Mit der Karawane für Bewegungsfreiheit zum WSF in Dakar

Internationalismus mit Grenzen

Mit einer Karawane aus Mali zum Welt­sozialforum in der senegalesischen Hauptstadt Dakar wagten antirassistische Gruppen aus Afrika und Europa ein Experiment: Sie wollten die Arbeit europäischer Initiativen mit den Basisbewegungen zusammenbringen, die in Afrika zu den Themen Bewegungsfreiheit, Flucht und Migration arbeiten.

An der Wand hängt ein Transparent: »Gestern kolonisiert, heute abgeschoben, morgen bewegungsfrei«. Doch zunächst sieht es noch nicht danach aus. Das Leben der etwa 40 Abgeschobenen spielt sich überwiegend in einem engen Hof ab, so groß, dass man etwa zwei Autos darin parken könnte. Das Haus in einem armen Außenbezirk der malischen Hauptstadt Bamako beherbergt Menschen, deren Suche nach einem anderen Leben gescheitert ist. Hier unterhält die Association des Refoulés d’Afrique Central en Mali (Aracem) eine Notunterkunft für Menschen, die den Weg nach Europa nicht geschafft haben.
Ein kleines Vordach spendet ein wenig Schatten, einige Stühle stehen an den braunen Mauern. Drinnen kämpft ein alter Ventilator vergebens gegen die brütende Hitze, dünne Gitter vor den Fenstern sollen die vielen Mücken fernhalten, die in den offenen Abwasserkanälen an den Straßenrändern rundum nisten und Malaria verbreiten. Die etwa 30 Männer und wenigen Frauen teilen sich eine Toilette und eine Dusche. Es gibt keine Bücher und keine Schränke, in denen sie ihre Habseligkeiten verstauen könnten. Doch das ist das kleinste Problem, denn die meisten der Untergekommenen haben gar nichts, was sie verstauen müssten. Schwerer wiegt, dass das monatliche Budget der Aracem nur ausreicht, um für zwei Wochen Lebensmittel einzukaufen. Jetzt, am Ende des Monats, hungern die Bewohnerinnen und Bewohner, denn sie haben seit Tagen nichts gegessen.

Dies ist die Lage, als an einem Montagabend etwa 20 deutsche, österreichische und niederländische Mitglieder antirassistischer Gruppen bei der Aracem in Bamako eintreffen. Sie sind die letzten von etwa 50 Aktiven des europäischen Zweigs des kürzlich gegründeten Netzwerks Afrique-Europe-Interact (AEI). Nach Mali sind sie gekommen, um mit etwa 200 Mitgliedern afrikanischer Migrantenorganisationen zum Weltsozialforum in Dakar zu ziehen. Bevor es losgeht, wohnen sie in der Unterkunft der Aracem.
»Europa öffnet sich nach innen«, sagt Alasanne Dicko, 39, aus der Côte d’Ivoire, der vor Jahren in Brüssel in Haft genommen und abgeschoben wurde. »Gleichzeitig zwingt das Afrika dazu, seine Grenzen zu schließen.« Dicko hat AEI mitgegründet. »Milliarden an Entwicklungshilfe für Afrika« seien immer häufiger an die Kooperation bei der Migrationsabwehr gekoppelt, sagt er. Hinzu komme die wirtschaftliche Ausplünderung des afrikanischen Kontinents durch Raubbau an Rohstoffen und als Absatzmarkt subventionierter Güter. Strukturanpassungsprogramme, Schulden, Protektionismus, die Unterstützung von Diktaturen – »Europa regiert nach Afrika hinein«, sagt Dicko. Die Lösung könne nicht sein, dass alle jungen Menschen versuchen, Afrika zu verlassen. Ihm seien Bewegungsfreiheit und soziale Rechte im Süden gleich wichtig. Mit der Buskarawane in die senegalesische Hauptstadt Dakar will AEI beides fordern.
»Was wir versuchen, ist ein Internationalismus, der sich selbst ernst nimmt«, sagt Olaf Bernau von AEI. Er kommt aus Bremen und ist in Deutschland in antirassistischen Gruppen aktiv. Doch deren Arbeit reiche nicht aus. »Unsere Fragen sind die gleichen wie die der einstigen Dritte-Welt-Soli-Bewegung oder der Anti-Schulden-Bewegung: Letztlich muss das Ausbeutungsverhältnis zwischen dem Norden und dem Süden überwunden werden.« Das gehe nur, wenn Basisorganisationen »direkt und auf Augenhöhe nach gemeinsamen Analysen suchen, um hier wie dort den nötigen politischen Druck aufzubauen«, sagt Bernau.
Der Weg zu einer gemeinsamen Praxis ist angesichts der grundsätzlichen sozialen Unterschiede zwischen den europäischen und den afrikanischen Aktivisten beschwerlich. Am Morgen nach ihrer Ankunft wird den Gästen der Aracem nur langsam klar, dass es für sie kein Frühstück geben wird – und dass es für ihre Gastgeber auch schon länger keines mehr gab. Doch um sie direkt um Geld für Essen zu bitten, waren die Mitarbeiter der Aracem zu höflich. Die Europäer diskutieren und beschließen, aus der Gemeinschaftskasse der Karawane auf dem Markt Lebensmittel einzukaufen. Nicht alle sind sich sicher, ob das klug ist. Einige fürchten, die anderen Organisationen von AEI aus Mali, die keine Gäste abbekommen haben, sich aber in der gleichen Lage befinden, könnten sich ungerecht behandelt fühlen. Eine junge Frau, die in der Nacht im Schlafraum ein Baby geboren hat, gibt den Einkäufern eine Liste mit: Sie kann nicht stillen und bittet um Milchpulver.

