Historikerstreik über den Organisator der Olympischen Spiele 1936

Privat auf Hitler geschimpft

War Carl Diem ein Antisemit? Die deutschen Sporthistoriker streiten über ihren Ahnherren.

Die Geschichte beginnt mit einem vierbändigen Buch. »Leben und Werk Carl Diems« entstammt einem Forschungsprojekt, das kürzlich zum Abschluss gekommen ist. Dieses Werk des Oberhausener Historikers Frank Becker und eine weitere Studie des Berliners Ralf Schäfer haben der deutschen Sportgeschichte einen handfesten Historikerstreit beschert: War Diem, der Organisator der Olympischen Spiele 1936, ein Antisemit? Von einem »Kulturkampf« spricht der Hannoveraner Sporthistoriker Lorenz Peiffer, ein Ringen um die »Deutungshoheit« erkennt darin sein Kollege Michael Krüger aus Münster.
Darum geht es: Frank Becker hat, finanziert vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der Sporthochschule in Köln und der Krupp-Stiftung, eine Biographie Carl Diems geschrieben. Ein wissenschaftlicher Beirat des DOSB wurde Becker zur Seite gestellt. Nun liegt sein vierbändiges Werk vor – und der Auftraggeber ist nicht zufrieden. »Mit dem Beirat des DOSB gab es einen Streit darüber, wer die abschließenden Empfehlungen abgeben darf«, berichtet Becker. »Vorher war vereinbart worden, dass ich das mache. Ich hatte aber den Eindruck, dass meine Ergebnisse denen zu kritisch sind.« Denn Beckers Rat lautet: »Benennt die Diem-Straßen um!«
Der Beirat hingegen sieht »keine Hinweise auf moralisch verwerfliche Entscheidungen oder Handlungen Carl Diems im Dritten Reich«. Sprecher des Beirats ist der emeritierte 80jährige Tübinger Pädagoge Ommo Grupe, selbst Diem-Schüler. Grupe und sein Schüler Michael Krüger hatten von Beginn an vorgegeben, was bei Beckers Arbeit herauskommen sollte: »Antisemit war Diem nie und nimmer«, heißt es in einem Aufsatz Krügers von 2004, der das Forschungsprojekt vorstellte.
Dass Diem ein Militarist war, geben seine Verteidiger noch zähneknirschend zu. Der Potsdamer Historiker Hans-Joachim Teichler, der die vielbeachtete Ausstellung »Vergessene Rekorde« über nach 1933 aus den Meisterlisten und dem Gedächtnis verschwundene jüdische Spitzensportler betreut hat, sagt: »Er war ein soldatischer Typ.«
Doch Michael Krüger glaubt, Diem habe nur »die Leistung der sportgestählten Soldaten« gelobt, »nicht die NS-Politik«. Einige deutsche Sporthistoriker möchten anscheinend den Ahnherrn retten. Diem war immerhin der Begründer der deutschen Sportwissenschaft, am Aufbau der Deutschen Hochschule für Leibesübungen Berlin war er 1920 wesentlich beteiligt, 1947 gründete er in Köln die Deutsche Sporthochschule und sogar das Deutsche Sportabzeichen, das in diesem Jahr 100 Jahre alt wird, geht auf ihn zurück. Im Nationalsozialismus wollte Diem, der nie NSDAP-Mitglied war, gerne Reichssportführer werden, letztlich war er als Führer der Auslandsabteilung des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (NSRL) eine Art Chefdiplomat des Systems in Sportfragen.
Diese Nähe Diems zum NS-Staat ist verbürgt, aber gerade der Vorwurf des Antisemitismus ärgert manche Sporthistoriker. Teichler, der Träger der Carl-Diem-Plakette des Deutschen Sportbundes für besondere wissenschaftliche Leistungen ist, sieht bei Diem zwar einen »diskreten Antisemitismus der wilhelminischen Oberschicht«. Ihn wurmt jedoch, dass der Berliner Historiker Ralf Schäfer im Handbuch des Antisemitismus des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin (ZfA) Diem einen Beitrag widmete. Der Münsteraner Krüger verweist darauf, dass man die Zeitumstände sehen müsse, ja, die Forderungen, Straßen und Sportplätze nicht mehr nach Diem zu benennen, seien »ein Beispiel für die in Deutschland seit der Reformation verbreitete Lust an der Bilderstürmererei«; hier werde jemand »auf dem Altar der political correctness geopfert«. Aus dem Handbuch des Antisemitismus des ZfA solle der Beitrag über Diem entfernt werden, fordern Teichler und Krüger.
Die Begründungen ähneln den Einträgen in Entnazifizierungsanträgen: Diem sei mit einer »Vierteljüdin« verheiratet gewesen, habe privat oft auf Hitler geschimpft, in der NSDAP sei er nie gewesen. Der Kölner Historiker Manfred Lämmer fügt hinzu, der Sportfunktionär habe jüdische Freunde gehabt. Und Michael Krüger verweist auf Diems hohes Ansehen, »auch und vor allem in Israel«.
