Malte Oberschelp im Gespräch über Konrad Koch und den Film »Der ganz große Traum« 

»Kicken war für das Proletariat einfach nicht attraktiv«

Der Sportjournalist und Konrad-Koch-Biograph Malte Oberschelp im Gespräch über deutsches Bürgertum, Wehrertüchtigung und Daniel Brühl als Fußballpädagogen.

Warum kennt in Deutschland jedes Kind den Turnvater Jahn, während bis vorige Woche niemand Konrad Koch kannte, über dessen Leben jetzt ein großer Film angelaufen ist?
In der Tat, Turnvater Jahn kennt jeder. Das geht aber nicht einher mit einer größeren Kenntnis der Turn- und Sportgeschichte. Ein historisches Interesse am Fußball gibt es in Deutschland seit gerade mal zehn Jahren. Und da hat man sich vor allem mit Themen wie dem Fußball im Nationalsozialismus oder auch mit dem Arbeitersport beschäftigt. Das Kaiserreich aber lag den meisten als spannendes Thema zu weit weg. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass sich auch viele Hardcore-Fußballfans nicht für die Geschichte ihres Sports und ihrer Leidenschaft interessieren. Die begnügen sich oft sehr selbstzufrieden mit der Mär vom proletarischen Ursprung des Fußballs.
Mär?
Ja, Mär. Oder besser: Wunschvorstellung. Da werden die Ursprünge des Fußballs in die Weimarer Republik verlängert, als es den Massensport gab: große Stadien, umjubelte Mannschaften und sowohl Fans als auch Spieler mit proletarischen Biographien. Am Anfang der Fußballgeschichte war das überhaupt nicht so.
Konrad Koch gilt ja als Begründer des Fußballs in Deutschland. Was war er für einer?
Er war Lehrer, also Gymnasialprofessor. Und zwar nicht an irgendeiner Schule, sondern an einer Anstalt, die man heute als Elitegymnasium bezeichnen würde und die auch heute noch eines ist: das Martino-Katharineum in Braunschweig. Hier gingen Hoffmann von Fallersleben, Carl Friedrich Gauß oder Friedrich Gerstäcker zur Schule. Dass an einem solchen Ort der Fußball entstand, ist kein Zufall. Fußball war ein Sport, der in diesem Milieu gut vertreten war: bürgerlich bis großbürgerlich, teilweise auch Adel.
War Konrad Koch dort ein Außenseiter, einer, der zu modern war für seine Zeit?
Nein, durchaus nicht. Er war beispielsweise aktiv im Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland – das ist eine Organisation, die 1891, als die Bismarckschen Sozialistengesetze ausliefen, gegründet wurde und die explizit die Aufgabe hatte, die Arbeiterjugend zu befrieden. Das passte in die Zeit.
Aber 1891 gab es noch keinen Achtstundentag, wo sollte denn die Arbeiterjugend die Zeit zum Fußball herholen?
Richtig, das Projekt hat auch hinten und vorne nicht geklappt. Es gab aber damals erste Arbeitszeitregelungen, die immerhin für ein bisschen Freizeit sorgten. So gesehen hätte es eventuell funktionieren können.
Wenn nicht nur an der fehlenden Arbeiterfreizeit, woran lag es dann?
Der Zuschnitt des Spiels hatte zunächst auch nichts, was für das Proletariat attraktiv gewesen wäre. Das Spiel, das damals gespielt wurde, sprach eher die Mittel- und Oberschicht an.
Fußball in der damaligen Zeit gilt als englisch, also modern, während andere Leibesübungen, vor allem das Turnen, als deutsch, also reaktionär gelten. Stimmt das noch?
Fußball war in gewisser Weise sehr modern, und Konrad Koch hat das früh erkannt. Das Turnen war ja paramilitärisch organisiert: Der Turnlehrer gibt alle Bewegungsabläufe und deren Tempo exakt vor. Fußball hingegen ist ein Spiel der freien Entscheidungen, und in diesem Umstand erkannte Koch ein persönlichkeitsbildendes Programm. Fußball spiegelt damit in gewisser Weise auch den Wirtschafts­liberalismus.
