Die Propaganda von Muammar al-Gaddafi

Der Jihad vor der Tür

Muammar al-Gaddafi hat die Kontrolle über weite Teile Libyens verloren und verstärkt seine Propaganda gegen den Westen. Einerseits droht er den europäischen Ländern mit einem Flüchtlingsstrom aus Nordafrika, andererseits mit einem »Jihad vor den Toren Europas«.

»Wir oder das Chaos«. Das ist eine alte politische Diskursfigur, die nicht nur von bayerischen Regierungsparteien, sondern auch von Diktatoren gerne benutzt wird. Kontrolliert man selbst nicht länger die Situation, so wird mit dem Untergang des – wahlweise »christlichen« oder »aufgeklärten« – Abendlandes gedroht.
Auch Muammar al-Gaddafi beherrscht diese Rhetorik, gerade dann, wenn er sich an die europäischen Staaten wendet. Am Samstag wandte er sich etwa an Journalisten der französischen Nachrichtenagentur AFP und gewährte der Sonntagszeitung Journal du dimanche ein Interview. Darin progonstizierte er, für den Fall seines Abgangs oder eines Kontrollverlustes seines Regimes, folgendes Szenario: »Sie werden Immigration haben, Tausende von Leuten werden Europa von Libyen aus überschwemmen. Und niemand wird mehr da sein, um sie aufzuhalten. Sie werden Ussama bin Laden vor den Toren Europas haben. Es wird einen islamischen Jihad im Mittelmeer geben. Sie werden die amerikanische Sechste Flotte angreifen, es wird Piraterieakte vor Ihren Toren geben.«
Am Sonntagvormittag waren erstmals heftige Schusswechsel im Zentrum der Hauptstadt Tripolis zu hören. Obwohl dies der Anfang vom Ende für das Regime von Gaddafi zu sein scheint, ist die Lage an anderen Fronten unklar. Mehrere Städte unweit der umkämpften Frontlinie – die unter anderem zwischen der aufständischen Osthälfte Libyens und der zum Teil noch vom alten Regime beherrschten Westhälfte verläuft – wurden am Wochenende mehrfach von wechselnden Seiten erobert. Heftige Kämpfe tobten in den Küstenstädten Ras Lanouf und Marsa al-Brega, an der zentrallibyschen Mittelmeerküste und im westlibyschen Zawiyah. Teilweise reklamierten beide Seiten den Sieg für sich.
Das Regime scheint immer mehr auf massive Propaganda zu setzen, um den Eindruck zu erwecken, alles sei unter Kontrolle. Erstmals wurde der Zugang zum Internet, der in den vergangenen Wochen in Libyen nicht immer funktionierte, am Freitag voriger Woche gesperrt. Ende Januar hatte Ägypten anlässlich der damaligen »Tage des Zorns« zum ersten Mal gezeigt, dass ein Regime sein Land fast komplett vom Netz abschneiden kann, um Proteste einzudämmen. In Libyen kommunizieren die Rebellenführer in Bengasi, der aufständischen zweitgrößten Stadt des Landes, längst per Satellit – an den lahmgelegten Providern vorbei – mit anderen Internetnutzern in der Welt. Ferner wurden vergangene Woche die wenigen europäischen Journalisten, die sich derzeit in Tripolis aufhalten, in ihren Hotelzimmern eingesperrt. »Aufgrund von Gefahr für ihre Sicherheit«, lautete die Begründung. Mitglieder von al-Qaida trieben sich auf den Demonstrationen herum, behauptete das Regime. Die Journalisten waren auf »Einladung« des Regimes nach Tripolis gekommen, nachdem Gaddafis Sohn, Saif al-Islam, mitgeteilt hatte, das Land sei entgegen anderslautender Behauptungen für die internationale Presse offen.

Mit al-Qaida zu drohen, ist ein äußerst durchsichtiges Manöver des libyschen Regimes, das kaum jemand ernst nehmen dürfte. Zumindest so viel stimmt allerdings: Al-Qaida und verwandte Strömungen waren bislang vehemente Gegner des libyschen Regimes. Der erste internationale Haftbefehl gegen Ussama bin Laden, den Interpol 1994 ausgestellt hatte, war von Gaddafis Regime beantragt worden. Damals hielt bin Laden, der aus Saudi-Arabien hatte fliehen müssen, sich vorübergehend in Ostlibyen auf, und seine Leute hatten dort zwei deutsche Staatsbürger – die für das Bundesamt für Verfassungsschutz arbeiteten – ermordet, weil sie ihren Plänen in die Quere gekommen waren.
An diese Geschichte versucht das Regime nun anzuknüpfen. Schon vorvergangene Woche, als die Rebellen in Ostlibyen an Boden zu gewinnen begannen, hatte das Regime behauptet, die Islamisten hätten in der ostlibyschen Stadt Derna ein Emirat errichtet, wie man es in den neunziger Jahren aus Hochburgen der bewaffneten Islamisten in Algerien oder später aus dem irakischen Falluja kannte. Seit rund zwei Wochen hat man davon nichts mehr gehört, obwohl die Küste im Nordosten für Journalisten und Fotografen, die über Ägypten einreisen, zugänglich ist. Derna war eine Hochburg der Monarchisten, die in Libyen von der Unabhängigkeit 1951 bis zu ihrem Sturz 1969 regierten, und gilt bis heute als höchst konservativ. Dass islamistische Gruppen dort einige Anhänger haben könnten, ist nicht unplausibel. Etwa die »Kämpfende islamische Gruppe«, aus deren Reihen 130 Häftlinge zu Beginn der jüngsten Kämpfe von Gaddafi freigelassen wurden. Grotesk ist es jedoch, zu behaupten, dies erkläre die mas­siven Proteste sowie die Tatsache, dass Tausende von Protestierenden auch in der Hauptstadt Tripolis unter Lebensgefahr auf die Straße gehen.
In Wirklichkeit besteht die Kerngruppe der Rebellen, die derzeit mit einem provisorischen Komitee über die ostlibysche Stadt Bengasi herrschen, aus bisherigen Rechtsanwälten und Richtern. Zu ihnen zählt Khalid al-Saji, der bislang Vorsitzender der Anwaltskammer war. Ihr Protest gegen das Regime Gaddafis wurzelt eher in der Verteidigung von Menschenrechten, vor allem von Rechten, die die Bürger vor der Willkür des Staats, vor Misshandlungen und vor der widerrechtlichen Verteilung von Privilegien schützen. Nicht zufällig wurde der erste Protest gegen das Regime am 16. Februar vor dem Gericht von Bengasi organisiert. Die massive Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten ließ den Protest dann zu einer offenen Rebellion werden. Abtrünnige Offiziere und Truppenangehörige gesellten sich zu den Anführern. Inzwischen rekrutieren sie für die Kämpfe gegen Gaddafis Regime eine bunt zusammengesetzte Freiwilligentruppe aus jungen Leuten, die im besten Fall ihren Grundwehrdienst gerade abgeleistet haben, viele verfügen über keinerlei militärische Erfahrung. Französische Fotografen berichten von jungen Freiwilligen, die ihre kugelsicheren Westen falsch herum anziehen und sich aus ausgedienten Uniformen und Skimützen ihren eigenen Look zusammenstellen.