Der Historiker Ralf Schäfer hat nun Diems Einstellungen genauer erforscht. In seiner Arbeit »Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus. Carl Diem und die Politisierung des Sports im Kaiserreich« zeigt er zwar, dass Antisemitismus bei Diem nicht das Vorherrschende gewesen sei, es habe im deutschen Sport Schlimmere gegeben. Aber Schäfer, der mit dieser Arbeit bei Wolfgang Benz am ZfA promoviert hat, hat in Diems Nachlass einige belastende Aussagen gefunden. Etwa, wenn Diem 1913 über die »Judenpresse und ihr zersetzendes Gesäusel« schimpfte. 1940 erkundigte sich Diem beim deutschen Botschafter in Paris, ob zwei französische Sportfunktionäre Juden seien. Hier deute er, so Schäfer, seine Bereitschaft an, sich »des Vernichtungsapparats des NS-Regimes zu bedienen«. Noch für 1949 lassen sich Schäfer zufolge antisemitische Topoi nachweisen, wenn Diem etwa über einen jüdischen Kameraden aus seiner Armeezeit berichtet, dieser hätte »etwas irgendwie Unmilitärisches an sich« gehabt.
Gerade dieses Beispiel bringt Hans-Joachim Teichler in Rage: Hier lägen nur »Projektionen« vor, Schäfer und sein Doktorvater Benz hätten sich »verrannt«. Allerdings führte Teichler auf einer Konferenz in Köln selbst über eine Fechterin aus, sie sei »die Tochter eines Offenbacher Rabbiners und einer deutschen Mutter«. Gerade, wenn er den Antisemitismusvorwurf zurückweisen will, rutscht dem Historiker die Wendung vom Juden, der kein Deutscher sein könne, raus. Der Kölner Manfred Lämmer führte gar aus, wenn Diem in einem Zeitungsartikel von »Judenpresse« geschrieben habe, sei dies nicht als Antisemitismus, sondern als »Redaktionsjargon« zu werten.
Auf einer Konferenz in Berlin, wo in den Räumen der Topographie des Terrors die Kritiker Diems rund um Ralf Schäfer, Wolfgang Benz und Lorenz Peiffer ihre Ergebnisse vortrugen und wo auch Lämmer und Teichler als Gäste anwesend waren, kam die Frage auf, warum manchmal von »Antisemitismus«, manchmal von »Antijudaismus« die Rede war. Wolfgang Benz gab den versammelten Sporthistorikern einen Crashkurs zum Stand der Antisemitismusforschung. Die Professorenschar hörte sich interessiert an, was das eigentlich ist, was sie da so harsch zurückweist, Antisemitismus. Dass das kein Phänomen allein der Sporthistoriker ist, zeigte sich wenige Tage später auf der Kölner Konferenz, wo sich die Diem-Apologeten um Teichler, Krüger und Lämmer sammelten. Da wetterte Wolfram Pyta aus Stuttgart, kein Sport-, sondern ein Zeitgeschichtler, gegen das Zentrum für Antisemitismusforschung, es sei ein »volkspädagogisches Institut«, das in der »wissenschaftlichen Erforschung der NS-Verbrechensgeschichte im engeren Sinne« keine Rolle spiele.
Für Ralf Schäfer schimmert in der Vorstellung, wie sie Pyta und etliche Sporthistoriker verbreiten, Antisemitismus habe es nur bei NS-Verbrechern gegeben, ein tiefes Unverständnis von Antisemitismus durch: Als Judenhasser gelten hier gerade mal Propagandisten wie Julius Streicher; darunter würden sie keinen Antisemitismus erkennen; er gilt ihnen als ein historisches Phänomen, das schlimm war, aber der Vergangenheit angehört.
Warum nun Carl Diem, dessen Name in den vergangenen Jahren vielerorts von Straßenschildern verbannt wurde, wieder herausgekramt wird, ist unklar. Der Freiburger Sporthistoriker Diethelm Blecking vermutet, dass es hier um konservative »Ideologieproduktion« geht: »Während im Sport insgesamt alles offener und liberaler wird, versuchen einige Sporthistoriker fast hagiographisch die Person Carl Diem hochzuhalten.«
Frank Becker, dessen Werk von den Auftraggebern geschmäht wird, meint, es sei ein »Kampf um Deutungshoheit – daran hängen auch Karrieren und Stellen«. Als auf der Kölner Diem-Tagung der emeritierte Historiker Manfred Lämmer meinte, man möge doch besser Avery Brundage, den langjährigen amerikanischen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, ins Handbuch des Antisemitismus aufnehmen, erntete er Lachen. Dass Brundage ein ausgewiesener Judenfeind war, ist bekannt. Aber in der deutschen Sportwissenschaft sucht man vergeblich nach einer Studie, die diesen Aspekt untersucht. Dabei war es Brundage, der 1972 in München nach dem Attentat auf die israelische Olympiamannschaft mit den Worten »The Games must go on« die deutschen Organisatoren aufatmen ließ. Und 1936 unterstützte Brundage, damals noch Präsident des amerikanischen Olympischen Komitees, die deutschen Olympiapläne für Berlin mit dem Hinweis, in seinen Sportclub in Chicago lasse man auch keine Juden hinein.
Das herzliche Lachen der Historiker galt wohl dem augenscheinlich befreienden Umstand, dass ein Amerikaner der schlimmste Judenhasser der Sportgeschichte gewesen sein soll. Während sich das Gros der deutschen Sporthistoriker weitere Untersuchungen zum Antisemitismus von Carl Diem verbittet.