Bespricht mehrere Ausstellungen zum Thema Unschärfe

Verblassende Spuren

Mehrere Ausstellungen in Hamburg und Bremen beschäftigen sich mit der Unschärfe als Thema und Mittel zeitgenössischer Kunst.

SELBSTBEMALUNG = bewältigte SELBSTVERSTÜMMELUNG« – auf diese Formel hatte der Aktionskünstler Günter Brus das Ziel seiner künst­lerischen Versuche gebracht. In der Hamburger Kunsthalle ist nun in einer Ausstellung mit dem Titel »Übermalt. Verwischt. Ausgelöscht« eine Fotoreihe zu sehen, die Brus 1964 bei einer solchen Selbstbemalungsaktion zeigt. Seinen Körper und sein Gesicht hat er weiß grundiert, mit einem Pinsel trägt er schwarze Striche auf, die an Schnittwunden oder Axthiebe erinnern. Schließlich bedeckt er sein Gesicht mit so viel Farbe, dass es sich kaum noch vom Hintergrund abhebt – eine sublimierte Form der Autoaggression. Wie viele Künstler aus dem Kreis des Wiener Aktionismus kam auch Günter Brus von der informellen Malerei. Das Verfahren des »automatischen Malens« sollte der »Selbstreinigung« dienen, wie Brus’ Künstlerfreund Hermann Nitsch formulierte. Zu Beginn der sechziger Jahre wandte Brus sich von der Leinwand ab und begann statt ihrer den eigenen Körper zu malträtieren. Malerei, Fotografie, Video und Objektkunst von insgesamt 21 Künstlerinnen und Künstlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind in der Ausstellung versammelt.
Für einige der ausstellenden Künstler bildet die tatsächliche physische Auslöschung der Menschen in den Vernichtungslagern der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts den zwingenden Ausgangspunkt. Christian Boltanski etwa gilt als »Spurensicherer« und beschreibt seine Arbeit als »Kunst nach Auschwitz«. Stets betont er aber, keine Kunst über, sondern aufgrund und infolge von Auschwitz zu machen. Er sammelt Fotos von Menschen sowie ihre Gegenstände, inventarisiert sie und versucht so, dem Verschwinden entgegenzuarbeiten – ein völlig anderes Interesse am Motiv des Verschwindens als bei Brus. In Hamburg ist Boltanskis »Gymnasium Chases« (1991) zu sehen – eine Serie von 23 schwarz-weißen Porträtdrucken. Die einzelnen Gesichter hat Boltanski einer Aufnahme der Abschlussklasse des jüdischen Gymnasiums in Wien von 1931 entnommen. Durch Vergrößerung und starke Kontraste, durch Reduktion auf große weiße Flächen und Verdunkelungen um Augen und Mund erinnern sie an Totenschädel. Ausgangspunkt für diese Arbeit war eine irritierende Erfahrung: Mitte der achtziger Jahre ist ihm ein eigenes Klassenfoto in die Hände gefallen. »Ich erkannte auf der Fotografie nicht mehr als Gesichter. Man könnte auch sagen, sie seien aus meinem Gedächtnis verschwunden. Man könnte auch sagen, dass diese Lebensphase tot war.« Boltanskis eigenes Vergessen, das Verschwinden der Mitschüler aus seinem Gedächtnis, korrespondiert mit ihrem tatsächlichen physischen Verschwinden. Seine Recherchen ergaben, dass man nur von einem der abgebildeten Gymnasiasten mit Sicherheit sagen konnte, das er den Nationalsozialismus überlebt hatte.
Um die Medialisierung von Leben und Tod am Beispiel von John F. Kennedy geht es in einem Bild des deutschen Fluxuskünstlers Wolf Vostell. Zu Beginn der sechziger Jahre begann Vostell, mit der Technik der Decollage zu arbeiten. Als Ausdruck der Gewalt, die er im Normalvollzug der Gesellschaft erkannte, stellte er seine Bilder, Video- und Soundarbeiten her, indem er vorgefundenes Material auseinanderriss oder es mit Säure verätzte. »Kennedy am Strand« basiert auf einer nach dem Attentat in einer Illustrierten veröffentlichten Fotografie, die den Präsidenten und seine Familie am Strand zeigt. Vostell hatte sie auf Leinwand vergrößert und dann wieder verwischt. Obwohl auf dem Bild nach diesem Eingriff niemand mehr eindeutig zu erkennen ist, konnte es damals aufgrund der Popularität der Fotovorlage leicht als ausgelöschte Familienidylle identifiziert werden.