Emmanuel, der kamerunische Präsident der Aracem, zeigt den Gästen die Gegend um die Notunterkunft. Zwei Straßen entfernt liegt einer der drei Busbahnhöfe von Bamako. Von hier starten Busse in fast alle Länder Westafrikas. Doch die 20-stündige Fahrt in die Hauptstadt Ghanas, Accra, kostet umgerechnet 70 Euro, nach Kamerun sind es 100 Euro. Für viele der Gestrandeten, die meist von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex auf dem Weg zu den kanarischen Inseln abgefangen wurden, ist das unbezahlbar.
So ist die nächste Etappe ihrer Reise in den meisten Fällen nicht die Busfahrt nach Hause. Sie spielt sich stattdessen ein kleines Stück stadteinwärts ab. Dort, an der vielbefahrenen Straße in Richtung Flughafen, hat einst der Präsident der Côte d’Ivoire seinen Landsleuten im Exil ein Geschenk gemacht. Er ließ eine Markthalle errichten, einen lichten, doppelstöckigen Bau, groß wie drei Turnhallen, mit halbrundem Dach und Platz für viele kleine Geschäfte. Ivorische Händler sollten dort die vielen Arbeitsmigranten aus der Côte d’Ivoire mit den Dingen des täglichen Bedarfs versorgen. Das Gebäude ist weit und breit das größte und modernste. Das Infrastrukturprojekt scheiterte dennoch. Händler verschmähten die Lokale. Stattdessen bezogen die Refoulés die düsteren, stickigen, nach Urin stinkenden und mit Metallgittern verrammelten Kabinen. Nach zwei Wochen muss jeder die Notunterkunft der Aracem verlassen – wenn neue Abgeschobene ankommen, sogar noch früher. »Hierhin kommen viele, die nicht mehr bei uns bleiben können«, sagt Emmanuel und klopft an eines der Metallrollos. Nach kurzer Zeit hebt es sich ein wenig, und ein junger Mann in einem erbärmlichen Zustand klettert heraus. Die Europäer schauen sich entsetzt an, niemand wagt, ein Foto zu machen.
Als am Abend einer der Deutschen zum nahen Kiosk geht, geht ein junger Kameruner hinterher. »Was muss ich tun, damit ihr mich nach Dakar mitnehmt?«, fragt er und bittet um Geld für Zigaretten. Er hofft auf eine neue Chance in Senegal. Natürlich sah die vor über einem Jahr begonnene Planung der Tour vor, dass die afrikanischen Organisationen – ebenso wie die europäischen – selbst entscheiden, wer von ihnen an der Karawane teilnimmt. Doch das Geld reichte nur für fünf Busse, der Aracem stehen nicht mehr als ein gutes Dutzend Plätze darin zu.

