Proteste gegen die Übergangsregierung in Tunesien

Schwieriger Neuanfang

Die tunesischen Bürger protestieren gegen die Übergangsregierung, der zahlreiche Funktionäre des alten autoritären Regimes angehören. Die Auseinandersetzungen finden nicht nur in der Politik statt. In vielen Unternehmen und Betrieben jagen die Beschäftigen die alten Manager, die mit dem mafiösen System des ehemaligen Diktators eng verbunden waren, aus ihren Posten.

Hält die Übergangsregierung in Tunesien durch? Diese Frage stellen sich in diesen Tagen zahlreiche in- und ausländische Beobachter. Anfang der Woche wuchs der Druck auf die provisorische Regierung unter Premierminister Mohammed Ghannouchi.
Unterschiedliche Strömungen der politischen und sozialen Opposition fordern ihren Rücktritt, da sie mehrheitlich aus »Kaziken« des alten Regimes besteht. Auch wenn ihre führenden Mitglieder sowie Parlamentspräsident Foued Mebazaa, der die Übergangsperiode nach den geltenden Verfassungsbestimmungen leitet, formell ihre Mitgliedschaft in der bisherigen Staatspartei RCD (Demokratische Verfassungs-Sammlung) niederlegten, so bleiben sie doch Männer der alten Herrschaft.

Der Gewerkschaftsdachverband UGTT, der derzeit eine wichtige Rolle als soziale Gegenkraft spielt – seine eigene korrupte Führung unter Generalsekretär Abdessalem Jrad steht unter starkem Druck der Basis – hatte Mitte Januar drei Minister zurückgezogen. Hingegen bleiben Ahmed Brahim, Generalsekretär der ehemals kommunistischen Partei Ettajdid (Erneuerung), und der langjährige Vorsitzende der Progressiv-Demokratischen Partei (PDP), Nejib Chebbi, nach einigem Zögern im Kabinett. Die ehemaligen Kommunisten haben zwar den Klassenkampf aufgegeben, aber dafür ihre Staatsgläubigkeit beibehalten. Sie berufen sich auf eine »Angst vor dem Machtvakuum« im Falle eines Rücktritts der Regierung. Der PDP und sein Vorsitzender wiederum zählen zu jenen bislang tolerierten zahmen Opponenten, die mit den westlichen Großmächten in Verbindung standen und vom nordamerikanischen National Endowment for Democrazy (NED) gefördert wurden.
Viele Angehörige der Opposition fordern neben dem Rücktritt dieser Regierung auch eine verfassunggebende Versammlung, die einen neuen Text für die Verfassung der künftigen tunesischen Republik erarbeiten soll.
Am Montagmorgen kam es in Tunis, direkt vor dem Regierungssitz, der »Kasbah« genannt wird, zu heftigen Auseinandersetzungen. Steine und Flaschen wurden auf die Polizei geworfen, die ihrerseits Tränengas und Knüppel einsetzte. Den Sonntag über hatten Tausende von Protestiererden das Gebäude belagert. Verstärkung ­erhielten sie von rund 1 000 Demonstranten aus dem Landesinneren, dem Süden und Westen Tunesiens – aus jenen vernachlässigten und unterentwickelten Regionen, in denen Mitte Dezember der Aufstand begonnen hatte. Sie waren im Rahmen einer »Karawane der Befreiung« im Laufe des Wochenendes in der Hauptstadt angekommen und hatten davor zahlreiche Städte durchquert. Der noch immer geltenden nächtlichen Ausgangssperre trotzend, lagerten sie seit Sonntagabend vor dem Regierungssitz. Als am Montag in den ersten Vormittagsstunden Regierungsbeamte das Gebäude zu verlassen versuchten, kam es zu Ausschreitungen.
Neben den politischen Auseinandersetzungen finden auch in tunesischen Unternehmen und Betrieben große Veränderungen statt. Dort werden reihenweise die Chefs, die bislang zur Kleptokratie rund um den Familienclan von Ben Ali zählten, zur Rede gestellt oder davongejagt. Mitte vergangener Woche etwa entließen die Angestellten der Versicherungsgesellschaft Star ihren Leiter, bei der Nationalen Landwirtschaftsbank wurde der Manager ebenfalls entlassen, und auch beim tunesischen Unternehmerverband, Utica, wurde der bisherige Präsident Hedi Jilani aus dem Amt gejagt. Im tunesischen Fernsehen übernahmen Gewerkschafterkomitees die Kontrolle über die Nachrichtensendung.
Am Freitag besetzten Stewardessen der bislang durch Korruption schwer gebeutelten nationalen Fluggesellschaft Tunisair den Hauptsitz ihres Unternehmens. Der oberste Manager, Nabil Chettaoui, schloss sich in einem Büro im fünften Stockwerk ein und ließ erklären, er stünde »einer Untersuchungskommission zur Verfügung«.