Eher an der Unschärfe als Stilmittel denn als Thema interessiert ist die Ausstellung »Unscharf. Nach Gerhard Richter«, die ebenfalls in der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist. Gezeigt werden neben Bildern und Filmen von Richter auch Arbeiten jüngerer Künstler, die sich des gleichen Mittels bedienen. Veranschaulicht werden soll dadurch eine »Neue Unschärfe« in Malerei und Fotografie, die mit Richters fotorealistischer Malerei der frühen sechziger Jahre eingesetzt haben soll. Unschärfe galt zunächst als fotografische oder filmische Eigenschaft, die auf handwerkliche Mängel zurückgeführt wurde. Eine gewisse Unschärfe in der Malerei, etwa bei den Pointillisten oder Impressionisten, diente hingegen dazu, bestimmte Charakteristika des Dargestellten herauszustellen, nicht aber zu verschleiern. Daher ist es bemerkenswert, wenn die »Neue Unschärfe« nun wieder über den Umweg der Fotografie in die Malerei eingeführt wird. Richter hatte Familien- und Zeitungsfotos in fotorealistischer Manier in grauen Farbtönen auf Leinwände übertragen und die noch feuchte Farbe mit einer Rakel verwischt. So verloren die Fotos ihre Schärfe, als würden Erinnerungen verblassen. Galt Fotografie als Bewahrerin der Erinnerung, versuchte Richter sie ihr zu entreißen. Peter Loewy hat in seiner Serie »Zeichnungen« (2009-2010) den umgekehrten Weg gewählt: Er fertigte von gezeichneten Porträts, die etwa Rembrandt oder Tizian zeigen, unscharfe Fotos an, die wirken, als entstammten sie der realen Welt. An Richters Ölbilder, die Szenen der Stammheimer Todesnacht zeigen, erinnert dagegen Ernst Vollands große zweiteilige Fotoarbeit »Nigger« (2001), auf denen schemenhaft zu sehen ist, wie eine aufgebrachte Menge einen Menschen hängt.
Auffallend ist, wie sehr die Unschärfe-Künstler dem Konkreten verhaftet bleiben. In der Bremer Weserburg ist eine Einzelausstellung des Malers Achim Bertenburg zu sehen, »Bertenburg Malerei«. Vergessen und Verschwinden sind hier Gegenstand abstrakter Ölbilder. Das Ausstellungsplakat zeigt ein Foto, das Bertenburg von seinem Sohn gemacht hat. Zu sehen ist ein kleiner Junge, der im Atelier seines Vaters an einem Tisch sitzt und malt, versunken in seine Arbeit. Im Hintergrund sieht man zwei an die Wand gelehnte, großformatige Bilder des Vaters, darauf nichts als dunkle Nebelschleier in Öl. Dem Vater, so ist im Katalog zu lesen, sei dabei bewusst geworden, »dass auch er vor vielen Jahren zu ähnlicher Selbstvergessenheit fähig gewesen ist«. Von besonderer Bedeutung sei die »bei seinem Sohn zu beobachtende übergangslose Einheit von Denken, Träumen, Wahrnehmen und Handeln«, die mit dem Erwachsenwerden verloren gehe. Was hier in Vergessenheit gerät, wird dem Erwachsenen nur manchmal noch in Form vager Erinnerungsmomente, ähnlich der Schlieren auf Bertenburgs Bildern, bewusst. Auf den ersten Blick gewinnt man den Eindruck, man habe es bei diesen Arbeiten mit abstrakter Malerei zu tun. Erst bei längerer Betrachtung gelingt es, in den Überlagerungen der Farbschichten, den Anordnungen von Strichen, Schlieren und Kratzern etwas Gegenständliches zu erkennen. Dem Erkennen sind jedoch Grenzen gesetzt, es ist dem Vorgang der Erinnerung ähnlich. Die Andeutung einer Uferböschung ist hier nicht die Darstellung einer Uferböschung, sondern nur die Vorstellung, ein Erinnerungsrest oder gar ein Traumbild. Der Katalog nennt Achim Bertenburgs Bilder treffend »Entzugserscheinungen«.

Bertenburg Malerei. Bis 27. März in der Weserburg des Bremer Museums für moderne Kunst

Übermalt. Verwischt. Ausgelöscht. Bis 28. August 2011 in der Galerie der Gegenwart der Kunsthalle Hamburg

Unscharf. Nach Gerhard Richter. Bis 22. Mai 2011 im Hubertus-Wald-Forum der Kunsthalle Hamburg