Das neue Album von Hercules and Love Affair

Schwuler als Madonna

Hercules and Love Affair veröffentlichen ihre zweite Platte, die eher nach der queeren Subkultur House als nach der queeren Subkultur Disco klingt.

Das Erforschen der eigenen Geschichte gehört wohl zu den wichtigsten identitätsstiftenden Merkmalen von Subkulturen. Gerade in schwullesbischen und queeren Communities spielen Formen der Selbstkontextualisierung seit jeher eine wichtige Rolle – auch wenn hier längst kein gemeinsamer Kanon mehr existiert, sondern verschiedene, bisweilen sogar gegenläufige Geschichten über Schlüsselereignisse und Helden erzählt werden. Dabei tragen insbesondere Künstler zur Rekonstruktion von Geschichte bei, meist indem sie popkulturelles Material vergangener Jahrzehnte aufarbeiten und neu ausdeuten.
Als cleverer Archäologe im Feld Musik hat sich dabei in letzter Zeit besonderes Andrew Butler mit seinem Projekt Hercules and Love Affair erwiesen. Der New Yorker hat im März 2008 zusammen mit der House-DJ und Musikerin Kim Ann Foxmann das erste Album von Hercules and Love Affair veröffentlicht. Butler lag mit dem Album eine Neubetrachtung von Disco am Herzen – jener Musikrichtung, der in ihrer Offenheit und Freizügigkeit lange Zeit die Aura queerer Emanzipation anhaftete, die ihre befreienden Momente jedoch mit der Übernahme durch die weiße heterosexuelle Mittelschicht weitestgehend verloren hatte. Insbesondere durch seine Zusammenarbeit mit den beiden Künstlern Nomi Ruiz und Antony Hegarty, die den Songs ihre wunderbar androgynen Stimmen liehen, gelang es Butler dabei, den Discosound der späten Siebziger neu zu deuten und seine Queerness zu unterstreichen. Zum Erfolg der Platte insbesondere in popaffinen queeren Kreisen trug dabei nicht zuletzt die Tatsache bei, dass Butler selbst, obwohl er über einen Bizeps mit dem Durchmesser eines Kleinkindes verfügt, vielerorts zu einer neuen schwulen Ikone stilisiert wurde, was ihm durchaus zu schmeicheln schien. Auch wenn er nicht müde wurde, darauf zu verweisen, dass er sich lediglich als Produzent und Songwriter von Hercules and Love Affair sehe und ein großer Teil der Arbeit im Team passiere.
Dass Butlers Zusammenarbeit mit Künstlerkollegen aber mehr ist als nur ein Hobby, wird besonders deutlich, wenn man die Bandkollegen für das neue Album »Blue Songs« genauer unter die Lupe nimmt. So gehört zum einen neben Kim Ann Foxman bereits seit 2009 der Musiker und Produzent Marc Pistel zum festen Kern. Pistel hat in den Neunzigern in Bands wie Meat Beat Manifesto und den linksaktivistischen Consolidated gespielt und war nun entscheidend an der Produktion von »Blue Songs« beteiligt. Darüber hinaus sind auf der Platte die in Berlin lebende und aus Venezuela stammende transsexuelle Sängerin und Techno-Produzentin Aerea Negrot sowie ein junger Sänger namens Shaun J Wright vertreten, der in seinem Erscheinungsbild ein wenig an einen jungen Sylvester erinnert. Damit hat Butler in Sachen Sexualität, Geschlecht und Herkunft erneut ein Kollektiv aus völlig unterschiedlich sozialisierten Persönlichkeiten um sich herum geschaffen – ein Mischverhältnis, das für das Popbusiness einmalig ist. Allerdings betont Butler selbst, seine Mitstreiter intuitiv auszuwählen. Gerade als jemand, der am College Kurse zu Feminismus und Race belegt habe, sei das »Mainstreaming« in seiner Band aber natürlich ein wichtiger Nebeneffekt: »Für mich ist es einfach so, dass ich denke, dass so ein Projekt wie Hercules and Love Affair erst dann spannend wird, wenn auch Leute zu Wort kommen, die in ihrem Leben kämpfen mussten und vielleicht auch bereits an den Rändern unserer Gesellschaft gelebt haben. Gerade die Menschen, die ihre eigene Stärke aus Erfahrungen der Marginalisierung gewonnen haben, sind die, die wirklich interessante Geschichten zu erzählen haben und die das Projekt interessant machen.«
