Feierte nach dem Sturz von Mubarak mit den Ägyptern auf dem Tahrir-Platz

»Jetzt wird Ägypten aufgebaut«

Auf einen gemeinsamen Soundtrack zur Revolte kann man sich in Kairo noch nicht einigen. Die große Feier ist zwar vorerst vorbei, dennoch gilt nach wie vor: »Freiheit ist ein Segen, für den es sich zu kämpfen lohnt.« Eine Reportage vom Tahrir-Platz.

Es wird wieder geschossen auf dem Tahrir-Platz, aber diesmal sind es Feuerwerke. Am Ende haben die Menschen gewonnen, die 18 Tage lang in ganz Ägypten auf die Straßen gingen. Vizepräsident Omar Suleiman erscheint vor den Kameras des staatlichen Fernsehens und verliest ein kurzes Kommuniqué von kaum 40 Wörtern: »Im Namen des gnädigen und barmherzigen Gottes. In dieser schwierigen Situation, die Ägypten derzeit erlebt, hat Präsident Hosni Mubarak die Entscheidung getroffen, als Präsident Ägyptens zurückzutreten. Er überträgt die Führung des Landes an den Hohen Militärrat.«
Es ist 17 Uhr, die lang erwartete Nachricht wird von der Menge auf dem Tahrir-Platz mit einem gewaltigen Jubelschrei empfangen: »Ägypten ist frei!« In Kairo bricht eine Art kollektives Delirium aus. Innerhalb von wenigen Minuten bilden sich Autokorsos, die hupend durch die Stadt fahren. Auch die Vespas und die chinesischen Motorräder, auf denen jeweils mindestens vier Leute sitzen, schließen sich dem Hupkonzert an. Die Menschen in den Autos, auf den Straßen, auf den Balkonen und an den Fenstern ihrer Häuser sind wie im Rausch. Sie schreien und schwenken ägyptische Fahnen. Der Platz ist so voll, wie ich ihn noch nie bisher erlebt habe. Viele der Männer, Frauen und Kinder die heute hier sind, haben seit dem offiziellen Beginn der Revolte am 25. Januar den Platz nicht mehr verlassen, andere sind heute Abend zum ersten Mal gekommen, weil sie bis heute nicht so recht an diese Revolution geglaubt hatten. Auch die Ultras von den beiden Kairoer Fußballclubs, Ahly und Zamalek, sind dabei. Heute stehen sie ausnahmsweise auf derselben Seite und singen gemeinsam die Slogans der Revolte.

