Revolution in Ägypten

Das war erst der Anfang

Das ägyptische Militär will auch nach dem Sturz Hosni Mubaraks die Kontrolle behalten. Doch die Demokratiebewegung hat einen wichtigen Sieg erkämpft, der die Protestierenden in anderen Ländern ermutigen wird.

Während die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz noch diskutierten, ob sie die Zelte abbauen sollten, erschien eine Gruppe von Demonstranten, die niemand hier erwartet hätte. Am Sonntag versammelten sich mehrere hundert Polizisten, um für einen Neuanfang in den Beziehungen zur Bevölkerung zu werben. Ihren ehemaligen Dienstherren, den bei der Kabinettsumbildung Ende Januar abgesetzten Innenminister, mögen sie offenbar nicht. »Habib al-Adly ist der Feind Gottes«, war eine der Parolen.
Die Demonstranten waren jedoch nicht bereit, die Gewalttaten während der ersten Tage der Revolution so schnell zu vergessen. In erregten Wortwechseln wurden die Polizisten als »Hunde« beschimpft. Dennoch kann es als Zeichen für die Auflösung der alten Ordung gelten, wenn nun sogar die Schergen des Regimes auf die Straße gehen. »Hinter den Kulissen geschahen schreckliche Dinge«, sagte einer der Polizisten der Tageszeitung al-Masry al-Youm. »Niemand will, dass das so weitergeht.« Die protestierenden Ordnungshüter forderten auch höhere Gehälter, nach 20 Dienstjahren verdienen sie pro Monat 800 ägyptische Pfund, kaum mehr als 100 Euro, und eine Gesundheitsversicherung gibt es nur für hohe Offiziere.
Die Reorganisation des Polizeiapparats gehört zu den zahlreichen Aufgaben, die im Demokratisierungsprozess bewältigt werden müssen. Selbst Hosni Mubarak hatte in seiner letzten Rede als Präsident am Donnerstag vergangener Woche die Bestrafung der an den illegalen Angriffen auf die Protestbewegung Beteiligten versprochen. Doch eine zu gründliche Untersuchung könnte nicht nur die Polizeiwachen leeren, denn auch dem Militär werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Nach dem Beginn der Revolution wurden Hunderte, vielleicht Tausende vom Militär inhaftiert, sagte Hossam Bahgat, Direktor der Egyptian Initiative for Personal Rights. Viele Gefangene seien gefoltert worden.
Auf den Rücktritt Mubaraks am vergangenen Freitag folgten anderthalbtägige Freudenfeiern. Doch nun ist die vermutlich größte Straßenparty in der Geschichte der Menschheit zu Ende, und die demokratischen Revolutionäre fragen sich, wie es weitergeht. Das Offizierskorps hat die Macht übernommen, das Parlament wurde aufgelöst und die Verfassung suspendiert, von einem Komitee vorgeschlagene Änderungen sollen in zwei Monaten zur Abstimmung gestellt werden. Ob das von Mubarak ernannte Kabinett noch eine Rolle spielen oder die Verwaltung und die Leitung des Übergangsprozesses vom Obersten Rat der Streitkräfte übernommen werden wird, ist unklar.
Das Militär hat die zivile Bürokratie der bislang regierenden National Democratic Party (NDP) entmachtet. Sie beherbergte Hardliner wie den verhassten al-Adly, die jeden Kompromiss verweigerten. Zwar hatte das Offizierskorps seit dem Putsch im Jahr 1952 viele Gelegenheiten, sich um die Demokratisierung verdient zu machen, fiel aber bislang nicht durch übermäßigen Eifer auf. Die Militärführung will die Kontrolle behalten, erst als die Zahl der Demonstranten trotz aller Gewalt, Drohungen und Versprechungen immer weiter wuchs und die Zahl der Streiks zunahm, zwang sie Mubarak zum Rücktritt.
Umso größer ist der Sieg der Demokratiebewegung. Entgegen den ursprünglichen Plänen musste das Militär Mubarak opfern, um eine Radikalisierung der Straßenproteste zu verhindern. Vorläufig ist das gelungen, zumal die meisten Protestierenden nach zweieinhalb Wochen auch mal eine Pause brauchen. Doch die Demokratiebewegung drängt auf schnelle Reformen. Noch immer gilt der Ausnahmezustand, die politischen Gefangenen wurden nicht freigelassen, und die Generäle haben zwar freie Wahlen versprochen, aber noch nicht zugesagt, Repräsentanten der Demokratiebewegung am Übergangsprozess zu beteiligen.

