Thilo Sarrazin und die Statistik

Die Zahlen des Schöpfers

Der Umgang Thilo Sarrazins mit Statistiken wurde oft kritisiert. Doch die Richtigstellung wird die Bewunderer des Bestsellerautors nicht überzeugen.

Einer Sache ist sich Thilo Sarrazin sicher. Nur moralische Empörung könnten seine Kritiker den Kolonnen von Zahlen und Tabellen entgegensetzen, die er in seinem Buch »Deutschland schafft sich ab« präsentiert. »Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten«, behauptete er Ende Dezember in der FAZ. Sarrazins Einschätzung ist ein bezeichnendes Beispiel für die selektive Wahrnehmung, die den öffentlichen Gebrauch von Statistiken prägt. Tatsächlich wurde bereits unmittelbar nach dem Erscheinen seines Buches scharfer Widerspruch laut. Hans Wolfgang Brachinger, der Präsident der Bundesstatistikkommission, beklagte in der Neuen Zürcher Zeitung den »statistischen Analphabetismus« des Bestsellerautors. Christoph M. Schmidt, Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), warf Sarrazin im Handelsblatt einen Griff in die »Mottenkiste der Rassentheorie« vor. Mehrfach kritisierte die Berliner Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan das von Sarrazin aufgearbeitete Zahlenmaterial. Ihr Forschungsprojekt »Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle« (Heymat) legte im Dezember ein Update der bereits im September verbreiteten Studie »Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand« vor, die große Aufmerksamkeit in den Medien fand. Für die Bereiche der strukturellen, kulturellen und sozialen Integration wird ein Konvolut von Ergebnissen präsentiert, die von Sarrazins Befunden deutlich abweichen. In der Tat wirkt schon Sarrazins grundsätzlicher Umgang mit Zahlen fragwürdig. Seine Angaben zur Anzahl von Muslimen in Deutschland wirken wie die Kari­katur von Gesellschaftsdiagnosen, die nach den Grundsätzen der kaufmännischen Inventur verfasst wurden: zählen, messen, schätzen. »Muslimische Migranten« nennt Sarrazin Personengruppen aus den Herkunftsgebieten Bosnien und Herzegowina, der Türkei, dem Nahen und Mittlerer Osten sowie Afrika. Wegen der Unsicherheiten in der Zählweise liege deren Zahl nicht wie offiziell vom Mikrozensus angegeben bei etwa drei Millionen, sondern bei »rund 5,7 Millionen«. Die Anzahl könne aber »auch sechs bis sieben Millionen« betragen. Zwar rechnet Sarrazin die Minderheit der Christen heraus. Doch die einfache Koppelung von geographischer Herkunft und Religionszugehörigkeit hätte auch jene Leserinnen und Leser verblüffen können, die sich im Studium nicht mit akademischer Fliegenbeinzählerei langweilen mussten. Laizistische Türken oder atheistische Araber werden in Sarrazins Zählweise schlicht ignoriert. Die bloße Herkunft aus der Türkei dient nicht nur ihm bereits als Beweis der Religiosität. Was die Berliner Forscherinnen und Forscher an Ergebnissen präsentieren, wäre für apokalyptische Warnungen vor muslimischen »Parallelgesellschaften« ungeeignet. Beispielsweise nehme die Häufigkeit des Kopftuchtragens bei muslimischen Mädchen und Frauen signifikant ab. Entgegen den Zahlen, die Sarrazin vorlegt, sei seit 2002 die Zahl der türkischen Staatsangehörigen, die Deutschland verließen, größer als die der Zuwanderer. Gerade bei Studierenden mit türkischem Migrationshintergrund nehme der Wunsch zu, in die »Heimat« der Eltern zurückzukehren. Hier wird Deutschland zum Auswanderungsland. Bei der Vorlage der Ergebnisse verfällt die Berliner Forschergruppe jedoch in eine für Statistiker typische Argumentation. Im Vergleich zur Generation der Eltern, von denen nur drei Prozent über einen höheren Abschluss verfügten, sei bei den »Bildungsinländern« mit türkischem Migra­tionshintergrund ein »Bildungsanstieg« von etwa 800 Prozent zu verzeichnen, »obwohl gerade diese Gruppe von Sarrazin als besonders lernunfähig darstellt wurde«. Angesichts dieses rasanten prozentualen Anstiegs wäre die deutsche Bildungspolitik eine imposante Erfolgsgeschichte und die Frage nach einer strukturellen Diskriminierung zwischen Michael und Mehmet hinfällig. Doch selbst wenn der Berliner Gegenentwurf unwiderlegbar stichhaltig wäre, stieße der Versuch, Sarrazin auf dem Feld der Statistik heraus­zufordern, an die Grenzen der Aufklärung. Schon kurz nach dem Vorabdruck des Buches zeigte ein Blick in die Internetforen und Leserbriefspalten, dass die dort präsentierten »Fakten« oft nur einen längst feststehenden Befund untermauern. Nicht nur bei Sarrazin dienen Statistiken, Umfragen und Prognosen als Synonym für »Wahrheit«. Statistisch erfasste »Empirie« dient der Letztbegründung einer Politik und Sozialkritik, deren Wahrheitsanspruch in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mit theologischen oder ideologischen Axiomen verbindlich unterlegt werden kann. Gleichzeitig bieten Statistiken die wohlfeile Möglichkeit, vorurteilsbehaftete Aussagen mit scheinbar hartem empirischem Material zu stützen. Statistiken sind einer dem Zählzwang verfallenen Sozialwissenschaft und steril gewordenen Politikberatung das Surrogat für fehlende Argumente. Und obwohl alle politischen