Das »Fortschrittsprogramm« der SPD

Agenda Fortschritt

Die SPD hat den Begriff des Fortschritts wieder für sich entdeckt, sowohl die Parteiführung als auch die Parteilinke haben entsprechende programmatische Papiere vorgelegt. Von ihrem grundlegenden Problem können sich die Sozialdemokraten aber auch so nicht befreien.

Am Freitag voriger Woche musste sich Ulrich Maurer vorführen lassen. Der Vizevorsitzende der Fraktion der »Linken« im Bundestag vertrat bei der aktuellen Stunde zum Thema »Opfer nicht verhöhnen«, einer Aussprache zu Gesine Lötzschs Aussagen über die »Wege zum Kommunismus«, seine Parteivorsitzende. Maurer zitierte aus der Bibel und befand: »Das ist Kommunismus pur.« Zudem erinnerte er an die Millionen Toten des Vietnam-Krieges, die in die Verantwortung des Kapitalismus fielen, und zog am Ende die Schlussfolgerung, dass sich jede Ideologie – ob christlich, kapitalistisch oder eben kommunistisch – missbrauchen lasse.
Maurer erntete Hohn und Spott. Dabei wollte er wohl nicht den Streit über Lötzschs Aussagen verschärfen, sondern durch die Analogien, die er gezogen hatte, die Situation nach dem Muster entschärfen: Alle diese Ideologien wollten eigentlich das Gute, alle sind sie verdreht und entstellt worden. Das Vorhaben ist ihm nicht gelungen. Großes Unverständnis erntete er nicht zuletzt aus den Reihen jener Partei, der er einst 15 Jahre lang in Spitzenämtern diente – der SPD.

Die SPD lässt nach wie vor keine Gelegenheit aus, auf die ungeliebte Linkspartei loszugehen. Dabei wäre 2011 doch das ideale Jahr, um auf eine Koa­lition, bestehend aus der SPD, den Grünen und der »Linken«, hinzuarbeiten: Oskar Lafontaine ist nicht mehr Vorsitzender der Linkspartei, die rot-rote Regierung in Brandenburg arbeitet ohne große Zwischenfälle, die angeblich unberechenbare, »extremistische« Linkspartei in Nordrhein-Westfalen, die im dortigen Landtag sitzt und die rot-grüne Minderheitsregierung de facto toleriert, verhält sich auch äußerst unauffällig. Doch die SPD scheint immer noch die Absicht zu hegen, die Linkspartei kaputtzukonkurrieren, nachdem sie dies bereits in den vergangenen sechs Jahren erfolglos versucht hat. Doch den politischen Gegner verächtlich zu machen, ihn als unprofessionell darzustellen und zu versuchen, ihm seine Themen wegzunehmen, hat keinerlei Wirkung gezeigt. Und dafür gibt es auch einen guten Grund: Die »Linke« hält eben jene Themen des Sozialstaats besetzt, die bis zur Verkündung der »Agenda 2010« originär sozialdemokratisch waren, die SPD hat sich von ihnen verabschiedet. Würden die Sozialdemokraten diese Themen von der Linkspartei zurückerobern wollen, müssten sie die Revision ihrer traditionellen Ideale rückgängig machen. Das wäre in den Augen der herrschenden Koalition und der allermeisten Medien sicher unverzeihlich.
Dass die SPD weiter auf die Linkspartei eindrischt, entwächst einem fundamentalen Widerspruch: Einerseits müsste sie sich von der für sie verheerenden »Agenda 2010« – von der Ära Gerhard Schröders und der für sie demütigend verlaufenen Großen Koalition – verabschieden. Andererseits kann sie dies nicht, ohne ihre grundlegenden programmatischen Beschlüsse zu verraten und sich öffentlich zu blamieren. So bleibt als Ausweg nur, den vergeblichen Kampf gegen die Linkspartei wie in den vergangenen Jahren fortzusetzen.
Die Parteiführung sucht jedoch angestrengt nach weiteren Auswegen. 2010 war das vom SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel ausgerufene »Jahr der Besinnung«, als Ergebnis legte der Parteivorstand kürzlich das »SPD-Fortschrittsprogramm« vor. Nichts soll revidiert werden, vielmehr will die SPD etwas Positives wiedergewinnen: »Gestaltungskraft«. Man möchte den Fortschritt neu definieren. Das trifft erst recht für die Parteilinke zu, deren aktuelles Diskussionspapier »Solidarität schaffen – Demokratie erneuern« ebenfalls den Begriff des Fortschritts in den Mittelpunkt stellt.