»Ma’asslama!« (Ade), der Aufschrei von Millionen erfüllt den riesigen Platz. Auf den Schildern sind Sprüche zu lesen wie: »Irfa’a rasik anti masri« (Erhebe deinen Kopf, du bist Ägypter), oder auf Englisch: »Finally proud to be Egyptian«. Die Menschen hier sind stolz darauf, ein Teil dieses gigantischen, aufrechten und friedlichen Protests gewesen zu sein. Ein Mann von Mitte fünfzig, der noch ein Schild mit dem Bild eines der »Märtyrer« der Revolte in der Hand hält, zeigt auf die Menge und sagt: »Schauen Sie, es ist, als hätten wir wieder eine Pyramide gebaut.« Die Müdigkeit sieht man ihm an, aber seine Augen leuchten.
Die Jugendlichen umarmen die Soldaten und stehen Schlange vor den Panzern. Sie wollen auf die Fahrzeuge steigen, um sich gemeinsam mit den Militärs fotografieren zu lassen. Ihre außerordentliche Begeisterung für die Armee wirkt ein wenig befremdlich. Doch jetzt kann man nicht danach fragen, jetzt wird erst einmal gefeiert.
Von den vier Bühnen, die auf dem Tahrir-Platz aufgebaut sind, kommen sehr unterschiedliche Klänge. Auf dem Platz spielen die Jugendlichen elektronische Musik von ihren Handys ab, in den Zelten wird getrommelt, die Imame beten. Doch der Soundtrack der Revolte sind eindeutig die Klassiker des ägyptischen Schlagers. Anders als in Tunesien ist es hier nicht der HipHop-Sound, der den Aufstand begleitet. Die Ägypter tanzen und singen vielmehr zu den patriotischen Liedern der Musiker der Vergangenheit, wie Umm Kulthum, Mohamed Munir oder Abdel Halim Hafez. Die jüngere Generation zieht modernere Schlagermusik vor: Der Hit dieses Abends ist eindeutig »Ya Habibiti ya Masr« (Ägypten, meine Liebe) von der bekannten Sängerin Shadia.
Während getanzt und gesungen wird, ist es praktisch unmöglich, sich auf dem Platz zu bewegen. Man kann sich nur in der jubelnden Menschenmenge treiben lassen. Der einzige ruhige Ort ist die »Gedenkstätte der Märtyrer«. Es ist ein kleiner Kunstrasenteppich, auf dem rund 50 eingerahmte Bilder deponiert wurden. Um den kleinen Teppich stehen junge Frauen und Männer Hand in Hand und haben eine Menschenkette gebildet, die den kleinen, unscheinbaren Gedenkort schützt. Einer von ihnen legt die Bilderrahmen und die Blumen, die dorthin gebracht werden, liebevoll zurecht.
Der ganze Platz ist mit Plakaten zugepflastert, auf denen die Gesichter Dutzender »Märtyrer« zu sehen sind. Einige der Plakate zeigen lächelnde Gesichter, auf anderen sieht man die Bilder von brutal misshandelten Demonstranten, die von der Polizei und den Schlägertrupps des Regimes getötet wurden. Die Sprüche auf den Plakaten wiederholen sich: »Das Blut der Märtyrer ist nicht umsonst geflossen«, oder: »Wir werden dich nie vergessen«.
Da ist das Foto von Bilal Salim Aisa Muhamad, einem zehnjährigen Kind, das in Rafah getötet wurde. Ein anderes Plakat zeigt das Gesicht von Islam Refaat Mahmud, 35 Jahre, der in Alexandria ums Leben kam. Hitham Hamidi, 33 Jahre, Besitzer einer kleinen Elektronik-Firma, erstickte am Tränengas während der Großdemonstration am 28. Januar in Kairo. Am selben Tag starb in Kairo auch Hussein Mohammed, 25 Jahre, er wurde von einem Polizeiauto überfahren. Weitere Opfer heißen Ali Fathi, Karim Bnuna, Hussein Qawni Mohammed, Ahmed Sherif Mohammed, Mahmud Mohammed Hasan, Seif Allah Mustafa, Habiba Mohammed Rashid und Sally Magdy Zahran, eine 23jährige Künstlerin, die von den baltagiya, den Schlägertrupps von Mubarak, auf dem Tahrir-Platz totgeprügelt wurde.

