Maryam Namazie im Gespräch über die britische Kampagne gegen die Sharia-Gerichte

»Auch Schweigen kann rassistisch sein«

Seit den frühen achtziger Jahren gibt es in Großbritannien Sharia-Gerichte, in denen vor allem in Scheidungsfragen und anderen Bereichen des Familienrechts in­offiziell Recht gesprochen wird. Seit 2007 existieren zudem sogenannte Muslimische Schiedsgerichte (MAT), die als rechtlich anerkannte Schlichter fungieren. Die im Dezember 2008 gegründete Kampagne »One Law for All« setzt sich in Großbritannien gegen die Sharia-Gerichte und andere Formen religiöser ­Gerichtsbarkeit ein, da deren Rechtsprechung keine Gleichheit vor dem Gesetz kenne und sich nicht an den Menschenrechten orientiere.

Sharia-Gerichte sind in Großbritannien seit bald 30 Jahren aktiv, Ihre Kampagne dagegen gibt es erst seit kurzer Zeit. Sind die Gerichte nicht bereits etabliert?
Nach ihren eigenen Statistiken haben die Sharia-Gerichte seit Mitte der achtziger Jahre über 7 000 Fälle behandelt, die neueren islamischen Schiedsgerichte Hunderte von Fällen. Aber sie drängen nun auf weitere Legitimierung und wollen auch Fragen verhandeln, die bei ihrer Gründung noch nicht vorgesehen waren. Wir kämpfen gegen alle religiösen Gerichte, da sie diskriminierend, frauenfeindlich, homophob und einfach nicht mit den Bürgerrechten des 21. Jahrhunderts vereinbar sind. Aber unser Widerstand hat eine antirassistische und menschenrechtliche Perspektive – das festzuhalten, ist uns wichtig, da sich auch die radikale Rechte gegen die Sharia-Gerichte wendet – aber aus einer rassistischen und migrantenfeindlichen Perspektive.
Was fordern Sie konkret?
Alle religiösen Gerichte sollten als diskriminierend verboten werden. Es gibt zum Beispiel seit langer Zeit auch jüdische Gerichte, die Beth Din. Ich weiß, dass manche Leute solche Verbote als totalitär ablehnen, aber Verbesserungen kommen oft durch Gesetzesänderungen zustande, man denke etwa an das Verbot von Kinderarbeit. Manchmal sind Verbote zum Schutz von Rechten notwendig.
Welche Konsequenzen haben die Sharia-Gerichte für Frauen?
Frauen haben beispielsweise nicht das Recht auf eine Scheidung, Männer dagegen müssen nicht einmal vor Gericht gehen, um sich von ihrer Frau scheiden zu lassen. Deshalb stellen Scheidungen, bei denen sich Frauen von ihren Männern scheiden lassen wollen, die große Mehrheit der verhandelten Fälle dar. Das Sorgerecht für Kinder ist ein weiteres Problem. Als Ergebnis langer Kämpfe wird heute im säkularen Recht darüber mit Blick auf das Wohl des Kindes entschieden. Nach der Sharia dagegen kommt das Sorgerecht ab einem gewissen Alter der Kinder immer dem Vater zu, auch wenn es eine Vorgeschichte von Gewalt und Missbrauch gibt. Bei Erbschaften erhalten Frauen nur die Hälfte, ihre Zeugenaussage gilt nur halb so viel wie die eines Mannes. Vergewaltigung in der Ehe oder häusliche Gewalt werden wegdefiniert und nicht als Straftaten behandelt. Das oberste Ziel von religiösen Gerichten ist es stets, die Familie trotz allem zusammenzuhalten.
In der Selbstdarstellung des »Islamic Sharia Council« werden islamische Institutionen als essentiell für das Überleben der islamischen Gemeinschaft außerhalb islamischer Länder bezeichnet. Würde nicht das Recht der Muslime auf Religionsausübung eingeschränkt, wenn die Sharia-Gerichte verboten wären?
Nein, denn es gab Generationen von Muslimen in Großbritannien und anderen Ländern, die niemals das Sharia-Gesetz hatten. Es ist eine von Islamisten verbreitete Fehlannahme, dass die Sharia mit muslimischer Identität und Glaubensausübung gleichzusetzen sei. Die Forderung nach der Sharia kam historisch mit der islamistischen Bewegung auf, die Entstehung von Sharia-Gerichten hängt ganz klar mit der islamischen Revolution im Iran und dem weltweiten Erstarken des Islamismus zusammen. Viele muslimische Frauen beteiligen sich an unserer Kampagne und fragen, wie es sein kann, dass muslimische Frauen vor 30 Jahren nicht zu Sharia-Gerichten gehen mussten, heute aber schon. Sharia-Gerichte haben wenig mit freier Entscheidung, aber viel mit Druck, Einschüchterung und dem Erstarken des Islamismus zu tun.
Verschiedenen Umfragen zufolge befürworten viele oder gar die Mehrheit der Muslime in Großbritannien Sharia-Gerichte.
