Wie alternativ ist der FC St. Pauli? 

BWL-Sprech trifft Adorno-Zitat

Die Vereinsführung und die Fans des FC St. Pauli sind sich nicht einig darüber, wie viel Kommerz und wie viel alternatives Flair ihr Club verträgt.

Adi Preißler sagte einmal: »Entscheidend is’ auf’m Platz.« Doch welche Ausmaße die Kommerzi­alisierung des Fußballsports annehmen würde, ahnte er damals wohl nicht. Heute stellt der sportliche Teil im Profifußball nur noch einen Aspekt unter vielen dar. Gute Spieler und Trainer lassen sich ihre Arbeitszeit übertariflich entlohnen und das Geld für die Personalkosten muss irgendwie eingenommen werden. Dabei wird ein immer kleinerer Teil der Einnahmen im Stadion selbst erwirtschaftet. Werbeverträge, Mäzenatentum und Fernseheinnahmen spielen eine weitaus wichtigere Rolle. Dass die Fans jedoch nicht zwangsläufig jeden Weg begrüßen, mit dem ein Verein an neues Kapital kommen möchte, mussten kürzlich die Verantwortlichen des FC St. Pauli feststellen.
Vor etwa einem Monat stellte eine Gruppe, die sich »Sozialromantiker Sankt Pauli« nennt, einen Text mit dem programmatischen Titel »Es reicht!« ins Internet. In blumigen Worten kritisierte sie darin zahlreiche Entscheidungen der Vereinsführung aus der jüngeren Vergangenheit. Sie echauffierte sich über leicht bekleidet tanzende Frauen in der VIP-Loge, beschwerte sich über zu viele »Business-Seats« auf der neuen Haupttribüne und überdimensionierte Werbeflächen einer Bank an der stadioneigenen Kindertagesstätte. Den größten Anstoß nahmen die Sozialromantiker aber an einer Werbeaktion beim Spiel gegen Mainz, bei der mehrere LED-Displays im Stadion montiert wurden, über die von den Fans gegen Gebühr versandte SMS-Botschaften flimmerten. »Ist das noch St. Pauli?« fragten sich die Sozialromantiker, und das Feedback aus der Fanszene legt den Schluss nahe, dass sie mit ihrer Ansicht nicht alleine stehen.
Beim Rückrundenauftakt gegen Freiburg kam es dann im Stadion zu einer beeindruckenden Demonstration der Fans. Wo sonst Braun und Weiß zu sehen sind, glichen die Stehränge einem Meer aus Rot und Schwarz. Der schwarze Totenkopf auf rotem Grund – von den Erfindern »Jolly Rouge« getauft – ist zum Symbol eines Fan-Aufstands geworden.
Auch die Vereinsleitung zeigte sich sichtlich beeindruckt von der Aktion. Hatte sie bis dahin noch die Beschwerden ignoriert und von höchstens viertausend Querulanten im Internet gesprochen, die keinesfalls die Anhänger des FC St. Pauli repräsentieren würden, beeilte sie sich nun, mit den Fans und der Presse ins Gespräch zu kommen. Präsident Stefan Orth verkündete, die VIP-Loge sei abgemahnt worden, es werde keinen Striptease mehr während des Spiels geben, und überhaupt seien die LED-Displays von vornhe­rein nur als einmalige Aktion gedacht gewesen. Darüberhinaus sei die Werbung an der Kindertagesstätte auch nur als Gegenleistung für deren Förderung durch die Bank zu sehen. Vor allem aber sei ein gewisses Maß an Kommerzialisierung notwendig, denn immerhin wolle man, so Orth, St. Pauli »als den etwas anderen Verein unter den Top 25 im deutschen Fußball etablieren und die Werte des Vereins leben und transportieren«.
An dieser Aussage des Vereinsvorsitzenden lässt sich recht gut das Grundproblem der gegenwärtigen Diskussion verdeutlichen. Für Orth ist das »etwas Andere«, das den Verein angeblich ausmacht, vor allem ein Alleinstellungsmerkmal, das sich zu Markte tragen lässt. Es garantiert dem Verein Werbeeinnahmen und Merchandiseumsätze. Fast jeder vierte Bundesbürger findet den Stadtteilverein einer Studie von 2009 zufolge sympathisch.