Die wichtigsten Punkte in den Dokumenten sind erwartbar: die stärkere Regulierung der Finanzmärkte, höhere Steuersätze für Besserverdienende, mehr Bildungsinvestitionen, eine deutlich größere Berücksichtigung ökologischer Fragen, schließlich ein transparenteres, demokratischeres Vorgehen im Fall von Großprojekten wie beispielsweise »Stuttgart 21«. Das alles ist bekannt und handzahm wie eh und je, bemerkenswert ist allein der bestimmende Oberbegriff, unter dem die bescheidenen Forderungen zusammengefasst werden. Es ist: der Fortschritt.
Die SPD bekennt sich emphatisch zu ihm, sieht sich als die Fortschrittspartei schlechthin und riskiert damit durchaus etwas: Sie weiß selbst, dass es eine weit verbreitete Fortschrittskritik gibt, einen allgemeinen gesellschaftlichen Pessimismus, aber sie leitet daraus ab, dass sich dahinter eine tiefe Sehnsucht nach einem gerechten Miteinander verberge. Man muss also nur eine glaubwürdige Perspektive entwerfen. Dafür ist die SPD da. Der Begriff Fortschritt ist geschickt gewählt: Man grenzt sich zum einen von der rückwärtsgewandten Linkspartei ab, andererseits von den Grünen, die zu stark auf die Fehler der Regierenden reagieren, aktivistisch sind, ständig intervenieren und dabei Gefahr laufen, nur als Oppositionspartei wahrgenommen zu werden.
Fortschritt: Das verheißt »Visionen«, aber auch jenes Maß an Realismus, der »Visionen« nicht in Utopien ausarten lässt. Sein Fundament findet der Optimismus der SPD in der scheinbaren Bewältigung der Finanzkrise. Gerade dies sei das beste Beispiel für die »Gestaltungskraft« der Politik: Nur sie könne die Märkte regulieren, neue Investitionsanreize schaffen, gerechte Konjunkturprogramme verabschieden.
Das ist alles, wie gesagt, nicht neu – aber es soll neu klingen: eben weil Krisenbewältigung und Armutsverwaltung als etwas ausgegeben werden, was in die Zukunft weist. Es überzeugt aber nicht. Die Rede vom Fortschritt, die sowohl der SPD-Vorstand als auch die Parteilinken gewählt haben, ist ein billiger rhetorischer Trick, so wie allein die Umbenennung der Tätigkeit »Putzfrau« in »Reinigungsfachkraft« den betreffenden Lohnabhängigen keine Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs eröffnet. Der Fortschritt, den die SPD revitalisieren möchte, basiert nicht auf einer Neugestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern allein auf der Regulation des Bestehenden. Die gesellschaftlichen Grundlagen sollen nicht angerührt werden, ihre Akteure sollen sich bloß besser – im SPD-Jargon: »chancengerechter« – entfalten können.

Diese »Positionspapiere« sind trostlose Dokumente der Anspruchslosigkeit. Die darin enthaltenen programmatischen Vorschläge sollen wohl den Führungsanspruch der Partei in zukünftigen Linkskoalitionen untermauern. Wer für den Fortschritt eintritt, weiß auch, wie er auszusehen hat. Das ist banal, lässt sich aber besser verkaufen als etwa der unbeliebte und ohnehin völlig vage Kommunismus-Begriff, der von manchen in der Linkspartei aus eher folkloristischen Gründen zitiert wird. Gesine Lötzsch oder Ulrich Maurer wollen diesen Begriff ja nicht näher erläutern, allein für eine Utopie – eine Sehnsucht – könne das K-Wort stehen.
Das »Fortschrittsprogramm« der SPD ist selbstverständlich auch der Entwurf eines neuen Regierungsprogramms. Die Parteiführung spekuliert darauf, dass die Öffentlichkeit das wahrnimmt. Ein sozialpolitischer Realismus und ein Aufbruch der Partei in die Zukunft sollen miteinander in Einklang gebracht werden. Rhetorisch mag das gelingen und auch als ein Mittel der Autosuggestion hilfreich sein, mit dem die SPD wieder zur inneren Geschlossenheit findet. Aber es ändert nichts an dem bestehenden Problem sozialdemokratischer Politik: Die Partei des kleinen Mannes hat das größte Armutsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik zu verantworten und kann davon, bei Strafe des Untergangs, nicht abrücken. Der soziale Fortschritt, den die SPD nun fordert, hat deshalb nur eine Grundlage: die »Agenda 2010«.