Strömungen von links bis rechts dem Datenfetisch huldigen, gilt das ebenso schlichte wie eherne Gesetz, wonach nur die Zahlen der Gegenseite als ominös zu gelten haben. »Wissenschaftlich« argumentiert Sarrazin mit Zahlen und Zitaten. Dazu dient der redundante Rekurs auf eine stattliche Phalanx von Autoritäten wie Charles Darwin, Francis Galton, Irenäus Eibl-Eibesfeld, Gunnar Myrdal, Richard Lynn, Charles Murray oder Volkmar Weiss. Namen, die für eine Biologisierung des Sozialen und Begriffe wie »Zuchtwahl« und »negative Selektion« stehen. Der Intelligenzforscher Weiss wurde beispielsweise auf Vorschlag der NPD als »Experte« in die Enquetekommission »Demographie« des Freistaats Sachsen berufen. Doch die Zweifel an Sarrazins Quellen wurden kaum zur Kenntnis genommen. Weitgehend unwidersprochen blieb auch die Auffassung, dass für die Mehrheit der migrantischen und autochthonen Unterschicht der »Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt« sei. Die Subalternen, so Sarrazins biologistischer Schluss, erben »gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern« und werden »durch deren Bildungsferne und generelle Grunddisposition benachteiligt«. Aussagen wie diese bieten dem Angehörigen der deutschen Ober- und Mittelschicht die Möglichkeit zu Abgrenzung und Umverteilungsabwehr, während der eigene Status als vermeintlicher »Leistungsträger« als genetisch bedingt, also »natürlich« betrachtet werden kann. Welche Auflage bekäme wohl die Kritik dieser anti-egalitären Herrenreiterideologie? Es ist unwahrscheinlich, dass jene, die eine »Enttabuisierung« eugenischer Ideologie mit einem Spitzenplatz in den Verkaufslisten adelten, sich von einer Studie erschüttern lassen, die nüchtern mit den Legenden, Lügen und Vorurteilen über die muslimischen Communities aufräumen will. Es bleibt auffällig, wie vehement gerade viele der sogenannten Islamkritiker ihren Obsessionen nachgehen. In einschlägigen Internetforen wie »Politically Incorrect« tobt sich diese Gemeinde mit ebenso misogynen wie rassistischen Invektiven gegen die prominente Sarrazin-Kritikerin Foroutan aus. Für den radikalisierten Teil seiner Anhängerschaft ist sie das zentrale Feindbild. Den linksliberalen Kritikern Sarrazins bietet die Berliner Forschergruppe empirisches Material. Doch reicht zum Verständnis von Sarrazins »Methode« im Kern ein in der Süddeutschen Zeitung zitierter Satz aus. Im Frühjahr 2010 wurde noch über das »Kopftuchmädchen«-Interview aus der Zeitschrift Lettre International debattiert. Reiner Klingholz, der Direktor des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, hatte seinerzeit bemerkt, dass Sarrazins Zahlenangaben statistisch vielfach nicht belegbar seien. Wenn man keine Zahl habe, erwiderte Sarrazin in der Süddeutschen Zeitung, so müsse »man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch«. Doch die mit interessengeleiteter Willkür »geschöpften« Zahlen galten schon damals nicht als Teil einer abseitigen Erbbiologie eines dilettierenden Privatgelehrten. Die Ideologie trifft auf ein gesellschaftliches Interesse. Zu sehr bestätigen Sarrazins Befunde die Wahrnehmung seines Publikums, das nicht allein durch die Widerlegung falscher Zahlen aufgeklärt werden kann. Ungenügend wäre auch die schlichte Ideologiekritik des »falschen Bewusstseins«. Der britische Soziologe Stuart Hall hatte bereits in der Auseinandersetzung mit dem Thatcherismus die Schwächen einer Ideologiekritik benannt, die von einem »objektiven Standpunkt« aus die »Verblendung der Massen« entlarvt. Denn interessant ist Hall zufolge nicht, ob eine Ideologie falsch ist, sondern wie sie funktioniere. Den Begriff »wahr« verwendet Hall nicht im Sinne von normativ wünschenswert oder wissenschaftlich richtig, sondern im Sinne von alltagstauglich oder »einleuchtend«. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Zustimmung, die Sarrazin erfährt. Sein Zahlenmaterial wird als Bestätigung einer Alltagsempirie in der Konkurrenzgesellschaft gelesen, die Einwanderung nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung erfährt. Wurden soziale Konflikte zuvor traditionell ethnisiert, so werden sie nun auch biologisiert. Dass staatsalimentierter Müßiggang zur kulturellen Folklore der Muslime und genetisch bedingt zu deren »Attitüde« gehört, wird man doch wohl noch sagen dürfen. Die Schuldzuweisung bei Sarrazin und den ihm zustimmenden Lesern ist klar: Nicht der Primat der Deutschen auf dem Arbeitsmarkt und die immer noch nachwirkende Tradition des Rechts der Blutsbande (ius sanguinis) im deutschen Staatsbürgerschaftsrecht gelten als Ursachen für »In­tegrationsdefizite«. Die »Defizite« werden ausschließlich den Subjekten, den muslimischen Migranten und Angehörigen der deutschen Unterschicht, angelastet. Dieser »wahre« Kern der Ideologie lässt sich allerdings nicht mit dem Hinweis erschüttern, dass der Anteil der muslimischen Schülerinnen, die nicht am Schwimm- und Sportunterricht teilnehmen, tatsächlich »nur« sieben bis zehn Prozent beträgt. Warum Sarrazins Zahlenzauber so wirksam ist, lässt sich mit den Mitteln der Statistik kaum durchschauen.