Gaddafi und die europäische Flüchtlingspolitik 

Jetzt mag ihn plötzlich keiner mehr

Noch vor kurzem hofierte die EU Gaddafis Gesandte, um mit Libyen ein Abkommen zu schließen. Gaddafis Regime sollte Flüchtlinge abfangen und dafür mindestens 50 Millionen Euro von der EU bekommen. Wie es aussieht, ist der Deal geplatzt.

Ein »Psychopath« und »Staatsterrorist« sei Libyens Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi, sagte Bundespräsident Christian Wulff Ende der vergangenen Woche, Angela Merkel nannte Gaddafi einen »Despoten«, EU-Außenkommissarin Catherine Ashton dachte über »Bestrafungen« für die Clique um Gaddafi nach und die Kommission fror Konten ein und erließ Reisebeschränkungen.
Dabei waren die Vertreter Gaddafis in Brüssel noch vor wenigen Tagen gern gesehene Gäste. Die EU wollte es anscheinend nicht bekannt werden lassen, doch erst am 15. Februar war offenbar Abdul Fatah Younis nach Brüssel gereist. Da amtierte er noch als Innenminister, und die Nachrichten von dem blutigen Kampf seines Regimes gegen die Aufstände bestimmten erst am nächsten Tag die Schlagzeilen der internationalen Presse. Und so behandelten die Beamten der EU-Kommission Younis, wie sie es schon in den Jahren zuvor stets getan hatten: als hohen Gesandten eines wichtigen Bündnispartners.
Younis war nach Brüssel gekommen, um abschließend über ein Projekt zu sprechen, mit dem die EU und Libyen ihre Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung intensivieren wollten. 50 Millionen Euro sollten dafür an Gaddafi fließen. Begonnen hatten die Verhandlungen lange vorher. Im Oktober waren die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und der EU-Kommissar für Erweiterung und europäische Nachbarschaftspolitik, Stefan Füle, nach Tripolis gereist, um zu klären, wofür genau das Geld verwendet werden könnte.
Dabei mussten sie vorsichtig vorgehen. Denn kurz zuvor hatte das Europa-Parlament bestätigt, was Menschenrechtsorganisationen seit langem beklagten: Gaddafi machte Flüchtlingen, die es in sein Land verschlug, das Leben zur Hölle. Mitte Juni verabschiedete das Europa-Parlament deshalb eine Resolution. Von mindestens 9 000 Flüchtlingen aus Ländern wie Irak, Sudan oder Somalia war darin die Rede, die in Libyen »Verfolgung und Tod« fürchten müssten. In den Internierungslagern komme es zu »Misshandlungen, Folter, Tötungen«, Gaddafi lasse Flüchtlinge in der Wüste an Libyens Südgrenzen aussetzen.

Doch die EU-Kommission mochte auf die Kooperation mit Libyien nicht verzichten. So hielten Malmström und Füle auf ihrer »Fact-Finding-Mission« Ausschau nach Möglichkeiten, die Entlohnung für Gadaffis Türsteherdienste politisch akzeptabel darzustellen: Die Bediensteten in den libyschen Abschiebelagern sollten »Menschenrechtstraining« erhalten und in der Registrierung der Flüchtlinge geschult werden. Für die grüne EU-Abgeordnete Franziska Brantner war das schon der erste Skandal: »Diese Registrierung hatte bis zum Sommer der UNHCR übernommen. Dann ist der UNHCR Gaddafi zu kritisch geworden und er hat ihm das Mandat entzogen.« Mit ihrer Offerte habe die EU Gaddafi geradezu dafür belohnt, dass er den UNHCR aus dem Land geworfen habe. »Keinen einzigen Euro« hätte die EU da­für locker machen dürfen, sagt Brantner. Die Kommission hatte die für Gaddafi bestimmte Summe, um unterhalb des Betrages zu bleiben, ab dem das Europa-Parlament ein Veto einlegen kann, auf drei Haushaltsposten aufgeteilt. Als die Brutalität offenbar wurde, mit der Gaddafi in den vergangenen Tagen gegen Oppositionelle vorging, fror Außenkommissarin Ashton das Geld allerdings ein.
Zwei Tage zuvor hatte Libyen der EU-Ratspräsidentschaft offen damit gedroht, keine Flüchtlinge mehr abzufangen. Dem ungarischen Botschafter in Libyen ließ Gaddafi Agenturberichten zufolge mitteilen, dass er die »Zusammenarbeit in Flüchtlingsfragen beenden« werde, falls die EU die libysche Opposition weiter »ermutige«.
Die offene Konfrontation ist das vorläufige Ende einer jahrelangen Zusammenarbeit mit Libyen bei der Abschottung der europäischen Außengrenzen. Italiens Premierminister Silvio Berlusconi hatte den Anfang gemacht. Im Septemer 2008 unterzeichnete er mit Gaddafi ein »Freundschaftsabkommen«. Darin sicherte er Libyen »Entschädigung für die Kolonialverbrechen Italiens« zu und verpflichtete sich zur Zahlung von fünf Milliarden Euro in den kommenden 25 Jahren. Dafür bekamen italienische Firmen milliardenschwere Aufträge in Libyen. Vor allem aber garantierte Gaddafi, die Grenzen in Richtung Italien für afrikanische Flüchtlinge dicht zu machen. Nach UN-Angaben ist die Anzahl der Asylanträge in Italien dadurch seit 2008 um etwa die Hälfte zurückgegangen. Außerdem hatte sich Libyen zur Rücknahme von Flüchtlingen verpflichtet. Italien konnte somit massenhaft Ankömmlinge zurückschicken, ohne deren Anspruch auf Asyl zu prüfen.

