Tuvia Friling im Gespräch über die Bemühungen der Zionisten, Juden vor der Vernichtung zu retten

»Juden aus Europa zu retten, war logistisch eine schwere Aufgabe«

Ein Gespräch mit dem israelischen Historiker Tuvia Friling über die zionistischen Bemühungen, Juden während der Shoah zu retten.

In Ihrem Buch »Arrows in the Dark« (Pfeile in der Dunkelheit) beschäftigen Sie sich mit den Versuchen der zionistischen Führung, Juden vor der Vernichtung zu retten. Weshalb haben Sie sich dieses Thema gewählt?

Als Schüler habe ich Ben Hechts Buch »Perfidy« über das Verhalten der linken zionistischen Führer in Palästina während der Shoah gelesen, und ich war wütend auf diese Führung und den Jishuv (die Juden, die vor der Errichtung des Staates Israel auf diesem Gebiet lebten; K.P.). Ich fragte mich, wie sie das Schicksal der Juden während der Shoah hatten ignorieren können. Wie die meisten Israelis ging ich zur Armee, dann studierte ich an der Universität, aber diese Frage ließ mich nicht mehr in Ruhe.
Ben Hecht sympathisierte mit den »Revisionisten«, die 1935 aus der zionistischen Bewegung ausschieden, und ich dachte: Die stellen die richtigen Fragen und geben die richtigen Antworten. Ich beschloss, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Als ich damit begann, war ich wie viele Jugendliche sehr kritisch und sehr extrem. Doch das Leben und die Geschichte sind komplizierter. Ich lernte die Situation der Juden vor und während des Krieges und sogar danach kennen. Das britische white paper im Mai 1939 schränkte die jüdische Einwanderung zu einem Zeitpunkt ein, als die größte Not einsetzte. Anstatt jährlich 50 000 Einwanderungsgenehmigungen sollten für die nächsten fünf Jahre lediglich 75 000 ausgestellt werden. Aber auch die Einreise in die USA war nach dem Ersten Weltkrieg durch die Einführung der Länderquoten radikal eingeschränkt worden, und das wurde während der Wirtschaftskrise der zwanziger und dreißiger Jahre nicht besser. So waren ihnen die Länder, in denen die verfolgten Juden Zuflucht hätten suchen können, versperrt. Chaim Weizmann, der Vorsitzende der zionistischen Bewegung und erste Präsident Israels, sagte damals, die Welt bestehe aus zweierlei Nationen, denjenigen, die keine Juden in ihren Ländern haben wollen, und den anderen, die nicht bereit sind, Juden aufzunehmen.
Nach Ausbruch des Krieges konzentrierten die Alliierten all ihre Anstrengungen darauf, der Herrschaft Hitlers ein Ende zu bereiten. Die Zionisten wollten Aktionen initiieren, um die Juden zu retten, doch die Alliierten argumentierten, dass es eine Menge Völker unter der Herrschaft der Nazis gäbe – die Polen, Tschechen usw. –, und man könne die Juden nicht bevorzugt behandeln, wenn das Hauptziel der Sieg sei. Zudem wollten die Alliierten nicht den Eindruck erwecken, der Krieg werde geführt, um Juden zu retten, wie die Nazis ihnen unterstellten.
Die Alliierten gestatteten auch keinen Geldtransfer in den von Deutschen besetzten Teil Europas. Doch ohne finanzielle Mittel war keine Rettung möglich. Juden aus Europa zu retten, war logistisch eine schwere Aufgabe. Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Manchmal gelingt solch eine Aktion, doch ein Glied fast am Ende der Kette bricht, und die ganze Anstrengung war vergebens. Nehmen Sie eine Gruppe von 50 Kindern …

Ich war in solch einer Gruppe, die im Januar 1943 von Budapest nach Haifa gebracht wurde. Historiker wie Tom Segev behaupten, die Zionisten hätten kein Interesse gehabt, Juden zu retten. Aber allein in Istanbul gab es damals 15 Emissäre des Jishuv, die sich bemühten, Juden zu retten.

Ja, und sie mussten mit der Wehrmacht rechnen, die in weniger als einem Jahr die meisten Armeen Europas bezwungen hatte. Sie mussten außerdem die Abwehr, eine Organisation mit langer Geschichte, und die Gestapo bekämpfen. Die Delegierten waren sehr jung, etwas naiv und sehr tatkräftig, aber sie hatten keinerlei Erfahrung, keine militärische oder nachrichtendienstliche Ausbildung. Das Durchschnittsalter des Jishuv war niedrig, und es gab eine Menge neue Einwanderer. Damals lebten 480 000 Juden im Land.
Der Jishuv war freilich kein Staat. Die Führung musste die Religiösen und die Nicht-Religiösen, die Aschkenasim und die Sfardim, die Linke und die Rechte überzeugen, freiwillig zusammenzuarbeiten. Auf der einen Seite war der organisierte Jishuv, der politisch links von der Mitte war, und auf der anderen Seite waren die rechten Revisionisten. Alle bemühten sich …

Separat?