Musikalisch überspringt »Blue Songs« nach der Rückbesinnung auf Disco durch den Vorgänger ein knappes Jahrzehnt. Mit dem neuen Album sind Hercules and Love Affair beim Chicago-House der späten Achtziger gelandet, einer Musikrichtung, die derzeit an allen möglichen Ecken und Enden einen Auftrieb erfährt und offensichtlich den endgültigen Dammbruch zum Neunziger-Revial vorbereitet. Daher ist es wohl kein Zufall, dass Butler gerade jetzt auf die House-Karte setzt, auch wenn er selbst die Entscheidung für die neue musikalische Ausrichtung des Projekts erneut dadurch begründet, an eine bestimmte Ära queerer Subkultur erinnern zu wollen. »Ich bin mit House aufgewachsen und habe mich in Clubs, in denen House gespielt wurde, als Schwuler immer sehr frei gefühlt«, sagt er und fügt hinzu: »Daher beispielsweise die Coverversion des House-Klassikers ›It’s Alright‹ von Marshall Jefferson und Sterling Void. Ich wollte an die Geschichte dieser beiden jungen Afroamerikaner erinnern, die damals mit einfachstem Equipment einfach großartige Musik gemacht haben. Außerdem halte ich den Song für nach wie vor aktuell, weil er sowohl über weltpolitische Themen wie Krieg und Unterdrückung spricht als auch versucht, wenigstens ein bisschen Hoffnung und Optimismus zu verbreiten.«
Eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion des frühen House spielt für Butler der Rückbezug auf den eng mit der Musik verknüpften Tanzstil »Vogue« und die damit verbundene schwarze queere Subkultur. Das »Voguing«, das in Contests (»Bällen«) zwischen verschiedenen Communities (»Houses«) performt wird, wurde Anfang der Neunziger durch Madonnas gleichnamigen Song und Jennie Livingstons Dokumentation »Paris is Burning« an die Oberfläche des Mainstream gespült.
Nach dem kurzen Hype geriet das Voguing jedoch schnell wieder in Vergessenheit. Auch hier gibt es für Butler daher gute Gründe für ein Sichtbar-Machen: »Gerade angesichts der Tatsache, dass es in vielen Communities, gerade in der afroamerikanischen, immer noch viel Homophobie gibt, war es uns wichtig, wieder stärker an diese Underground-Kultur zu erinnern, in der Männer sich in einer so extravaganten und trotzdem anmutigen Weise präsentieren. Ich wollte zeigen, dass sie noch existiert und nach wie vor von Bedeutung ist.« Und so spielen Voguing-Referenzen nicht nur im Retro-Video zur aktuellen Hercules-and-Love-Affair-Single »My House« eine Rolle, einem Clip, der aussieht wie eine schrabbelige VHS-Aufnahme einer alten House-Party. Der Bezug auf das Voguing findet sich auch im ziemlich stylishen Video zu Kim Ann Foxmans Debütsingle »Creature«, die von Butler produziert und gerade auf seinem eigenen Label veröffentlichtet wurde – im schwarzweißen Clip zur Single stehlen der Sängerin drei schwarze Vogue-Tänzer ziemlich die Show.
Mit derartigen Querverweisen setzen sich sowohl Butler als auch Foxman allerdings auch dem Vorwurf aus, randständige queere Zeichen aus reinen Hipness-Erwägungen ihrem Kontext zu entlehnen und sie quasi auszubeuten. Ein Vorwurf, den Butler jedoch nicht gelten lässt: »Die drei Tänzer im Video sind Freunde von uns, sie sind Teil unseres Teams, treten bei unserer Bühnen-Show auf. Das sind keine gemie­teten Leute, das hat nichts mit Madonnas ›Vouge‹ oder einer Lady Gaga zu tun, die Queerness für ihre Zwecke nutzt. Wir beuten nicht aus – immerhin sind wir queer.« Allerdings dürfte Butler natürlich klar sein, dass sein Projekt mindestens genauso sehr von seinem richtigen Riecher für musikalische und ästhetische Trends lebt wie von seiner politischen Attitüde. Gleichzeitig gibt es wohl derzeit gerade in der Popmusik nur wenige erfolgreiche Künstler, die mit einer derartig reflektierten Herangehensweise etwas so Spannendes schaffen wie er.

Hercules and Love Affair: Blue Songs (Cooperative Music)