Wenn man eine ganze Community als islamisch etikettiert, händigt man sie islamistischen Organisationen wie dem Muslim Council of Britain aus. Die wachsende Zustimmung zu Sharia-Gerichten hängt damit zusammen, dass man Leuten keine andere Wahl lässt und sie in eine Ecke drängt. Aber es gibt keine homogene islamische Gemeinschaft, und die Rede von der »islamischen Gemeinschaft« ist Teil eines Islamisierungsprozesses. Wir sagen, wenn man für Muslime und überhaupt Menschen mit all ihrer Unterschiedlichkeit eintreten will, muss man als Minimum gleiche Rechte fordern. Und gleiche Rechte bedeutet ein gleiches, säkulares Recht, welches das Resultat jahrhundertelanger harter Kämpfe etwa der Frauen- und Arbeiterbewegung ist.
Gibt es auch Organisationen von liberalen Muslimen in Großbritannien, die die Sharia ablehnen?
Ich denke, es gibt keine wirklich liberale Religion, aber eine Religion wird liberaler, wenn sie aus der Öffentlichkeit gedrängt wird. Das Christentum wirkt heute nur harmloser, weil die Aufklärung gegen die Inquisition vorgegangen ist, und ähnliches muss heute mit dem Islam geschehen: Drängt ihn aus der Öffentlichkeit, behandelt ihn politisch und bekämpft die islamistische Bewegung. An diesem Kampf sollten sich alle beteiligen, ich sehe dafür keine größere Verantwortung für Muslime als für Nicht-Muslime, das wäre unfair. Denn so bringt man Muslime wieder mit dem Islamismus zusammen, so als ob man Schwarzen eine besondere Verantwortung für den Kampf gegen Apartheid aufbürdet. Islamismus ist eine globale Bewegung, ebenso wie der Kampf gegen ihn.
Sie haben vor kurzem eine Veranstaltung mit dem Titel »Feinde, nicht Verbündete« organisiert. Wer sind die falschen Freunde, um die es da ging?
Ich denke, wir vertreten mit unseren Positionen die große Mehrheit der Menschen – nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit. Das Problem ist, dass die radikale Rechte das Thema Sharia an sich gerissen hat, und das macht es für viele Leute sehr schwer, sich dagegen auszusprechen, denn niemand will Rassismus fördern. Und dann gibt es die progressiven und linken Kräfte, die praktisch pro-islamistisch sind und jede Kritik an Islam und Islamismus als rassistisch und islamophob bezeichnen. Auch das bringt Leute zum Schweigen. Aber Schweigen kann praktisch rassistisch sein, denn es ist zutiefst rassistisch, wenn Menschen unterschiedliche Rechte zugestanden werden und sie mit unterschiedlichen Standards behandelt werden, wie es für muslimische Frauen bei Sharia-Gerichten der Fall ist. Die pro-islamistische Linke verteidigt diese Gerichte. Die Rechte bekämpft sie, aber sie bekämpft auch jene, die vor solchen Gerichten hierher geflohen sind, also ihre ersten Opfer.
Es scheint gerade in Großbritannien trotz Ihrer Kampagne eine beträchtliche Toleranz für Sharia-Gerichte zu geben.
Das ist kein britisches Problem, in Kanada hat die Regierung Sharia-Gerichte unterstützt, bis es Proteste gab, aus Deutschland gibt es Berichte über entsprechende Gerichtsentscheidungen. Das ist ein Resultat des allgegenwärtigen Kulturre­lativismus, demzufolge alles gleichwertig und gleich gültig ist, da geht es um eine Art Rassismus der niedrigeren Standards und Erwartungen. Aber das ist auch ein politisches Problem. Westliche Regierungen haben kein generelles Problem mit Islamismus, einige der engsten Verbündeten der britischen und deutschen Regierungen sind islamische Staaten. Ihr Problem ist islamistischer Terrorismus, den sie durch Appeasement gegenüber dem Islamismus loszuwerden versuchen. Dabei ist der Terrorismus nur der militärische Flügel dieser Bewegung, die durch Sharia-Gerichte noch stärker werden wird. Der Irak ist heute islamischer als vor dem Krieg. In Afghanistan redet man ­darüber, die Taliban wieder an die Regierung zu lassen, britische Truppen etablieren informelle Sharia-Gerichte, die Sharia ist Teil des afghanischen Rechts und Menschen werden wegen Blasphemie hingerichtet.
Sehen Sie als Linke nicht die Gefahr, sich in Abgrenzung zur Sharia allzu positiv auf die bestehenden Gesetze des Staats zu beziehen?
Höchstwahrscheinlich gibt es mehr ungerechte als gerechte Gesetze, es geht nicht darum, dass das britische Gesetz perfekt ist, aber es ist das Ergebnis sozialer Kämpfe. Als Arbeiterkommunistin, die Sozialismus will, kämpfe ich unterschiedliche Kämpfe, für ein Ende der Islamischen Republik im Iran, für gleiche Rechte in Großbritannien, für das Recht auf Apostasie und gegen Ehrenmorde weltweit. Aber all das sind Kämpfe für eine bessere Welt, sie hängen zusammen, und es ist die Aufgabe der Linken, wo immer möglich für Verbesserungen der Lebensbedingungen zu kämpfen, wie klein diese auch immer sein mögen. So gesehen verstehen wir uns gerade angesichts der kläglichen Vorwände eines pro-islamischen Mainstreams in der europäischen Linken als Vertreter der eigentlichen Linken.