Ja, separat. Es gab zweierlei Rettungsversuche: die große Rettung und die kleine Rettung. Das ist nicht die Sprache der Historiker, sondern die Terminologie der damaligen Zeit.

Wann und wo begannen diese Aktionen?

Die zionistische Führung versuchte im November 1942, die Juden aus Europa herauszuholen. Als erstes wurden Pläne entworfen, um die Kinder zu retten. Als zweites gab es mindestens drei Pläne, die auf einer Lösegeldzahlung beruhten. In Transnistrien hatten von den 200000 dorthin deportierten rumänischen Juden noch 70000 bis 80000 überlebt. Das nächste Angebot, ein Lösegeld zu zahlen, kam Ende Dezember 1942 bzw. Anfang 1943 durch Dieter Wisliceny, um die Juden der Slowakei zu retten. Doch die bekanntesten und problematischsten Missionen waren die von Bandi Grosz und Yoel Brand sowie Rudolf Kasztner im Frühjahr und Sommer 1944.
Zuerst versuchte man, die Kinder auf dem Balkan zu retten, denn die waren in der Nähe, und da sah man größere Chancen. Warum die Kinder? Weil sie am stärksten gefährdet waren, durch Hunger und Kälte zugrunde zu gehen. Die Zionisten gingen von der Annahme aus, dass die Deutschen sie vielleicht gehen lassen, da sie doch nur essen und nicht arbeiten würden. Man dachte auch, dass der Jerusalemer Mufti, der mit den Deutschen kollaborierte, dies nicht bemerken würde.

Das war ein Irrtum, er verfasste Briefe an die Regierungen Ungarns, Rumäniens und Bulgariens und forderte, jüdische Kinder weder aus- noch durchreisen zu lassen, und wandte sich auch an seine Nazifreunde, dies unbedingt zu verhindern. Wie verhielt sich die Welt zu diesem Plan?

Die Jewish Agency beschloss, zuerst die Kinder zu retten, weil sie dachte, die Briten würden sich da liberaler verhalten. Doch die Antwort der britischen Regierung war eindeutig. Von den genehmigten 75000 Zertifikaten standen noch 29000 aus, die nicht verwendet worden waren, und mit diesen könne man Kinder ins Land bringen. Die zionistische Führung stand wie so oft zuvor vor einem Dilemma: Wenn sie das akzeptiert, dann akzeptiert sie die britische Logik, dass doch die Lage vollkommen normal sei. Sicher konnten die Briten, als sie das white paper 1939 beschlossen, nicht wissen, was in ein paar Jahren geschehen würde: dass es zu einem Völkermord kommt. Doch im November 1942 wussten sie sehr wohl, dass jedes jüdische Kind, das in Europa bleibt, ermordet werden würde, doch das änderte ihre Haltung nicht. Das also war die Haltung der freien Welt. Welche Wahl hatte die zionistische Führung? Hätte sie den britischen Vorschlag abgelehnt, was würde dann wohl Tom Segev gesagt haben: Es gab ein großzügiges britisches Angebot, das aber von den Zionisten abgelehnt wurde, denn Kinder können nicht arbeiten oder für die Verwirklichung des zionistischen Traums kämpfen? In dieser nicht zu gewinnenden Situation hat die zionistische Führung das britische Angebot angenommen. Zur gleichen Zeit wurden 80000 Juden aus Transnistrien gegen Lösegeld angeboten. Die Zionisten wussten, dass die Briten dies nicht akzeptieren würden, denn es gab ja für Kinder nur 29 000 Zertifikate.
Am 30. November 1942, also sechs Tage nach der Veröffentlichung über die Shoa, gab es in Jerusalem eine wichtige Sitzung der Asefat Hanivharim (die höchste gewählte Vertretung des Jischuv; K.P.), die der Rettung gewidmet war. Der Hauptredner war David Ben-Gurion, seine Rede war »an das menschliche Gewissen« gerichtet. Er bat darum, die jüdischen Kinder aus Europa holen zu dürfen.