Reformen wird es geben, so viel darf man den Generälen wohl glauben. Dass sie ihren Privilegien und der Macht freiwillig entsagen, kann man jedoch nicht erwarten. Wenn das Militär die höchste Überwachungsinstanz bleibt und es der zivilen Oligarchie gelingt, das Parteiensystem zu kon­trol­lieren, könnte ein formal parlamentarisches, aber de facto undemokratisches System entstehen, wie es in Pakistan existiert. Ein solches Arrangement gestattet es auch den straff organisierten Islamisten, weit mehr Einfluss zu nehmen, als es ihrem Anteil an den Wählerstimmen entspräche.
Doch in Pakistan gab es nie eine Revolution, Demokratiebewegung und Gewerkschaften sind schwach. Im revolutionären Ägypten sind die Voraussetzungen für die Demokratisierung wesentlich besser, und es gibt erste Anzeichen dafür, dass Proteste und soziale Kämpfe sich ausbreiten, auch wenn sie vorerst wohl nicht mehr so spektakulär sein werden. Die illegalisierte Gewerkschaftsbewegung spielte eine wichtige Rolle in der Revolution (siehe Seite 4), im Demokratisierungsprozess wird ihre Bedeutung noch wachsen. Das Militär forderte im Staatsfernsehen ein Ende der Streiks, und in einigen Betrieben wurde der Arbeitskampf unterbrochen. Doch allein am Montag protestierten in Kairo neben den reumütigen Polizisten, die erneut auf die Straße gingen, auch Krankenwagen- und Busfahrer, Angestellte der Nationalbank und der staatlichen Telefongesellschaft, Journalisten der bislang staatlich kontrollierten Medien sowie medizinisches Personal.