Sie seien die Helden dieser Revolte, nicht die Blogger oder die Cyber-Aktivisten, die zu der ersten Demonstration am 25. Januar aufriefen, ohne zu wissen, dass dies zum Sturz des Regimes führt. Das ist die Meinung von Wael Ghonim, dem Manager von Google in Ägypten, der in den vergangenen Wochen zum Gesicht des Internet-Aufstands gegen das Regime geworden ist. Ghonim gründete eine der größten Facebook-Gruppen gegen Mubarak und organisierte die Großdemonstrationen in Kairo mit. Am 28. Januar verschwand er spurlos. Niemand wusste, ob er verhaftet wurde oder ob er überhaupt noch lebte. Bis zum 7. Februar, als er wieder auftauchte und auf Twitter verkündete: »Freiheit ist ein Segen, für den es sich zu kämpfen lohnt.«
Später erzählte er, er sei in der Nacht zum 28. Januar gegen ein Uhr von vier Zivilbeamten festgenommen worden, während er gemeinsam mit einem Freund auf ein Taxi wartete. Man habe ihm Handschellen angelegt und ihm die Augen verbunden. Zwölf Tage lang habe man ihn verhört, da man ihn für einen US-amerikanischen beziehungsweise iranischen Spitzel gehalten habe. Nach seiner Freilassung bat Ghonim seine Unterstützer darum, keine Plakate mit seinem Foto zu drucken. Er wollte nicht, dass man aus ihm einen Helden macht. Die Helden seien jene, die auf die Straße gegangen sind, die an den Demonstrationen teilgenommen haben, die ihr Leben geopfert haben, die geschlagen und verhaftet wurden, die sich derartigen Gefahren ausgesetzt haben, sagte er der Presse.
Am Abend seiner Freilassung gab er dem ägyptischen Sender Dream TV ein Interview. Als die Moderatorin die Bilder der Getöteten zeigte, brach Ghonim in Tränen aus und sagte in die Kamera: »Allen Müttern und Vätern, die einen Sohn verloren haben, möchte ich sagen: Es tut mir so leid! Aber es war nicht unser Fehler. Es war der Fehler derer, die die Macht ausüben und sich an ihr festklammern.« Hunderttausende jubelten ihm begeistert zu. Denn obwohl er es nicht so richtig will, ist Ghonim zu einer Symbolfigur dieser Revolte geworden. Der 30jährige Google-Manager hatte bereits im Sommer vergangenen Jahres die berühmteste Facebook-Gruppe Ägyptens gegründet: »We are all Khaled Said«, der sich mittlerweile mehr als eine halbe Million Menschen angeschlossen haben. Hier nahm die ägyptische Revolte ihren Anfang, sogar vor dem Aufstand in Tunesien.
Alles begann am 7. Juni 2010 in Alexandria. An diesem Abend saß der junge Blogger Khaled Said in einem Internetcafé im Stadtteil Sidigaber, als zwei Polizisten plötzlich hereinkamen und nach den Papieren der Anwesenden fragten. Said weigerte sich, seine Papiere zu zeigen, und wurde brutal zusammengeschlagen. Zuerst wurde er halbtot geprügelt, dann wurde sein Kopf gegen eine Marmorplatte geschlagen. Dann wurde er ins Polizeiauto gezerrt, und auf der Polizeistation bekam er den Rest. Als er tot war, ließ man seine Leiche einfach auf der Straße liegen.
Es war weder der erste noch der letzte Fall von tödlicher Polizeigewalt in Ägypten. Doch diesmal fand jemand den Mut, den misshandelten Körper des jungen Mannes zu fotografieren und die Bilder online zu stellen. Das Netz tat den Rest.
Dank des Engagements von Wael Ghonim und seiner Facebook-Gruppe tauchten viele andere Fälle von Folter auf, und man fing an, Daten ins Netz zu stellen, beispielsweise die Ergebnisse einer Recherche der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte. Zwischen 1993 und 2007 dokumentierte die Studie 567 Fälle von Folter auf Polizeistationen im ganzen Land, in 167 Fällen sind die Folteropfer gestorben. Diese Informationen lösten eine heftige Debatte im Netz aus. Man fing an, die Notstandsgesetze in Frage zu stellen, mit deren Hilfe Mubarak seit seiner Machtübernahme im Jahr 1981 das Land regierte. Man fing an, offen über die korrupten Strukturen des Regimes zu diskutieren. Und nicht nur auf der Seite von Wael Ghonim.
Eine weitere, sehr wichtige Facebook-Gruppe muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Sie heißt »6th of April Youth Movement« und zählt heute rund 90 000 Anhänger. Die Gruppe war von Ahmed Maher und Ahmed Salah bereits im Jahr 2008 gegründet worden, um den Streik der Textilarbeiter aus Mahalla al-Kubra – einer Industriestadt nicht weit von Kairo – am 6. April zu unterstützen. Die Arbeiter protestierten gegen ihre niedrigen Löhne und die steigenden Preise für Lebensmittel. Es war eine subversive Aktion, denn unter den Notstandsgesetzen waren Streiks verboten. Die Facebook-Gruppe war einige Wochen vor dem Streik gegründet worden und machte die Mobilisierung landesweit bekannt. Auch der Aufruf, noch mehr Demonstrationen zu organisieren, verbreitete sich schnell über das Internet. Es war das erste Mal in Ägypten, dass eine solche Mobilisierung zustande kam. Die Proteste in Mahalla al-Kubra waren die gewalttätigsten seit langem in Ägypten. Mindestens zwei Menschen wurden von der Polizei erschossen, Dutzende wurden verletzt, Hunderte verhaftet, unter ihnen waren auch viele Blogger und einer der Gründer der 2004 entstandenen Oppositionsbewegung namens Kifaya.