»Arbeit auf Augenhöhe ist unsere Zielsetzung, aber natürlich ist sie in vielen Punkten schwierig«, sagt Bernau. Doch im praktischen Umgang mit den sozialen Widersprüchen sieht er darin den einzigen Weg, um »langfristig gemeinsam politisch handlungsfähig zu werden«. Mit ihren Einkünften könnten die meisten afrikanischen Teilnehmer »nur ihren nächsten Tag finanzieren, aber nicht zehn Tage im voraus. Deswegen ist auch klar: Mitkommen können sie nur, weil das Essen und die Übernachtung gezahlt werden. Die Ressourcen kommen aus dem Norden.« Die Herausforderung sei, hieraus »keine Ansprüche abzuleiten. Und umgekehrt muss für die aus dem Süden klar werden, dass das auch ernst gemeint ist«, sagt Bernau.
Immer wieder werden in den nächsten Tagen die sozialen Unterschiede deutlich. Wenn die Europäer beiseite gezogen werden, um sie um Hochzeiten, Geld für Flugtickets, eine Einladung nach Europa zu bitten. Oder wenn bei einer Mittagspause an einer Raststätte alle 1 000 Francs zum Essen erhalten und die Europäer essen, während einige der Afrikaner das Geld lieber einstecken und nichts essen. Oder wenn es in einem Malariagebiet bei der abendlichen Verteilung der Moskitonetze Tumulte unter den Afrikanern gibt, während die meisten der Europäer noch ihr eigenes Zelt im Rucksack haben.
»Natürlich ist das eine wahnsinnige Mangelökonomie hier«, sagt Bernau. Unterwegs gab es genügend Isomatten, Essen und Netze für alle. »Trotzdem wurde sich gebalgt, getrieben von der gewohnten Angst, man könnte doch nichts abkriegen.« Für die Aktivisten aus dem Norden sei dies etwas, das man »politisch übersetzen muss. Da darf man keine rassistischen Bilder zulassen, dass Leute in Afrika schnell hitzig werden.«
»Es kann keine Freiheit geben ohne Bewegungsfreiheit, keine Würde ohne gleiche, an keine Bedingung geknüpfte Rechte.« Mit diesen Worten rief der italienische Theoretiker Toni Negri zu Spenden für das Karawane-Projekt auf, ebenso wie John Holloway (»Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen«). Dennoch gelang es AEI bisher nicht, die 100 000 Euro aufzutreiben, die die Karawane insgesamt verschlang. »Wir verwalten unseren Etat gemeinsam, aber es wird von der afrikanischen Seite ausgegeben und verteilt. Darin sehen wir die ersten praktischen Lernschritte, um wegzukommen von paternalistischen Mustern«, sagt Bernau.
In den Aktionen der Karawane schlug sich die angestrebte Gemeinsamkeit tatsächlich nieder. Insgesamt 2 000 Kilometer fuhr man in fünf Bussen bis nach Dakar. Dabei demonstrierte sie mit einer Delegation der Sans Papiers aus Paris vor der französischen Botschaft, um ein Aufenthaltsrecht für die rund 50 000 malischen Papierlosen in Frankreich zu fordern. In Nioro, einem Zentrum der Auswanderung, trugen die Teilnehmer in einem Trauermarsch eine Liste mit den Namen von über 14 000 an den europäischen Außengrenzen Getöteten durch die Stadt. In Gogui, an der mauretanischen Grenze, hielt die Karawane erstmals eine Demonstration in der afrikanischen Wüste ab, um dagegen zu protestieren, dass vor Europa abgefangene Migranten unter lebensgefährlichen Bedingungen an den Südgrenzen Algeriens, Libyens und Mauretaniens ausgesetzt werden. Vor einem malischen Luxushotel denunzierten die Aktivisten die europäischen Teilnehmer einer Wüsten-Rallye, die sich in Interviews rassistisch darüber geäußert hatten, dass bei ihrem Rennen möglicherweise zwei senegalesische Kinder totgefahren wurden. In der Stadt Kayes wurde ein Theaterstück aufgeführt, dass das Schicksal des in einer Dessauer Polizeizelle verbrannten Asylbewerbers Oury Jalloh schilderte. Im senegalesischen Kaolack war die Karawane zu Gast bei einer feministischen Konferenz und diskutierte mit den afrikanischen Frauenorganisationen über ein Dokument für das WSF. Auf der Insel Gorée, dem einstigen Hauptumschlagplatz für den Sklavenexport nach Amerika, nahmen Delegierte der Karawane an der Verabschiedung der »Charta der Migranten« teil. Und auf dem Weltsozialforum war sie mit Workshops Demonstrationsblock und einem Aktionstag gegen das Frontex-Büro vertreten. »Wir repräsentieren alle Perspektiven«, sagt Bernau. »Die der zuhause Gebliebenen, die der Abgeschobenen, die der Migranten, die es geschafft haben, und die der Europäer, die solidarisch mit den Migranten zusammenarbeiten.« Ihre Forderungen könne die Karawane so »viel glaubwürdiger auf ein WSF bringen als durch expertokratische Referate«.

