Abwärts laufen

Es gibt kein Wort für das, was Tim Farnsworth tut. Es gibt auch keine Erklärung für sein Verhalten. Medizinische Spezialisten kapitulieren scharenweise. Farnsworth, anfangs ein überaus erfolgreicher Anwalt in Manhattan, ein smarter Typ mit viel Geld, schickem Haus, subtilem Humor und einer schönen Frau, die ihn liebt, ist sehr bald der unglücklichste, verzweifeltste, bedauernswerteste Mensch, den man sich vorstellen kann. Er hat keine Chance, wenn es ihn packt. Dann muss er laufen.
Der Protagonist aus Joshua Ferris’ beklemmendem Roman »Ins Freie« ist kein endorphinabhängiger Marathonfreak. Der Drang loszumarschieren überfällt ihn jäh; er kann ihn nicht kontrollieren. So bricht er auf, mitten in einem Meeting, rennt ziellos und ungeschützt durch die Jahreszeiten, büßt wegen Erfrierungen bald einige Gliedmaßen ein, wacht erschöpft irgendwo auf. Seine Frau liest ihn immer wieder auf, kettet ihn ans Bett. Seine Krankheit bestimmt bald ihr Leben. Sie wird Alkoholikerin.
Ferris ist gnadenlos. Und er findet für seine Geschichte, die auch deshalb so unheimlich ist, weil der Autor jede Erklärung verweigert, eine Sprache, die ständig im Fluss ist. Er findet traurige und harte Worte, passende Bilder, ­ergreifende Metaphern. Und immer wenn man denkt, schlimmer geht’s nicht, wird es genau das: schlimmer. »Ins Freie« ist eine einzige Abwärtsspirale, die zahlreiche existentielle Fragen aufwirft. Eine lautet: Was bedeutet Leben, wenn das Glück vollkommen wegbricht?

Joshua Ferris: Ins Freie. ­Luch­terhand Literaturverlag, München 2010, ­352 Seiten, 19,95 Euro