In Europa zeigt die Rhetorik des Gaddafi-Regimes Wirkung, vor allem unter europäischen Rechten, die die Drohung, es werde zu Einwanderungswellen kommen, ernst zu nehmen scheinen. Dabei flohen bislang zwar weit mehr als 200 000 Menschen aus Libyen, dabei handelte sich jedoch kaum um libysche Staatsbürger. Die Menschen, die sich an der libysch-tunesischen Grenze drängen oder aber von europäischen und anderen Staaten ausgeflogen werden, sind vorwiegend tunesische oder ägyptische Wanderarbeiter, die bislang in Libyen beschäftigt waren. Hinzu kommt rund eine Million Menschen aus dem subsaharischen Afrika, die entweder über Libyen nach Europa zu kommen versuchten oder in Libyen arbei­teten und jetzt dort festsitzen. Diese Menschen werden allerdings bei der Evakuierung nicht mit so viel Aufmerksamkeit bedacht wie die Tunesier und Ägypter, die im Unterschied zu ihnen einen »offiziellen« Status genossen.
Das Regime versucht indessen, die Revolte in Pogrome gegen Ausländer zu kanalisieren, aber auch den Ausländern keine andere Wahl zu lassen denn als Söldner für das Regime zu kämpfen. Den früheren »arabischen Brüdern« aus Tunesien und Ägypten wurde in SMS, die massenhaft von der libyschen Telefongesellschaft an Handy-Nutzer verschickt werden, vorgeworfen, als Schmarotzer gekommen zu sein, um von Libyens Erdöleinnahmen zu profitieren. Bereits im Januar hatte Gaddafi als einziger arabischer Staatsführer die tunesische Bevölkerung offen beschimpft, nachdem sie ihren langjährigen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali verjagt hatte. Ben Ali hatte den Beginn seiner Karriere einst Gaddafi zu verdanken: Während der kurzfristigen Konföderation zwischen Libyen und Tunesien 1974/75 hatte Gaddafi ihn zum obersten Sicherheitsbeauftragten ernannt.

In Frankreich und Italien, die bislang Libyens größte Waffenlieferanten innerhalb der EU waren, wird derzeit über das »Migrationsrisiko« diskutiert. Italiens Innenminister Roberto Maroni warnte am Sonntag die USA davor, sich in Libyen einzumischen. Dies könne sonst große Flüchtlingswellen auslösen, »und sie werden alle zu uns kommen«. Auch der aus Malta kommende EU-Kommissar John Dalli widersetzte sich am Freitag zunächst der Kommission. Diese ging in seinen Augen zu weit in der Verurteilung des Regimes von Gaddafi, der sich jedoch angesichts der Gewalt inzwischen die Mehrheit der EU-Staaten angeschlossen hat. Am Wochenende revidierte er dann seine Meinung, er habe sich keinesfalls von der Position der Kommission absetzen wollen.
Die französische Regierung hat hingegen, trotz innenpolitischer Beschwörung des »Migrations­risikos« von Tunesiern sowie Ägyptern und auch Libyern, seit einer Woche eine wesentlich schärfere Position gegen Gaddafi eingenommen. Frankreichs Außenminister, Alain Juppé, fordert inzwischen explizit seinen Abgang. Die französische Regierung war in den vergangenen Wochen wegen früherer Verbindungen zum Gaddafi-Regime in Erklärungsnot geraten. Die frühere Außenministerin Michèle Alliot-Marie wurde zwar wegen zu enger Kontakte zum tunesischen und indirekt auch zum libyschen Regime am vorvergangenen Wochenende aus dem Amt gejagt. Doch ihr Lebensgefährte Patrick Ollier, ein führender Lobbyist des libyschen Regimes und Vorsitzender der parlamentarischen Freundschaftsgesellschaft Frankreich-Libyen, sitzt nach wie vor als Minister für Parlamentsangelegenheiten in der Regierung. Auch deswegen sah sich die Regierung genötigt, einen schärferen Ton ­gegenüber Gaddafi anzuschlagen. Die französische Regierung unterstützt inzwischen offiziell den »Nationalen Widerstandsrat«, der sich in Bengasi bildete.