Bis zum letzten Tropfen

In der libyschen Stadt Tobruk sah es vergangene Woche aus, als hätten die Revolutionäre schon gewonnen. Eine kurze Reise über Kairo, Sallum, Tobruk und zurück.

Am Sonntag um 22 Uhr habe ich einen Anruf bekommen, die Stimme sagte: »Morgen um 6 Uhr fährst du mit dem Zug nach Frankfurt, von dort aus fliegen wir nach Kairo, danach fahren wir nach Tobruk, Libyen – bist du dabei?« Ich habe ungefähr drei Sekunden nachgedacht, um 6 Uhr saß ich im Zug. Ich war vor zwei Jahren mal in Ägypten gewesen und war gespannt, ob man, nachdem die Ägypter endlich Mubarak verjagt haben, ein bisschen Veränderung erkennt.
Am Kairoer Flughafen schien alles normal. Die Sicherheitsleute wollten nur in meine Tasche schauen, aber als sie meine Kameraausrüstung gesehen haben, ließen sie mich sofort gehen. Bevor wir ins Hotel gefahren sind, baten wir den Taxifahrer, uns ein bisschen durch die Stadt zu fahren. Die Stadt war voller Panzer (#15). Sobald kein Soldat in der Nähe war, nutzten die Leute die Gelegenheit und ließen sich von mir neben oder auf einem Panzer fotografieren. Abgesehen davon, dass überall Militär auf den Straßen war, hatte sich noch etwas anderes verändert, aber ich kam zuerst nicht darauf, was es war.
Wir hatten ein Hotel in der Nähe des Tahrir-Platzes gebucht, auf dem immer noch mehrere Hundert Menschen waren, manche tanzten, manche diskutierten heftig, manche trugen lautstark ihre Forderungen an die zukünftige Regierung vor (#13). Andere verkauften Schilder, die die Revolution priesen, ägyptische Flaggen oder Essen. Als ich einen Stand fotografieren wollte, an dem ein paar Jungs Nüsse verkauften, kam einer von ihnen auf mich zu und fuhr mich aggressiv an, dass ich den Stand nicht fotografieren dürfe. Er meinte, dass das Foto die Revolution lächerlich machen würde. Ich habe ihn gefragt, warum er auf die Straße gegangen sei. »Für meine Bedürfnisse, vor allem für die Freiheit.« Ich sagte ihm, meiner Meinung nach sei Essen auch ein Bedürfnis und auch Revolutionäre würden essen und aufs Klo gehen. Er lachte, gab mir Hi-Five und sagte: »Schieß dein Foto.« (#14)

Ich wollte wissen, was die Leute hier von der Muslimbruderschaft halten. Ein 21jähriger namens Mahmuod sagte: »Du kannst alle hier auf dem Platz fragen, vielleicht würdest du nur einen finden, der für die Mulsimbrüder ist.« Ein anderer namens Hossam mischte sich ein: »Die sind harmlos, aber sehr konservativ, sie haben ihre Politik ein bisschen gemäßigt und versprechen jetzt vieles. Aber wir sind wachsam. Wir wollen keine Revolution à la Iran, und ein zweites Saudia-Arabien wollen wir auch nicht werden. Ein neues Modell, irgendwas zwischen Libanon und Türkei, wäre nicht schlecht.«
Mich hat auch interessiert, was die Ägypter über Israel denken. Ungefähr sechs Leute habe ich gefragt. Ihre Meinungen waren fast alle gleich. »Alle, egal welcher Religion sie angehören, dürfen in Palästina leben, aber Israel als Land werden wir nicht akzeptieren«, hörte ich so oder anders formuliert fünf Mal. Immerhin einer sagte, er würde Israel als Land akzeptieren, aber nur, wenn die Israelis sich bis zu den Grenzen von 1967 zurückzögen.
Ich musste mich schnell vom Tahrhir-Platz verabschieden, da es in manchen Vierteln noch eine Ausgangssperre gibt. Plötzlich fiel mir auf, was außer all den Panzern in Kairo jetzt anders war als vor zwei Jahren. Die Polizei war verschwunden. Der Taxifahrer meinte, ein oder zwei Verkehrspolizisten könne man tagsüber noch zu Gesicht bekommen, aber nachts trauten die sich nicht mehr heraus.