Die Revolution war in erster Linie ein Freiheitskampf, die ökonomischen Forderungen blieben zweitrangig. Doch waren politischen Unterdrückung und soziale Misere untrennbar miteinander verbunden. Der Kampf für Lohnerhöhungen war illegal, Beförderungen und sozialer Aufstieg waren nur im Rahmen des Klientelsystems der NDP möglich. Lohnabhängige und Angehörige der Mittelschicht kamen auf dem Tahrir-Platz zusammen, weil sie ähnliche Probleme haben. Der Arbeiter, der sich gegen eine Entlassung wehren wollte, hatte es ebenso wie der Ingenieur, dem ein Günstling der NDP die Stelle wegschnappte, mit einem patriarchalen Kommandosystem zu tun, das in allen gesellschaftlichen Bereichen Apathie und Stagnation erzeugte.
Mubaraks Regime fesselte auch die Produktivkräfte, doch ist die Bourgeoisie in der Revolution nicht hervorgetreten. Wie die ausländischen Investoren sind auch die meisten ägyptischen Unternehmer in das System der Korruption und Repression eingebunden. Dass die bürgerliche Revolution ohne die Bourgeoisie auskommen musste, ist jedoch eher vorteilhaft, denn nun entwickelt die Demokratiebewegung ihre Forderungen auf der Grundlage der Interessen von Arbeitern und Mittelschicht.
Bauern und nicht lohnabhängige städtische Arme haben sich an den Protesten beteiligt, sind in der Oppositionsbewegung aber noch nicht repräsentiert. Doch während der Revolution sind neue Formen der Selbstorganistion entstanden. Nicht nur die Staatsmacht wurde herausgefordert, auch informelle gesellschaftliche Hierarchien wie die Vorrangstellung der alten Männer wurden in Frage gestellt. Das gibt den politisch marginalisierten Bevölkerungsgruppen die Chance, eigene Organisationsformen zu finden.
Religiöser Konservatismus ist in Ägypten verbreiteter als in Tunesien. Auf dem Tahrir-Platz gab es keine Geschlechtertrennung, aber viele protestierende Frauen trugen ein Kopftuch oder sogar den Niqab, der nur einen Sehschlitz freilässt. Die Verschleierung verbreitete sich jedoch erst unter Mubarak, sie wurde für viele konservative Ägypterinnen zum Symbol des Protests gegen den korrumpierten Staatsislam.
Ob die Revolution nun einen Trend zur Entschleierung einleitet, lässt sich noch nicht vorhersagen. Ermutigend ist jedoch, dass die meisten Gruppen der Demokratiebewegung explizit einen säkularen Staat fordern. Eher als der französische Laizismus dürfte sich in Ägypten das Modell der USA durchsetzen, das die religiöse Neutralität des Staats mit einer fast schrankenlosen Freiheit für private Frömmelei verbindet. Über diese Frage wird in Zukunft heftig gestritten werden, die Muslimbruderschaft etwa wird auf einer Bindung an »islamische Werte« bestehen. Doch die Revolution hat zumindest die Möglichkeit geschaffen, die Demokratisierung mit der gesellschaftlichen Emanzipation zu verbinden.
Das wird sich auch auf andere arabische Staaten auswirken. Tunesien war selbst für gebildete Araber ein unbekanntes Land, dem man keine besondere Bedeutung beimaß. Mubaraks Starrsinn hingegen war wohlbekannt, und noch immer gilt Ägypten als kulturelles und politisches Zentrum der arabischen Welt. Statt der Soaps, die Ägypten produziert, gab es nun eine Revolution zu sehen, und dass die Ägypter als geduldig, gutmütig und ein wenig träge galten, dürfte den Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun, in anderen arabischen Ländern noch mehr anstacheln.

Die Proteste im Jemen sind am Wochenende wieder heftiger geworden. Doch angesichts der Kämpfe mit schiitischen Aufständischen, sunnitischen Jihadisten und Stammeskriegern in den vergangenen Jahren ist das Land beinahe schon ein failed state. Die Kluft zwischen Stadt und Land ist gewaltig, andererseits könnten die Demokratisierung und die Schaffung eines föderalen Systems vielleicht die Probleme lösen, die Präsident Ali Abdullah Saleh auch mit saudischer Militärhilfe nur eindämmen konnte.
Die »tunesische Welle« erreicht nun sogar die Golfmonarchien. Bei Protesten in Bahrain wurden zwei Demonstranten erschossen. In der saudischen Hauptstadt Riad forderten Anfang Februar 40 Frauen die Freilassung von Gefangenen, die ohne Gerichtsurteil festgehalten werden. Die Behörden wollen nun klären, wie es den Frauen überhaupt gelungen ist, nach Riad zu fahren, denn ohne einen männlichen Aufpasser dürfen sie nicht reisen. In Saudi-Arabien ist Armut ein geringeres Problem als in Ägypten, doch wird das »islamische Gesetz« noch strenger ausgelegt als im Iran. Die Verhältnisse in den Ländern der Region sind sehr unterschiedlich, doch teilen die Menschen die Erfahrung, von einem Regime unterdrückt und entmündigt zu werden, das nun, nach der zweiten Revolution, angreifbar erscheint. »Wir stehen erst am Anfang«, schreibt Eman al-Nafjan im Saudiwoman’s Weblog. »Sicher ist nur, dass die Araber es satt haben und dass wir nicht nachgeben werden.«