Durch die Vereinigung all dieser Kräfte formierte sich in den vergangenen Monaten zunächst im Internet die große Bewegung gegen Folter und Polizeigewalt, die die Aufhebung der Notstandsgesetze forderte. Die von Ghonim gegründete Facebook-Gruppe rief dann zu einer Demonstration am 25. Januar auf. Das ist in Ägypten ein besonderer Tag, nämlich der Feiertag der Polizei. An diesem Datum hatte Mubarak vor zwei Jahren einen Gedenktag für 50 ägyptische Polizisten eingeführt, die im Jahr 1952 von britischen Truppen in Ismailia getötet worden waren.
Als die Großdemonstration noch in der Vorbereitungsphase war, brach die tunesische Revolte aus, und am 14. Januar verließ der tunesische Diktator das Land. Das machte der ägyptischen Jugend Hoffnung, dasselbe könne auch in ihrem Land passieren. Die Mobilisierung im Internet gewann weiter an Dynamik, die Kritik beschränkte sich bald nicht mehr auf die Notstandsgesetze, immer lauter wurde das Ende des Regimes gefordert. Dann kamen die Menschen dazu. Bereits zu diesem Zeitpunkt war es schwierig auszumachen, wer die eigentlichen Anführer der Revolte sind, denn der Protest war schon überall, er formierte sich spontan und wuchs immer weiter. Zum Teil hatte man sogar den Eindruck eines völlig unorganisierten Aufstands, doch am Ende erreichte die Bevölkerung das, was sie 18 Tage lang gefordert hatte.

Der Preis war hoch, er hätte aber auch höher sein können. Die Zahl der Toten steht heute noch nicht fest, 300 sind es mindestens. Hinter dieser Zahl war in den Tagen des Protests eine klare Strategie der Regierung von Mubarak erkennbar: Zunächst verschwanden die Polizisten kurzzeitig aus den Straßen, dann wurden die Häftlinge aus den Staatsgefängnissen entlassen, sie wurden später gemeinsam mit den Polizisten auf die Straßen geschickt, um die Menschen einzuschüchtern. Doch viele Ägypter konnten sich davor schützen, sie organisierten Bürgerwehren in ihren Stadtvierteln, die jeden Tag 24 Stunden lang den Zugang zu Straßen, Plätzen und Wohnhäusern kontrollierten.
Die Party auf dem Tahrir-Platz ist zu Ende. Doch auch nach der großen Feier am 11. und am 12. Februar sind viele junge Menschen auf dem Platz anwesend. Sie tragen Gummihandschuhe und haben Müllsäcke und Besen mitgebracht. Sie sorgen dafür, dass der mittlerweile weltberühmte Platz nach den historischen 18 Tagen des Protests wieder sauber wird. Viele von ihnen tragen an ihrer Brust Schilder auf Englisch oder Arabisch: »Gestern war ich demonstrieren, heute baue ich mein Land auf«, oder: »Entschuldigen Sie die Störung! Aber wir bauen ein neues Ägypten auf«, ist darauf zu lesen. Sie wirbeln Staub auf, bauen die Zelte ab und streichen sogar die Bürgersteige neu. Auch von den Panzern werden die Sprüche entfernt, die vor kurzem darauf gesprayt worden sind. Aber das Erstaunlichste ist, dass sogar die Pflastersteine, die vor allem bei den Demonstrationen am 25. und am 28. Januar geflogen waren, wieder in den Boden eingesetzt werden. »Freiheit heißt Verantwortung«, war ein häufiger Slogan auf diesem Platz in den vergangenen Tagen.
Auch die Sonne scheint heute etwas heller zu strahlen. Möglicherweise liegt das am Kontrast zu der vom Rauch geschwärzten Wand eines Gebäudes an der anderen Seite des Tahrir-Platzes. Bereits in den ersten Tagen der Revolte war es angezündet worden. Hier hatte die Partei von Mubarak ihren Sitz.

Aus dem Italienischen von Federica Matteoni

Der Autor ist Journalist und Schriftsteller. Seit 2006 betreibt er den Blog »Fortress Europe« (), der Nachrichten über die Opfer des europäischen Migrationsregimes veröffentlicht.
Sein Buch »Mamadous Fahrt in den Tod« erschien 2008.
Im September 2010 wurde er mit dem Menschenrechtspreis der Organisation Pro Asyl ausgezeichnet.