Am nächsten Tag holte uns Mohammad ab. Wir fuhren in Richtung ägyptisch-libysches Grenzgebiet. Mohammad ist 26, hat einen Bachelor in International Advertising und macht jetzt einen Master in Ägyptologie. Sein Geld verdient er normalerweise als Touristenführer. Er erzählte uns, wie sehr das Land darunter leide, dass keine Touristen mehr kommen. Er hätte deshalb schon vieles verloren, aber er meinte, er hätte notfalls einen noch höheren Preis für die Freiheit bezahlt, er hoffe, dass jetzt alles in die richtige Richtung gehe.

Auf dem Weg nach Libyen gab es nicht so viele Straßenkontrollen. Wenn wir an Checkpoints vorbeikamen, war alles in Ordnung, sobald wir unsere Presseausweise zeigten. Aber kurz vor Marsa Matruh hatten wir an einem gottverlassenen Ort eine Panne. Plötzlich wurde Mohammad nervös und versuchte hektisch, den kaputten Reifen zu wechseln. Weit entfernt von uns erschien am Horizont ein Auto, das sehr langsam auf uns zukam (#8). Mohammad bat mich, mich ins Auto zu setzen. Als das andere Auto ganz nah war, habe ich darin drei Männer gesehen, die mir irgendwie skurril vorkamen. Nachdem sie mit Mohammad ein paar Worte gewechselt hatten, verschwand das Auto mit der gleichen Geschwindigkeit. Aber Mohammad kam nicht wieder zur Ruhe. Ich habe mich erst nach einer halben Stunde getraut, ihn zu fragen, wer die Männer waren und was sie wollten. Er antwortete: »Ich weiß es nicht mehr, ich war zu sehr von ihren Gewehren abgelenkt.«
In der Grenzstadt Sallum stießen wir auf die Flüchtlinge. Hunderte von Menschen aus zentral- und ostafrikanischen Ländern, aus Pakistan, aus Bangladesh, Indien, den Philippinen, sogar aus England und Frankreich. Manche schliefen trotz der nächtlichen Kälte im Freien, andere lagen in einer großen alten Zollabfertigungshalle (#11), überall waren viele Frauen und Kinder. Frierend und hungrig saßen die Menschen auf ihren Sachen, manche von ihnen schon seit Tagen. Wir haben dort nur ein paar Stunden verbracht. Die meisten Europäer konnten nach und nach die Grenzstadt verlassen, begleitet von den müden Augen der Nicht-Europäer, von denen manche offenbar weder vor noch zurück konnten. Eine Pakistanerin sagte mir, sie habe 21 Jahre in Libyen gelebt und kenne Gaddafi. »Ich weiß, wann ich gehen muss. Ich fürchte um mein Leben und das meiner Familie.«

Auf der anderen Seite der Grenze wurden wir vom Militär und ein paar Jugendlichen herzlich empfangen, sie halfen uns sogar, den Preis für ein Taxi nach Tobruk herunterzuhandeln. Mustafa, unser Fahrer, fing an, herumzutelefonieren, und jedes Mal, wenn er jemand erreicht hatte, gab er mir den Hörer. Beim ersten Mal war seine Frau dran. Er forderte mich auf, mit ihr Englisch zu reden. Ich glaube, ich habe mit seiner halben Verwandtschaft gesprochen. Ausländer sind hier eine Sensation.
Auf dem Weg nach Tobruk kamen wir an seinem Haus vorbei. Er fragte, ob wir nicht bei ihm essen wollten, und nach zehnmaligem Neinsagen saßen wir doch bei seiner Familie und aßen. Nach dem Essen kam die ganze Nachbarschaft vorbei, alle redeten über die Revolution. Abgesehen von der Unterdrückung jeder freien Äußerung ärgerte die hier versammelten Menschen am meisten das Schulsystem. Sie sagten, sie dürften unter Gaddafi in der Schule keine Fremdsprachen lernen, und ich verstand, warum Mustafa so stolz auf die Englischkenntnisse seiner Frau war.