Kann man vereinfacht sagen, dass Kochs Programm in der Zurichtung der männlichen Jugend auf kapitalistische Erfordernisse bestand? Und dass er folglich moderner und intelligenter war als die Turn- und Vaterlandspropagandisten?
Koch war ein Mann des Turnens, und er war gegen den Sport.
Das müssen Sie erklären.
Kochs Idealvorstellung war der Fußball als Turnspiel. Er hatte den Fußball entwickelt als Entlastung für die Defizite, die sich beim Turnen einstellten. Das war vor allem das Angebot von Fußball an der frischen Luft anstelle der stickigen Turnhalle. Den englischen Fußball aber hat Koch sein ganzes Leben lang abgelehnt. Das Spiel und die Regeln hat er übernommen, auch die englische Pädagogik an den Public Schools, wo ja der Fußball historisch entstanden war, faszinierte ihn. Aber alles andere, was mit dem englischen Fußball zusammenhing, wollte er nicht: Das Training lehnte er ab, das Ligensystem, das Spielen in Trikots und vor allem den Professionalismus.
Ist der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte, gescheitert?
In einer bestimmten Hinsicht war er eine tragische Figur. Der Fußball, der ihm vorschwebte, setzte sich nicht durch. Schon in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts war Fußball kein Turnspiel im Kochschen Sinne mehr. Und die ersten Ligaspiele in Deutschland gab es auch in den frühen neunziger Jahren. Koch hatte Fußball als Erziehungsmodell verstanden, der Gedanke eines zweckfreien Spiels war ihm völlig fremd.
Der Film »Der ganz große Traum« ist vergangene Woche angelaufen. Wird er Koch und seiner Rolle in der Fußballgeschichte gerecht?
Nicht wirklich, aber das ist ja auch nicht die Aufgabe eines Spielfilms. Ich finde es nicht schlimm, dass die historische Figur Koch nicht der Filmfigur Koch, die Daniel Brühl spielt, entspricht. Der Film zielt auf ein großes Publikum und hat sehr gute Darsteller. Das ist doch okay.
Welche Geschichte erzählt der Film denn?
Koch wird fortschrittlicher dargestellt, als er wirklich war. Insoweit ist er im Film mehr englischer Sportler als deutscher Turner. Und in dem Film wird Koch mehr Widerstand entgegengesetzt, als es historisch gab. Die Schulbehörde des Herzogtums Braunschweig, die im Film den Fußball im Film verbietet, hat in Wirklichkeit einen Etat von 200 Reichsmark für den Fußballbetrieb eingerichtet. Damit konnten Bälle und anderes besorgt werden. Die Schule förderte also Koch und seinen Fußballunterricht.
Was bedeutet es, wenn Daniel Brühl nun Konrad Koch als fortschrittlichen Sportpädagogen spielt?
Zum Beispiel hat Koch im Film einen deutlich pazifistischen Zug. Damit aber hatte der historische Koch nichts zu schaffen. Der Sieg bei Sedan 1870 und die deutsche Reichsgründung 1871 waren konstituierende Elemente seines Denkens, darauf war er so stolz wie beinah alle deutschen Pädagogen dieser Zeit. Koch hat in Braunschweig »Sedan-Festspiele« ins Leben gerufen, wo die männliche Jugend leichtathletische Übungen durchführte. Bei Koch spielte auch immer der Gedanke des Militärs und der Wehrertüchtigung mit. Das wird jetzt verdrängt.
Es gab in den vergangenen Jahren einige große deutsche Fußballfilme, am berühmtesten sind vermutlich die Dokumentation »Deutschland. Ein Sommermärchen« und der Spielfilm »Das Wunder von Bern«, beide von Sönke Wortmann. Reiht sich »Der ganz große Traum« da in eine große Erzählung ein?
Mit dem »Wunder von Bern« kann man den Film gut vergleichen. Die Dramaturgie entspricht in beiden Fällen dem Genre eines Fußballfilms: Am Schluss kommt es zum großen Spiel, das auf jeden Fall gewonnen werden muss.
Malte Oberschelp: Der Fußball-Lehrer: Wie Konrad Koch im Kaiserreich den Ball ins Spiel brachte. Werkstatt-Verlag, Göttingen 2010, 160 Seiten, 16,90 Euro