Stellt eine neue Studie zu den Olympischen Spielen 1972 vor

Dabeisein soll alles sein

Eine neue Studie zeigt, wie die Olympischen Spiele 1972 Deutschland zu ein bisschen Weltoffenheit verhalfen.

Alles Wichtige zur Bewerbung Münchens um die Olympischen Winterspiele 2018 ist in dem »Bid Book«, was man schlicht mit »Be­werbungs­mappe« übersetzen kann, zusammengefasst. Vor Punkt fünf, »Zoll- und Einreisebestimmungen«, und Punkt zwölf, »Medizinische Dienste und Dopingkontrollen«, findet sich Punkt eins: »Vision, Olympisches Erbe, Kommunikation«.
Unter »Kommunikation« ist nicht etwa die Ausstattung des Pressecenters mit W-Lan zu verstehen, und bei »Olympisches Erbe« denkt niemand daran, dass das Gros der Wettbewerbe in Garmisch-Partenkirchen stattfinden soll, dem Austragungsort der Spiele 1936. Diese Stadt gibt es sogar erst wegen der damaligen Olympischen Spiele: Sie erforderten aus Sicht der NS-Organisatoren die Zusammenlegung zweier Ortsteile. Dass Garmisch-Partenkirchen bis heute existiert, gehört anscheinend dennoch nicht zum »Olympischen Erbe«.
Das, so wollen es die Planer, ist vielmehr in dem Umstand zu finden, dass München die erste Stadt wäre, in der sowohl Olympische Sommer- als auch Winterspiele stattfänden.
Während 1936 schlicht verschwiegen wird, gelten die Sommerspiele von 1972 als positives Erbe. Sie hatten einen großen Anteil an der Entstehung eines modernen Deutschland, wie der deutsche Historiker Kay Schiller und der englische Kulturhistoriker Christopher Young jetzt in einem vielbeachteten Buch (»The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany«, University of California Press) dargestellt haben.
Young, zurzeit Gastwissenschaftler in Berlin, erklärt die Besonderheit der Münchner Spiele, indem er sie mit dem WM-Erfolg der Fußballer 1954 vergleicht: »Damals galt: ›Wir sind wieder wer.‹ 1972 galt: ›Wir sind sehr froh, dabei sein zu dürfen.‹« Das habe sich auch durch den Terroranschlag auf die israelische Olympiamannschaft nicht nennenswert geändert. »Für die meisten Menschen, die damals dabei waren, etwa die Olympiahostessen, waren die Spiele der Anfang der Internationalität Deutschlands«, sagt Young. »Das Land wurde weltoffen, Fremdsprachen fanden Einzug, fremde Gastronomien wurden bekannt, Touristen kamen ins Land.«
Nur wenige Tage, nachdem die Spiele begonnen hatten, drang ein palästinensisches Terrorkommando in das Olympische Dorf ein und überfiel ein von der israelischen Mannschaft bewohntes Haus. Bei dem Überfall und bei einer bestenfalls dilettantisch zu nennenden Befreiungsaktion der Münchner Polizei kamen elf Israelis ums Leben. »Der Anschlag hat das wieder ins Bewusstsein geholt, was doch als überholt gelten sollte: die Spiele 1936«, sagt Young und fügt hinzu: »Für die deutschen Organisa­toren jedenfalls war es sehr hilfreich, dass nicht sie den Satz ›The games must go on‹ sprechen mussten, sondern der IOC-Präsident Avery Brundage, ein Amerikaner.«
Young und sein Kollege Schiller zeigen in ­ihrer Studie, die auch bald in deutscher Übersetzung erscheinen soll, sehr genau, wie präsent die Erinnerung an die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Garmisch-Partenkirchen bei den Münchner Planern von Beginn an war.