Am Tag darauf hat uns Mustafa weitergefahren. Bevor wir nach Tobruk kamen, hielt uns Militär an (#3). Mustafa rief den Soldaten mit einem strahlenden Lächeln zu: »Journalisten, Journalisten.« Die haben sich fast bei uns entschuldigt, dass sie uns angehalten haben. In Tobruk gibt es auch einen Platz wie den Tahrir-Platz, nur dass der hier Dschaghbub-Platz heißt. Dort gab es sogar eine Art revolutionäres Public-Viewing (#1). Neben einem Polizisten (#6), der sich von mir unbedingt in Siegerpose vor der ausgebrannten Polizeistation (#9) fotografieren lassen wollte, traf ich auf dem Platz auch einen etwas ärmlich aussehenden alten Mann (#7). »Alte Menschen wie ich werden mit einem Lächeln sterben, da wir nicht gewagt hatten, davon zu träumen, diesen Tag noch erleben zu dürfen.« Das sagte er in sehr gutem Englisch. Er meinte, sogar die Tiere würden sich über die Revolution freuen. »Man kann es ihren Gesichtern ablesen.«

Direkt am Platz haben wir ein Hotel mit einem einzigen Stern gefunden und uns dort eingerichtet. Wir fragten nach Internet, aber das funktionierte wohl schon seit zwei Wochen nicht. Einer sagte, dass man im Masira-Hotel, einem Fünf-Sterne-Hotel, ins Internet könne. Wir fuhren hin. Das Netz funktionierte, aber nicht besonders gut. Auch wenn uns dort viele Menschen behilflich waren, hatten wir Schwierigkeiten, unser Material für unsere Redaktionen hochzuladen.
Währenddessen kam ein Mann in einer eleganten traditionellen Tracht hinein, er begrüßte uns in akzentfreiem Englisch und stellte sich als Sharief vor, er hat wohl längere Zeit im Westen gelebt (#10). Er sagte, dass Gaddafi 1 200 Menschen in weniger als drei Stunden umgebracht habe. Ich fragte, ob angesichts dessen nicht westliche Länder militärisch eingreifen sollten, aber er sagte: »Der Westen hat es noch nie geschafft, zu helfen, ohne sich einzumischen.« Weil er Gaddafi mit Hitler verglich, fragte ich, ob er vielleicht hoffe, dass sich Gaddafi am Ende wie Hitler umbringen könnte. »Nein, der bringt alle anderen um. Er ist nicht Manns genug, um sich umzubringen. Auch wenn er am Ende sterben wird«.
Emran, ein libysch-stämmiger Geschäftsmann aus London, der auch hier im Fünf-Sterne-Hotel untergekommen war, bat uns: »Bitte sagt euren Lesern, dass wir nicht auf die Straße gegangen sind, weil wir Hunger haben. Wir sind reich, aber wir sind freiheitshungrig.« Ich meinte, dass ich hier auch viel Armut gesehen hätte. Er gab mir recht und sagte, in jedem Land gebe es Armut, auch in Deutschland. »Aber wir müssen erstmal die Möglichkeit erlangen, mitreden zu können, damit wir gemeinsam diese Probleme lösen können.« Emran erzählte uns, dass Tobruk wegen seiner Ölindustrie eine wichtige Stadt sei. Viele, die dort arbeiten, seien Gaddafi-Anhänger. Daher würden die militärische Einheiten, die gegen Gaddafis Leute kämpfen und Tobruk schon befreit haben, bleiben und die Stadt überwachen.
Im Hotel stellte uns jemand Madi vor, der uns vorschlug, zu ihm nach Hause zu gehen, da er auch sehr guten Internet-Empfang habe. In seinem Haus versuchten wir wieder, unser Film­material auf einen Server hochzuladen, doch nach fünf Minuten war das Netz tot. Die Leute mutmaßten, Gaddafi habe das Internet auch hier blockiert. Facebook funktioniert in Libyen offenbar schon lange nirgends mehr.
