbindungsmann zwischen den beiden Gruppen. In Hinblick auf die vermeintliche Beweislage ließ er wissen: »Ich warte darauf, die Kondome zu sehen.« Es ist nicht auszuschließen, dass es der juristischen Kampftruppe gelingt, auch dieses Ermittlungsverfahren gegen den Regierungschef im Nichts verpuffen zu lassen.

Entscheidend sind in dieser Angelegenheit allerdings nicht nur die juristischen Konsequenzen. Dank des Schriftstücks der Mailänder Präfektur, das den nächtlichen Anruf des Ministerpräsidenten unwiderlegbar als Tatsache protokollierte, zerbrach im vorigen Herbst unversehens, aber definitiv die Fiktion, die Silvio Berlusconi 20 Jahre lang mit großem Erfolg produziert, genährt und interpretiert hat. In Wahrheit hatten bereits die Aussagen seiner Ex-Ehefrau Veronica Lario und der Prostituierten Patrizia D’Addario diese fiktive Welt entlarvt, als sie vor knapp zwei Jahren an die Öffentlichkeit gingen und erklärten, auf welchem »Mist« und auf wie viel Korruption diese Fiktion basierte. Doch bei der vorherrschenden Frauenfeindlichkeit, die sich keineswegs auf Berlusconis Regime beschränkt, zählen die Aussagen zweier Frauen weit weniger als ein behördliches Protokoll.
Nun folgten diesem Protokoll weitere Beweisaufnahmen, in den der Staatsanwaltschaft vorliegenden Untersuchungsakten ist von einem mutmaßlichen Prostitutionszirkel die Rede, den enge Vertraute für den Ministerpräsidenten in seinem Privathaus in der lombardischen Kleinstadt Arcore organisiert haben sollen. Die Ermittlung zeigt, wie es um das Regime bestellt ist, das unter dem Namen »Berlusconismus« bekannt wurde.

Dennoch wiederholen die Regierungskoalition und die Opposition dieselbe Litanei. Für die Regierung handelt es sich bei den Ermittlungen um »ungerechtfertigte Eingriffe in das Privatleben« Berlusconis. In seinen eigenen vier Wänden könne jeder machen, was er wolle, der Ministerpräsident sei ein sympathischer Libertin, der von einer verbrecherischen Staatsanwaltschaft und einer terroristischen linken Presse verfolgt werde. Abgesehen von einigen wenigen und rühmlichen Ausnahmen lässt die Opposition verlauten: Der Lebensstil des Ministerpräsidenten glänze nicht durch exemplarische Moralität, sei aber nur von Interesse, insofern er Probleme der inneren Sicherheit und der institutionellen Schicklichkeit aufwerfe. Man dürfe ihn nicht wegen dieser Vorfälle angreifen, sondern müsse ihn auf dem Terrain der Politik schlagen. Die Reihe der Misserfolge dieser Strategie ist lang und reicht bis zum jüngsten Scheitern des Misstrauensvotums im Dezember.
Dagegen enthält die Seifenoper, die unter dem Titel »Sexskandale« läuft und von beiden politischen Lagern als peinliche Nebensächlichkeit abgetan wird, die Quintessenz des Berlusconismus: die Grenzüberschreitungen zwischen Öffentlichem und Privatem; die Politisierung der eigenen Biographie und die Privatisierung der Politik; die Willkürherrschaft im Namen der »Freiheit«; die Reduktion des öffentlichen und privaten Lebens auf einen Supermarkt (man kann alles kaufen, von den Frauen bis zu den Parlamentariern); Sex als Prothese der Macht; die Inszenierung obsoleter Geschlechterrollen (»wahrer Macho-Mann« und »echte Kind-Frauen«) zur Maskierung des Unbehagens angesichts unsicher gewordener männlicher und weiblicher Geschlechtsidentitäten; die Verwendung rassistischer Schönheitsideale; den Primat des unmittelbaren Genusses als Ersatz für ein verlorengegangenes Begehren; eine Praxis der Illegalität, die der (von der eigenen Regierung propagierten) Autorität und Macht des Gesetzes spottet.
Die Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen. Je eher sich eine Politik, die den Namen Opposition verdient, dazu entschließt, sich dieser Themen anzunehmen und kulturelle Gegenentwürfe vorzulegen, desto eher wird sich die Morgendämmerung des Post-Berlusconismus zeigen. Andernfalls werden weitere Folgen von Berlusconis Seifenoper die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen und die juristischen Spitzfindigkeiten seiner Anwälte die politische Berichterstattung beherrschen.

Der Text erschien zuerst in der Tageszeitung »Il Manifesto«. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Aus dem Italienischen von Catrin Dingler.