Die Debatte um die Sterbebegleitung

Zwischen Leben und Sterben kommt der Arzt

Die Bundesärztekammer hat ihre Grundsätze zur Sterbebegleitung neu formuliert. Kritiker warnen vor einem »Offenbarungseid für die Menschenwürde«, denn über palliative medizinische Alternativen wird kaum nachgedacht.

Die derzeitige Diskussion um die Sterbebegleitung wird sich vermutlich noch über Jahre hinziehen. Was nach einer ermüdenden Endlosdebatte klingt, ist allerdings völlig angebracht, wenn darüber diskutiert wird, wie man das Lebensende von schwerkranken Patienten rechtlich gestalten soll.

Seit einigen Monaten scheinen sich die rechtlichen Rahmenbedingungen zu verschieben. Im Sommer 2010 änderte der Bundesgerichtshof mit einem Präzedenzurteil die Rechtsprechung zur Sterbehilfe. Die Richter werteten die Patientenverfügung auf und urteilten, dass eine lebensverlängernde Behandlung enden müsse, wenn der Patient diese ablehnt. Ärzte, Pfleger und Angehörige machen sich nicht mehr strafbar, wenn sie entsprechenden Anweisungen des Patienten nachkommen.
Bereits Ende vorigen Jahres kündigte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Jörg-Dietrich Hoppe, an, dass die BÄK das berufsrechtliche Verbot der ärztlichen Beihilfe zum Suizid mehr oder weniger aufheben möchte. Vor zwei Wochen hat die BÄK ihre neuen Grundsätze zur Sterbebegleitung bekanntgegeben. Rechtlich bindend sind diese Grundsätze nicht. Doch in den im Jahr 2004 in neuer Fassung verabschiedeten Grundsätzen wurde noch festgehalten, dass die Mitwirkung des Arztes an der Selbsttötung eines Patienten dem ärztlichen Ethos widerspreche. Von diesem Ethos trennt sich die Ärzteschaft nun.
In der aktuellen Fassung heißt es nun, die »Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe«. In der Praxis möchte man mit dieser Formulierung Ärzte, die sich bislang scheuten, todkranken Patienten beim Suizid zu assistieren, vom Druck der Verantwortung entlasten.
Realistisch gesehen belastet man die Ärzte jedoch stärker als zuvor, denn die ethische Entscheidung liegt nunmehr allein bei ihnen und ist somit eine Sache der Auslegung. Hoppe sagte: »Wenn Ärzte und Ärztinnen mit sich im Reinen sind, dann brechen wir nicht den Stab über sie.« Dass die Bundesärztekammer den einzelnen Arzt damit sich selbst überlässt, erwähnte er nicht. Die überarbeiteten Grundsätze enthalten nur den Hinweis, dass im Zweifel eine Ethikberatung hilfreich sein könne. Die eigentliche Entscheidung über lebensverlängernde oder -verkürzende Maßnahmen trifft einzig und allein der Arzt.
Der Passus »keine ärztliche Aufgabe« öffnet den Raum für individuelle Entscheidungen, warnt jedoch indirekt auch vor einer beliebigen Anwendung. Eugen Brysch, geschäftsführender Vorstand der Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz-Stiftung, äußerte im Gespräch mit der Jungle World die Befürchtung, dass diese Individualisierung der Ethik gravierende Folgen haben könnte: »Wer sich beliebig seine eigenen Regeln macht, wird gewissenlos.« Es könne der Eindruck entstehen, dass die moderne Medizin nur zwei Möglichkeiten sehe, mit Schwerstkranken umzugehen. »Ent­weder maximale Therapie ohne Rücksicht auf Lebensqualität und Qualen oder, wenn das nicht klappt, eben die Begleitung bei der Selbsttötung. Für die Menschenwürde ist dies ein Offenbarungseid«, fasst Brysch das Dilemma zusammen.
Die Ärztevertretung sieht das anders. »Für die Ärzte gab es bisher viele Grauzonen, die sie verunsicherten. Vielen war nicht klar, ob palliative Maßnahmen schon Beihilfe zum Suizid darstellten«, sagt Samir Rabbata, Pressesprecher der BÄK. Um die aktive Sterbehilfe gehe es dabei in keinem Fall.
Eine Umfrage der BÄK kam im Sommer vorigen Jahres zu dem Ergebnis, dass 30 Prozent der Ärzte bereit seien, Beihilfe zum Suizid bei Schwerstkranken zu leisten. Für diese wollte die BÄK unter anderem Klarheit schaffen. Doch diese Klarheit ist nur eine vermeintliche. Denn das rechtlich bindende Berufsrecht der Ärzte verbietet die Beihilfe zum Suizid noch immer. Hier wird aller Voraussicht nach erst der Bundesärztetag, der im Mai in Kiel stattfinden wird, für Klarheit sorgen. Die Frage ist auch innerhalb der Ärzteschaft umstritten, eine Änderung des Berufsrechts ist noch keine beschlossene Sache. Bis dahin müssen die Ärzte die Frage, wo die Grenze zwischen Assistenz beim Suizid und aktiver Sterbehilfe verläuft, allein beantworten.

Der Deutschen Hospiz-Stiftung zufolge lenkt diese Diskussion um die Sterbebegleitung ohnehin vom Wesentlichen ab. »267 Milliarden Euro kostet unser Gesundheitssystem jedes Jahr. Für Pflege geben wir aber gerade einmal zehn Prozent aus und für hospizliche palliative Begleitung bleibt ein Tropfen«, beschreibt Eugen Brysch die Problematik. Obwohl die BÄK in ihren Grundsätzen eindeutig davor warnt, »Entscheidungen (…) von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig« zu machen, läuft es in der Praxis darauf hinaus. »86 Prozent der Sterbenden in Deutschland, das sind mehrere 100 000 Menschen jährlich, erhalten keine hospizliche Begleitung. Denn die Sterbebegleitung wird miserabel honoriert«, sagt Brysch. Durch die neuerliche Debatte innerhalb der BÄK über Entscheidungsfreiheit wird dieses Missverhältnis im deutschen Gesundheitssystem nur verfestigt. Es führt dazu, dass man sich allmählich von ethischen Grundwerten verabschiedet und als Alternative nur das Sterben anbietet.

So spart man sich den teuren Ausbau der umfassenden palliativen Begleitung für schwerstkranke und sterbende Patienten. Kein Wunder, dass unter dieser Prämisse Länder wie die Niederlande und die Schweiz immer attraktiver werden. Dort ist die aktive Sterbehilfe legal, wenn auch in engen Grenzen. Vielen Patienten erscheint der schnelle Tod im Ausland die bessere Alternative als eine lange Unterversorgung in deutschen Pflegeheimen.