Eine Streikwelle hat inzwischen auch die Call Center europäischer, vor allem französischer Unternehmen in Tunesien erfasst. Zwischen fünf und 15 Prozent der Anrufe bei großen französischen Dienstleistern werden über Tunesien ab­gewickelt. Derzeit werden die Telefonate umgeleitet, die Wartezeiten für die Kunden haben sich erheblich verlängert. Da die tunesische Ökonomie sich auf Aktivitäten spezialisiert hat, die aus Europa ausgelagert werden, sind hier die wirtschaftlichen Verbindungen mit Frankreich und der EU sehr eng. Der französische Mobilfunkkonzern Orange etwa, eine Tochtergesellschaft der France Télécom, unterhält eine tunesische Filiale. Davon gehörten bis jetzt 49 Prozent dem französischen Unternehmen und 51 Prozent dem tune­sischen Eigentümer, Marwan Mabrouk, einem Schwiegersohn von Ben Ali und führenden Angehörigen des mafiösen Systems. Weil er zusammen mit dem gestürzten Präsidenten floh, liegt derzeit die Aktivität von Orange Tunisie darnieder. Die internationale Wirtschaft sorgt sich um die Zukunft zahlreicher Investitionen in Tunesi­en, vor allem, nachdem die Rating-Agentur Moody’s am 19. Januar die Note Tunesiens um einen Punkt herabgestuft hat. Die wirtschaftlichen Perspektiven Tunesiens wurden von »stabil« auf »negativ« abgewertet.
Hingegen freut sich auch ein beträchtlicher Teil der tunesischen Mittelschicht über den Umsturz. Denn sie musste bislang der mafiösen Überwucherung der Ökonomie des Landes durch die ­Familienclans von Ben Ali und seiner Gattin, Leila Trabelzi, einen beträchtlichen Tribut zollen. Die beiden Clans, die in direktem Kontakt mit Importeuren und ausländischen Investoren standen und Monopolstellungen einnahmen, verlangten von einheimischen Unternehmern oft eine Beteiligung an ihren Firmen. Zu diesen trugen die mafiösen Seilschaften jedoch nichts bei, sondern kassierten nur ab. Der Wirtschaftswissenschaftler al-Mouhoub Mouhoud glaubt deswegen, dass das Ende des mafiösen Systems auch unter kapitalistischen Bedingungen bessere Wachstumsperspektiven mit sich bringen wird.

Für die Zukunft der tunesischen Wirtschaft sind aber auch andere Faktoren entscheidend. Die Interessen der tunesischen Mittelschicht etwa dürften ganz andere sein als die der Jugend, des prekären Subproletariats im »informellen Sektor« und der Arbeiterschaft.
Die soziale Revolte trug zum Erfolg der demokratischen Revolution in Tunesien bei. Der Tag, an dem Ben Ali floh, war nicht ganz zufällig jener Freitag, auf den der Beginn eines Generalstreiks angesetzt war, zu dem die UGTT aufgerufen hatte.
Die Mehrzahl der westlichen Großmächte hielt bis zuletzt an ihrem »Freund« Ben Ali fest. Die sogenannte Sozialistische Internationale – ein Zusammenschluss sozialdemokratischer Parteien, in dem die deutschen, österreichischen und französischen Sozialdemokraten beträchtlichen Einfluss haben – schaffte es immerhin, vier Tage nach der Flucht Ben Alis dessen frühere Staatspartei RCD als Mitglied auszuschließen.