Zwar verletzten diese Praktiken fortwährend die Genfer Konvention. Dennoch wollte die EU-Kommission ein ähnliches Abkommen auch auf Bündnisebene abschließen. Die nun eingefrorenen 50 Millionen Euro für die Grenzsicherung waren dazu nur ein Vorgeplänkel. Seit 2008 verhandelte die EU mit Gaddafi über ein größeres sogenanntes Rahmenabkommen. Dies sollte auch Fragen der Energiepolitik und des Handels regeln, mittelfristig wollte man eine Freihandelszone errichten. Einen wichtigen Teil des Abkommens aber sollte die Flüchtlingsabwehr bilden. »Der Deal ist: Libyen schützt die EU-Grenzen nach Süden, dafür hofiert Europa den Diktator«, sagt Karl Kopp von Pro Asyl.
Im September 2009 informierte der stellvertretende Direktor des EU-Kommissars für Auswärtige Angelegenheiten, Hugues Mingarelli, einen Ausschuss des Europa-Parlaments erstmals über den Stand der Verhandlungen – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Brantner, die bei jener Sitzung dabei war, war entsetzt: »Die Kommission wollte mit Gaddafi ein Rücknahmeabkommen abschließen, um unerwünschte Flüchtlinge aus ganz Afrika nach Libyen abschieben zu können.« Brantner versucht, dies im Europa-Parlament zu verhindern. Viel Zeit blieb ihr nicht: Die Kommission hatte sich vorgenommen, das Rahmenabkommen bis zum EU-Afrika-Gipfel im November 2010 unterschriftsreif zu machen. In einem Hearing, das Brantner angesetzt hatte, zeigte sich die Kommission fest entschlossen: Ein Vertreter verwies auf »massiven politischen Druck« durch den Rat. »Die wollen dieses Abkommen, koste es, was es wolle«, sagte ein Beobachter der Anhörung. Doch offenbar pokerte Gaddafi zu hoch. Neben Milliarden verlangte er anscheinend auch Visa­freiheit für die eigenen Landsleute. Die Verhandlungen kamen jedenfalls zu keinem Abschluss.
Im Januar gelang es, einen Beschluss des Europa-Parlaments herbeizuführen, in dem es die Verhandlungen als »absolut inakzeptabel« geißelte. In einem einstimmig angenommenen Bericht der portugiesischen Abgeordneten Ana Gomes hieß es, ein solches Abkommen widerspreche »den Werten der EU-Grundrechtecharta«. Doch Konsequenzen hatte dieser Beschluss zunächst nicht. Denn die Kommission erhält ihr Mandat für internationale Verhandlungen vom Euro­päischen Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Erst nach Abschluss der Beratungen muss die Kommission ihr Abkommen vom Europa-Parlament ratifizieren lassen. Und ob dessen Abgeordnete die politisch und wirtschaftlich bedeutsame Vereinbarung wegen menschenrechtlicher Bedenken tatsächlich platzen lassen würden, galt keineswegs als sicher.
Doch durch den Aufstand in Libyen dürfte sich die Sache vorerst erledigt haben. Brantner ärgern die »Scheinheiligkeit und Doppelmoral« der EU-Politik: »Die hatten vor wenigen Tagen noch vor, das Abkommen glatt zu ziehen, und jetzt mag Gaddafi plötzlich keiner mehr.« Ihre Kritik an der Zusammenarbeit habe »niemanden interessiert«. Nun rede sich die Kommission darauf heraus, dass sie einen »politischen Auftrag« von den EU-Mitgliedstaaten gehabt habe, mit Gaddafi zu verhandeln. Von der Hand zu weisen sei das nicht, glaubt Brantner: »Die Mitgliedstaaten wollten mit Gaddafi kooperieren und haben dazu Druck aufgebaut. Und der war extrem groß.«