Zu den zionistischen Führungspersönlichkeiten, die die Rettung betrieben, gehörte der aus Rumänien stammende Jurist Rudolf Kasztner, der das jüdische Komitee für Hilfe und Rettung in Budapest leitete und nach dem Krieg Beschuldigungen ausgesetzt war, mit den Nazis kollaboriert und sich bereichert zu haben. Wie erklären Sie, dass extrem Linke sich in der Affäre Rudolf Kasztner auf die Aussagen eines rechten religiösen Juden, seines rechten Anwaltes Tamir und des rechten Richters Levy stützten, die Kasztner beschuldigten, »seine Seele dem Teufel verkauft zu haben«?

Unabhängig von der politischen oder religiösen Orientierung beschäftigen sich bis heute viele Menschen mit der Frage, wie es kommen konnte, dass sechs Millionen Juden, darunter 1,5 Mil­lionen Kinder, ermordet werden konnten. Einige Menschen wollen die Antwort nicht am richtigen Ort suchen. Diejenigen, die Kasztner beschuldigen, weil er nicht die ungarischen Juden retten konnte, verstehen nicht die Situation damals vor Ort. Viele von denen, die Urteile fällen, wissen nicht, dass Joel Brand nicht allein war, als er am 19. Mai 1944 in Istanbul ankam, er wurde vom Doppelagenten Bandi Grosz begleitet. Viele wissen auch nicht, dass es zwei Angebote gab. Brand übermittelte das Angebot einer Gruppe hoher Nazis, die Juden Europas gegen 10 000 Lastautos, Tee, Kaffee etc. freizugeben. Sie versprachen, diese Lastautos nicht gegen die freie Welt einzusetzen, nur gegen die Rote Armee. Die Nazis sagten, sie würden die Juden nicht nach Palästina lassen, sondern nur auf die pyrenäische Halbinsel. Die Zionisten hatten also wieder über ein Angebot zu beraten, das die geret­teten Juden nicht nach Palästina bringen würde. Das Gleiche geschah auch mit den überlebenden Juden in Transnistrien. Weil die Briten ihnen nicht die Einreise nach Palästina gestatteten, sagten die Zionisten, lasst doch diese Juden zuerst zurück in das alte Rumänien.
Auch das entspricht nicht den Behauptungen Tom Segevs, dass die Zionisten sich nur dafür einsetzten, Juden nach Palästina zu bringen.
Und das war nicht das einzige Mal. Als man in Jerusalem hörte, dass der südafrikanische Präsident Jan Smuts bereit war, polnische Kinder nach Südafrika zu bringen, bat man auch, jüdische Kinder dorthin zu bringen. Den Einwand, dass Smuts von polnischen Kindern gesprochen hatte, beantworteten die Zionisten mit dem Hinweis darauf, dass jüdische Kinder auch polnische sind. Die Antwort war, er meinte nichtjüdische polnische Kinder. Als die Zionisten sich ­direkt an Smuts wandten, sagte dieser, sie sollten ihn nicht drängen, denn die Lage in seinem Land sei schlecht, er habe die Inder, die Schwarzen, und jetzt wolle man ihm noch Juden senden, wo er doch so viele Antisemiten habe. Auch das ist ein Beispiel, dass die jüdische Führung in erster Linie Kinder retten wollte, ihre Bitte lautete, sie aus Europa herauszubringen.
Als einer der zionistischen Delegierten aus Istanbul nach Jerusalem kam, um über den Vorschlag von Brand zu berichten, gab es eine lange Sitzung mit Ben-Gurion und Shertok (später als Moshe Sharett Außenminister; K.P.) über den Plan, eine Million Juden nach Spanien und Portugal zu bringen. Am nächsten Morgen berief Ben-Gurion die Exekutive der Jewish Agency ein und sagte dort: Wenn es nur eine Chance eins zu einer Million gibt, muss man es versuchen. Tom Segev sagt, die Zionisten seien nicht bereit gewesen, andere Lösungen zu erwägen als die, dass Juden nach Palästina gebracht werden. Das Gegenteil ist wahr. Sie wollten in erster Linie Menschen retten. Die Briten haben von Bandi Grosz auch von diesem Angebot erfahren. Der britische Nachrichtendienst beurteilte dieses Angebot als genial. Erstens wollten die Nazis zu einer Zeit, als die Rote Armee auf dem Vormarsch nach Mitteleuropa war, 10 000 Lastautos haben. Und sie konnten sich gut vorstellen, wie Stalin darauf reagieren würde, doch zweitens wollten sie eine Million Juden über die Pyrenäen bringen. Jeder wusste, dass die Zweite Front nur eine Frage der Zeit war, und den Plan, gerade die Juden auf den Weg zu bringen, den die Alliierten nehmen sollten, war ausgeklügelt. Die Alliierten stimmten diesem Vorschlag natürlich nicht zu.