Otl Aicher, Chefdesigner der Spiele, als junger Mann zum Umfeld der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« der Geschwister Scholl gehörend und Anfang 1945 als Deserteur der Wehrmacht entflohen, war der richtige Mann, um den Spielen von 1972 eine komplett neue Ästhetik zu verleihen. Aicher verkündete, dass es nicht genüge, wenn die Deutschen der Welt sagen, dass sie anders seien als noch wenige Jahrzehnte zuvor – sie müssten es zeigen. Entsprechend entwarf er minimalistische Piktogramme, um verständlich und weltoffen auf die Wettbewerbe hinzuweisen, und auch dass ein sanftes Himmelblau zur Farbe der Spiele wurde, geht auf Aicher zurück. Musikalisch drückte sich das moderne Konzept darin aus, dass bei der Eröffnungszeremonie auf Märsche, Hymnen und Carl Orff verzichtet wurde, vielmehr der Bandleader Kurt Edelhagen den Einzug der Nationen mit einem Light-Jazz-Medley untermalte: die Türkei zu »Turkish Delight«, Ungarn zu »Gypsy Love«, Kuba zu »Habana alegre«. Auch die Architektur der Münchner Spiele, allen voran das mit einem Glasdach überzogene Olympiastadion, das der Architekt Günter Behnisch entworfen hatte, sollte die Modernität des sozialliberal regierten Deutschland ausdrücken.
Christopher Young stellt die Münchner Spiele – den Zuschlag erhielt die bayerische Landeshauptstadt im Jahr 1966 – in den Zusammenhang des großen gesellschaftlichen Aufbruchs der sechziger Jahre. »Weg von Militarismus, weg von Gigantismus, weg von Pathos«, das sei von Beginn an das Konzept von Willy Daume gewesen, der damals Präsident des Nationalen Olympischen Komitees war und zusammen mit Münchens damaligem Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel ganz maßgeblicher Initiator der Spiele 1972.
Der Stadt München brachte Olympia eine gigantische Verbesserung der Infrastruktur: Nicht nur das U- und S-Bahnnetz wurde ausgebaut, auch der gesamte Münchner Norden wurde erschlossen. Bis heute ist der Olympiapark einer der meistbesuchten europäischen Parks.
»Wenn ich sage, dass für die deutschen Teilnehmer Olympia der Beginn der Internationa­lität bedeutete«, fasst Young seine Ergebnisse zusammen, »so war es auf einer anderen Ebene das Ende eines Prozesses, Höhepunkt und Abschluss einer gesellschaftlichen Modernisierung.« Als Beispiel nennt er die Fußball-WM 1974 in Deutschland: »Die war, gerade im Vergleich zu Olympia 1972, sehr trübe.« Das Konzept, mit Hilfe Olympischer Spiele oder anderer Sportgroßereignisse die deutsche Gesellschaft zu modernisieren, hat es, sagt Christopher Young, seither nicht mehr gegeben.
Auch die Fußball-WM 2006 in Deutschland, die als »Sommermärchen« verklärt wird, sei eher als »globalisiertes Event« zu sehen: »Die Deutschen haben einfach mitgejubelt.«
Die gescheiterte Olympiabewerbung Berlins für das Jahr 2000 habe von Anfang an, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan die Idee 1987 bei einer Rede am Brandenburger Tor vortrug, dem Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands gegolten. Und die schon in der Vorrunde gescheiterte Leipziger Bewerbung um die Spiele habe international nie jemand ernst genommen. »In der Endausscheidung standen nur Megacitys, ein Trend der letzten Zeit: New York, Paris, Madrid, Moskau und London, das den Zuschlag erhielt«, sagt Young. »Leipzig hatte nie eine Chance, die Stadt war schlicht zu klein.«
Bleibt die Frage nach München 2018, der Stadt, die sich vor der Erinnerung an Garmisch-Partenkirchen 1936 drückt und die so gerne an München 1972 erinnert. An eine beabsichtigte Modernisierung der deutschen Gesellschaft glaubt Young nicht. »Die Münchner verweisen ja eher darauf, wie gut das ›Sommermärchen‹ war.«
Am 6. Juli entscheidet das Internationale Olympische Komitee, welche Stadt die Winterspiele 2018 austrägt. Als härtester Konkurrent Münchens gilt das südkoreanische Pyeongchang.

Kay Schiller/Christopher Young: The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany. University of California Press, 2010, 368 Seiten, ca. 20 Euro