Eine Anthologie zum Thema Wüste: »Durch den Sand«

Der Wind griff in den Sand

Florence Hervé versammelt in einer Anthologie Gedichte und Reise­- berichte von Autorinnen zum Thema Wüste.

Die feministische Autorin Florence Hervé schreibt seit vielen Jahren über Frauen, die sich in extreme Situationen und an ungewöhnliche Orte begeben. Neuerdings gilt ihr Interesse jenen Frauen, die sich der Erfahrung der Wüste ausgesetzt haben, sei es als Reisende oder als Forscherin, als Wissenschaftlerin, als Künstlerin oder Literatin; weil sie an diesem Ort geboren wurden oder sich irgendwann entschieden haben, dort zu leben. Im Zuge ihrer Studien entstand die Anthologie »Durch den Sand. Schriftstellerinnen in der Wüste«. Das Buch enthält kurze, kundig ausgewählte Texte von 29 Autorinnen aus fast anderthalb Jahrtausenden, beginnend mit Maisun, der Gattin des ersten Kalifen der Umayyaden-Dynastie im späten siebenten Jahrhundert, über die mittelalterliche Mystikerin Mechthild von Magdeburg bis zu Schriftstellerinnen der Moderne wie Ingeborg Bachmann und Mascha Kaléko.
In ihrem Vorwort skizziert Hervé die verschiedenen Perioden der abendländischen Wahrnehmung der Wüste, schwankend zwischen Abscheu und Faszination, überliefert in den literarischen Zeugnissen der Frauen und Männer, die sich durch die Jahrhunderte mit dem Thema beschäftigt haben. Da ist die Wüste als Metapher in der christlichen Literatur des Mittelalters, inspiriert durch gelegentliche Berichte von ins Heilige Land Pilgernden.
Das biblische Motiv der hitbodedut, der spirituellen Selbstfindung, Bescheidung, Prüfung in der Einsamkeit bestimmt die Vorstellung der Mechthild von Magdeburg, die allerdings nie im Leben eine Wüste gesehen hat: »Du sollst das Wasser der Pein trinken/Und das Feuer der Minne/Mit dem Holz der Tugend entzünden./So wohnest du in der wahren Wüste.«
Im Zuge der aufkommenden Orient-Mode im 19. Jahrhundert wurde die Wüste ein bevorzugter Topos träumerischer Darstellungen, wie sie etwa durch ihr berühmtestes Beispiel im deutschen Sprachraum, Wilhelm Hauffs Märchenzyklus »Die Karawane«, weithin bekannt geworden sind. Für diese Periode stehen in der Anthologie romantische Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff und Karoline von Günderrode. Mit dem Aufkommen der modernen Verkehrstechnik, mit Dampfschiff, Eisenbahn und dem Niedergang des türkischen Großreiches wurde erneut der Aufenthalt von Europäern in mittel­östlichen Wüsten möglich, und auch Frauen machten sich auf den Weg, das Faszinosum zu erkunden.
Meist waren es gebildete Frauen aus Adels- oder reichen Bürgerfamilien wie die Engländerin Gertrude Bell, die schon Ende des 19.Jahrhunderts persische und nahöstliche Wüsten bereiste und sich als »Frau zwischen Orient und Okzident« verstand. Auch die Deutsche Harriet Straub, die später den Philosophen Fritz Mauthner heiratete, zog es in die Wüste, wo sie viele Jahre als Ärztin arbeitete. Oder die französische Völkerkundlerin Odette du Puigaudeau mit ihren romantisierenden Schilderungen des Nomadenlebens: »Nach dem langen und stillen Marsch und den Sorgen des Tages war dies die sanfte Stunde, wenn das Feuer knistert, das Aroma des grünen Tees aufsteigt, der Tabakrauch (…), während die gesättigten Kamele in der Nähe des Reisenden wiederkäuen (…) Das Feuer ist die Seele der Wüste. Das Wohlgefühl nach der Etappe, der Freund des Einsamen und das Band unter den Gefährten. Es ist das Feuer des Nomaden, das jeden Morgen verlassen und jeden Abend neu geschaffen wird … «
Das romantische, sehnsuchtsvolle Bild der Wüste, das seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa dominierte, ist im zwanzigsten durch wissenschaftliche Erforschung und genaue Kenntnis korrigiert worden. Die Wüsten der Erde, im Prozess der Versteppung des Planeten ständig wachsend, verändern das globale Klima, expandieren, bedrohen Großstädte, liegen sozusagen vor unserer Haustür. »Im 20. Jahrhundert«, schreibt Florence Hervé, »wird die reelle Wüste entdeckt.« Auch die Autorinnen erobern sie immer unerschrockener wie etwa die Australierin Robyn Davidson, die allein mit vier Kamelen neun Monate lang durch die Wüsten ihres Erdteils wanderte und dabei eine ihr vorher unbekannte »innere Harmonie und Horizonterweiterung« erlebte:
»Solange man zersplittert und unsicher ist, erschrickt man zu Tode, wenn man feststellt, dass die eigenen Grenzen sich auflösen. Um in der Wüste zu überleben, muss man die Zerrissenheit überwinden (…) Die Fähigkeit zu überleben ist vielleicht die Fähigkeit, sich von der Umgebung verändern zu lassen«, notiert sie.
Eine Reihe großer Dichterinnen des 20. Jahrhunderts verstand die Wüste vor allem metaphorisch, sie galt als uraltes Menschheitsgleichnis von Mangel und Möglichkeit, Katastrophe und Neubeginn, Dürre und Blüte. Für Else Lasker-Schüler, die vor den Nazis nach Jerusalem geflüchtet war, wurde die Wüste zum Ort einer neuen Liebe: »Es sammeln Wolken sich aus Wüstensand/Verschleiern süße Himmlischkeit der Ferne/Ich lege meine Hand in deine Hand/Im matten Mondenschein so gerne./Sie ist mein Ruheort, mein Heimatland.«
Ingeborg Bachmann begann nach einer Nahost-Reise an einem Wüstenroman zu schreiben, aus dem Hervé eine längere Passage zitiert. Es ist das schönste Prosastück des Bandes und eine der subtilsten Beobachtungen der Interaktion zwischen Mensch und Wüste, die je geschrieben wurden: »Der Wind erhob sich zum erstenmal, griff in den Sand, der flüchtige Boden löste sich bedrohlich in der Luft auf. Er zeigte seine wahre Beschaffenheit. Die Augen und die Wüste fanden zueinander. Die Wüste legte sich über die Netzhaut, lief davon, wellte sich näher heran, lag wieder im Aug, stundenlang, tagelang. Immer leerer werden die Augen, ­immer aufmerksamer, größer, in der einzigen Landschaft, für die Augen gemacht sind.«

Florence Hervé: Durch den Sand. Aviva, Berlin 2010, 222 Seiten, 17,80 Euro