Hätte Kasztner jede jüdische Gemeinde informiert – was damals unmöglich war –, dass die Juden ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert werden, hätten sie das nicht geglaubt. Ich versuchte meinen Onkel am Plattensee im November 1942 zu überzeugen, alles zu verkaufen und nach Rumänien zu fliehen, denn in Polen verbrennt man die Juden in Gasöfen. Das konnte er nicht glauben. Er berief sich darauf, dass er im Ersten Weltkrieg als Offizier an der Front gewesen war und das Karlskreuz erhalten hatte, und auf die 1000jährige ungarisch-christliche Kultur.

Kasztner war mit dem gleichen Problem im April 1944 konfrontiert, das die Juden in Palästina im November 1942 hatten, die nicht an diese Ungeheuerlichkeit glauben konnten. Auch wenn man die Juden in den Dörfern und Kleinstädten informiert hätte, sie hätten es nicht geglaubt. Sie fühlten sich so ungarisch wie die Nichtjuden. Manche hätten darauf geantwortet, das ist doch zionistische Propaganda, die haben uns doch bereits während der dreißiger Jahre aufgefordert, Europa zu verlassen. Kasztner war in Ungarn völlig unbekannt, hatte keinen Einfluss auf den ungarischen Judenrat. Selbst in Cluj (Kolozsvár), wo er bekannt war, konnte ein Rettungskomitee aus angesehenen jüdischen Bürgern nur einige wenige Juden davon überzeugen, dass sie sich in das 20 Kilometer entfernte Rumänien retten müssten.
Obwohl die Jewish Agency gewusst hat, dass das Angebot von Brand ein Trick ist, wollte sie alles tun, um Menschen zu retten. Kasztner, der in der Zwischenzeit in Israel als hoher Beamter arbeitete, log, als er über sein Verhältnis zum SS-Obersturmbannführer Kurt Becher befragt wurde, dem er vor einem Gericht in Deutschland einen Persilschein ausstellte. Aber die Tatsache, dass er diesbezüglich log, bedeutet nicht, dass alle seine Berichte erlogen waren. Er war trotzdem ein Held, der versucht hatte, so viele Menschen wie möglich zu retten.

Außer der Affäre Kasztner gibt es noch eine Beschuldigung gegen David Ben-Gurion, die immer wieder von Antizionisten wiederholt wird.

Tatsächlich hat Ben-Gurion nach der »Kristallnacht« einen sehr harten und peinlichen Ausspruch getan. Es ging um 10000 jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich, denen Großbritannien nicht die Einreise nach Palästina gestattete, und es kam der Vorschlag, sie doch nach Großbritannien zu bringen. »Hätte ich«, sagte er, »gewusst, dass es möglich ist, all diese Kinder zu retten, indem man sie nach England bringt, und nur die Hälfte, wenn man sie nach Palästina bringt, dann hätte ich die zweite Möglichkeit gewählt – denn wir müssen nicht nur an die Kinder denken, sondern an die historischen Überlegungen des jüdischen Volkes.«
Was die Kritiker von Ben-Gurion nicht erwähnen, ist seine Haltung während der Shoa, die ich in meinen Büchern dokumentierte. Ben-Gurion hatte eine brüske, trockene Art. Aber wer sein Tagebuch liest, entdeckt einen Mann, der tiefen Schmerz und Angst fühlte. Eine unvoreingenommene Untersuchung würde zeigen, dass Ben-Gurion nicht gleichgültig war, was die Shoah und die Diaspora anlangt. Ben-Gurion war ein Staatsmann, der Macht, Stabilität und Tapferkeit ausstrahlte, die notwendigen Eigenschaften für die zionistische Revolution, aber diese machte ihn nicht unsensibel. Er konnte stundenlange Reden halten, doch auch ganz kurze Bemerkungen in seinem Tagebuch machen, die alles ausdrückten, was er fühlte. Als die Nachricht vom Sieg der Alliierten am 8. Mai 1945 verkündet wurde, war Ben-Gurion in London. Von seinem Fenster sah er die jubelnden Menschen in den Straßen und äußerte die Tiefe seines Gefühls, was dieser Tag für die freie Welt und für die Juden bedeutet: »Tag des Sieges, traurig, sehr traurig.« Und dieser durch und durch laizistische Mann erinnerte sich seiner jüdischen Wurzeln, als er in seinem Tagebuch noch hinzufügte: »Du darfst dich nicht freuen, Israel, noch rühmen wie die Völker« aus Hosea 9.1.
Der Analogieschluss der Kritiker von Ben-Gurion, dass er, weil er 1948 siegreich war, auch erfolgreich das jüdische Volk während des Zweiten Weltkrieges hätte retten können, ist vollkommen falsch.