Die Schwierigkeit liegt jedoch im Verhältnis zwischen notwendiger Vermarktung und Erhalt des alternativen Flairs. Sollte der FC St. Pauli in der Wahrnehmung der Fußballinteressierten zu einem Verein unter vielen werden, der sich nicht von Eintracht Frankfurt oder dem VfL Bochum unterscheidet, wäre das das Ende des gesamten Vermarktungskonzepts. Orth selbst spricht zwar auch von »Werten«, die der Verein habe. Er vermeidet es jedoch geschickt, sie zu benennen. Die Sozialromantiker sprechen ebenfalls von Werten. Für sie ist St. Pauli »nicht nur ein Fußballclub«, sondern »ein ewiges Experiment, was die Frage des ›richtigen Lebens im Falschen‹ betrifft«. Wenn BWL-Sprech auf ein Adorno-Zitat trifft, scheint es unwahrscheinlich, dass beide Seiten trotz ähnlicher Wortwahl wirklich dasselbe meinen.
Auch der Ständige Fanausschuss des Vereins vermutete in einer Presseerklärung, für einige aus der Vereinsführung sei »der FC St. Pauli ein Wirtschaftsunternehmen, eine ›Marke‹ und ein Hobby«. Für viele Fans sei der Verein jedoch »Stück ihres Lebens und ihres Lebensinhaltes«. Hier wird deutlich, dass die Beteiligten auf unterschiedlichen Ebenen argumentieren. Für die Verantwortlichen auf Vereinsseite geht es vor allen Dingen um ganz rationale, wirtschaftliche Fragen, während viele Fans emotional argumentieren. Deshalb wird es auch weiterhin zu Kommunikationsproblemen kommen.
In der Zwischenzeit haben sich auch die Sozialromantiker wieder zu Wort gemeldet und verlautbaren lassen, dass sie mit dem Erreichten bei weitem nicht zufrieden seien. Zwar begrüßen sie die Einrichtung einer »Prüfungsgruppe Marketing«, die jede neue Vermarktungsmaßnahme vorab kritisch bewerten soll, doch fragen sie sich zu recht, was diese bewirken soll, wenn in ihr dieselben Leute sitzen, die auch bisher die Entscheidungen in diesem Bereich getroffen haben. Recht haben sie auch mit ihrem Einwand, dass Kindergartensponsoring im Tausch gegen ein Werbebanner in einem Erstligastadion wohl eher Werbung als Philanthropie ist. Ihr Vorschlag, die graue Wand um das Logo der Bank herum solle doch von Fans oder Kindern aus der Kindertagesstätte bunt bemalt werden, verfehlt jedoch das Thema, würde die Bemalung doch nichts an den Gegebenheiten ändern, sondern sie höchstens optisch kaschieren.
Andererseits scheint es den Sozialromantikern vor allem darum zu gehen, sich in »ihrem Stadion« und mit »ihrem Verein« wohl zu fühlen. In gewisser Weise erscheinen sie sogar durchaus wertkonservativ, nur dass ihre Werte nicht denen des Mainstream entsprechen, sondern auf der oral history der sanktpaulianischen Fanszene beruhen. Für weiter gehende Forderungen oder radikalere Rhetorik wären aber wohl auch schwerlich Mehrheiten zu finden. So sehr die tatsächlichen Veränderungen begrüßenswert sein mögen, die der von den Sozialromantikern ausgelöste Prozess schon gebracht hat und vielleicht noch bringen wird: Tonfall und Habitus der Gruppe erinnern eher an eine Bürger­initiative gegen einen neuen Hauptbahnhof als an einen politisch progressiven Zusammenschluss, der nach wirklicher Veränderung strebt. Die Sozialromantiker blenden auch die Frage aus, ob alternatives Flair und Bundesligafußball sich überhaupt ohne nennenswerte Abstriche miteinander vereinbaren lassen. Vielleicht hat aber einfach St. Paulis Torwart Recht, der Ex-Hausbesetzer Volker Ippig, der im Gespräch mit der Hamburger Morgenpost so lapidar wie richtig feststellte: »Wir leben doch heutzutage alle im Kommerz und St. Pauli auch.«