Madis Vater, der 72 Jahre alt ist und sich selbst als Nationalisten bezeichnet, habe ich auch gefragt, was der Westen jetzt machen solle. »Der Westen hat versucht, unsere Identität wegzunehmen«, meinte er, Hilfe wolle er von westlichen Staaten nur, wenn sie sich wirklich nicht einmischen würden. Er meinte auch, der Westen habe Angst vor dem Islam, und das könne er nicht verstehen. Er fragte, ob wir, wenn wir ihn genau ansähen, denn meinten, er könne irgendeinem Tier, geschweige denn einem Menschen, etwas zu Leide tun (#12).
Madis Mutter, die uns die ganze Zeit über leckeres Essen kochte, weinte oft, weil sie sich Sorgen um ihre Söhne machte, die in Tripolis sind. Sie betete dafür, dass sie sie noch einmal in die Arme schließen dürfe. Sie hoffte, dass Gaddafi liest, was ich schreibe, und diktierte mir deshalb eine Nachricht an ihn: »Du bist ein wahnsinniger Killer. Du hast in deiner lächerlichen Ansprache gesagt, dass du bis zum letzten Tropfen deines schmutzigen Bluts kämpfen würdest. Ich sage dir: Das libysche Volk wird auch bis zum letzten Tropfen kämpfen. Deine Zeit ist um.« (#4)
In Tobruk trafen wir eine Gruppe Männer, die irgendetwas besprachen (#2). Der Mann mit der Brille notierte sich Namen, Adressen, Telefonummern, um die Männer zu koordinieren. Sie seien unterwegs, um mit ein paar Kalaschnikows gegen Gaddafi zu kämpfen, erklärte uns ein älterer Mann in olivgrünen Armeekleidern, der das irgendwie zu organisieren schien. Sie waren kurz davor, Richtung Tripolis in den Krieg aufzubrechen.
Wir fuhren lieber zurück zur libysch-ägyptischen Grenze. Als wir wieder an der Grenzstation in Sallum vorbeikamen, waren die Philippinen weg, aber die Bengalen und Pakistanis waren immer noch da, die gleichen Menschen, am gleichen Platz. Imerhin war jetzt eine amerikanische Hilfsorganisation dabei, Brot und Wasser zu verteilen (#5). Wir haben versucht, zu erfahren, was jetzt aus diesen Frauen und Kinder würde, aber niemand hatte eine Ahnung, wie es weitergeht. Ein Grenzbeamter meinte, wir sollten uns vorstellen, dass Hundertausende Menschen nach Kairo gefahren werden müssten, von denen viele aber noch nicht mal einen Pass hätten. Für viele müssten deshalb erst noch in ihren Heimatstaaten Papiere beantragt werden, und es dauere Tage, bis deren Länder Bescheid sagen würden, ob die Menschen überhaupt die richtige Staatsangehörigkeit angegeben hätten. »Was erwarten Sie von einem Land, das selbst in einem Ausnahmezustand ist«, meinte er.
Für die Rückfahrt nach Kairo suchten wir ein Auto, das uns die 800 Kilometer sicher durch die Nacht bringen sollte, fanden aber nur eines, das bestimmt mehr als 20 Jahre alt war. Nach ein paar Kilometern wurde es sehr neblig. Unser Auto hatte weder Fernlicht noch Scheibenwischer. Der Fahrer hängte sich alle fünf Minuten bis zum Bauch aus dem Fenster und wischte über die Frontscheibe. Irgendwann mitten in der Nacht wurde es in der Ferne auf der Straße sehr hell, so dass man jetzt im Nebel vor lauter Helligkeit gar nichts mehr sehen konnte. Das war die Grenze zur Stadt Alexandria, dort standen mehrere Panzer, die uns mit ihren Scheinwerfern blendeten. Diese Szene werde ich nie vergessen. Mir ist kalter Schweiß den Rücken heruntergelaufen. Diesmal mussten wir auch die Pässe herausholen. Der Nebel wurde dichter und dichter. Nach einer Weile haben ein paar Autofahrer, ganz ohne sich abzusprechen, einen Konvoi gebildet. Sie wussten genau, dass wir die Fahrt in dieser nebligen Dunkelheit nicht überstehen würden, wenn wir nicht zusammen bleiben.