Auch die politischen Konflikte verlaufen während der Tour nicht zwischen Norden und Süden. Am Vorabend einer Demonstration vor der Vertretung der EU ist unklar, ob die Aktion bei den Behörden angemeldet werden soll. Eigentlich ist es dafür ohnehin zu spät, denn Versammlungen müssen in Mali 48 Stunden vor ihrem Beginn bei der Polizei angekündigt werden. Doch viele haben Angst, dass diese auf eine unangemeldete Demonstration genauso reagieren wird wie einige Tage zuvor vor der französischen Botschaft: mit Knüppeln und Tränengas. »Die Polizei hier ist nicht besser als die, die in Europa Flüchtlinge jagt und einsperrt«, sagen andere. Als sich eine Deutsche im Plenum zu Wort meldet und nach der Anmeldung fragt, reagiert der Angesprochene aus Mali unwirsch und verlässt wütend die Versammlung. Vielen ist sein harscher Auftritt peinlich. »Das ist ja wie bei Ben Ali in Tunesien, wenn man hier nicht mal mehr Fragen stellen darf«, schimpft ein Kongolese von der Bauernorganisation Via Campesina. Das Verhältnis zur Polizei beschäftigt die Karawane noch öfter. Es sorgt für ähnlich hitzige Debatten wie in Europa.
Als eine weitere Buskolonne mit Landlosen, Bauern und Mitgliedern anderer Basisinitiativen aus Zentralafrika in Bamako eintrifft, um sich AEI auf dem Weg nach Dakar anzuschließen, bricht fortan immer wieder großes Chaos aus. Für die Teilnehmer heißt es nun meist: Stundenlang warten, bis Entscheidungen von den vielen Chefs und Generalsekretären der beteiligten Organisationen stehen. Einige Programmpunkte fallen dadurch aus. Die Afrikaner, die an solche Prozesse vermeintlich wegen der hierarchischen Strukturen ihrer Organisationen eher gewohnt sind, ärgert dies ebenso wie viele Europäer. Als nach einigen Tagen im senegalesischen Kaolack alle in einer Kneipe zusammensitzen, klagt eine Gruppe junger Menschen aus Togo. »Das war ein totales Durch­einander mit denen, kaum auszuhalten«, schimpfen sie und reichen eine Flasche Whiskey herum. In Dakar, so hoffen sie, mögen die Aktionen etwas schneller ablaufen. »Deswegen sind wir ja schließlich losgefahren.«
»Natürlich nervt es, wenn man so viel über logistische Dinge reden muss: was isst man, wo schläft man, wann fahren wir los«, sagt Bernau. »Aber wenn man unsere eigentliche Zielsetzung ernst nimmt, in der Zusammenarbeit gemeinsam Lösungen zu finden, dann sehe ich das eher positiv.« Nur so könne »praktisches Vertrauen entstehen, das sich hoffentlich später in politisches Vertrauen übersetzt«.