Das Wahlprogramm der Berliner Grünen

Grüne umarmen die Stadt

Das Wahlprogramm ist beschlossen, die Spitzenkandidatin redet sich warm. Nach ihrem Landesparteitag machen sich die Berliner Grünen bereit für die Abgeordnetenhauswahl im September. Doch die Umfragewerte sinken.

Im »Nachbarschaftstreff« in der Cuvrystraße war in der vergangenen Woche das Ende der Toleranz erreicht. Das vermeintlich unerhörte Verhalten der in die Wohngegend einfallenden Ausländerhorden versetzte die Ortsansässigen bei einer Diskussionsveranstaltung in große Aufregung. Wie mehrere Zeitungen berichteten, empörten sich Anwohner darüber, dass Touristen »in die Hauseingänge pinkeln, Bierflaschen werfen und herumgrölen«. Eine Cafébesitzerin ärgerte sich, dass in ihrem Lokal kaum noch Deutsch gesprochen werde. Auch das Verbot des Treibens wurde gefordert. Hier erhoben sich nicht etwa die Bürger eines Provinznestes gegen die Bedrohung von außen. Es waren Anwohner in Berlin-Kreuzberg, die auf Einladung des grünen Bezirksverbandes den »Zuwanderungsstopp« für Gäste aus aller Welt in ihrem Stadtteil verlangten. Der Titel der Veranstaltung war: »Hilfe, die Touris kommen!«

Um im September bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus zu triumphieren und mit der Spitzenkandidatin Renate Künast den rot-roten Senat unter Klaus Wowereit (SPD) abzulösen, nehmen sich die Grünen nicht nur bei Diskussionsveranstaltungen, sondern auch in ihrem neuen Wahlprogramm, das am Wochenende auf dem Landesparteitag im noblen Ramada-Hotel beschlossen wurde, Themen an, vor denen sich ihre Basis lange gescheut hat. So ist darin ebenso selbstverständlich von »erneuerbaren Energien«, »Jobmotoren« und »sozialer Stadtentwicklung« wie von den »Problemen mit Migranten« die Rede. In ihrer Ansprache vor den Delegierten verteidigte Renate Künast den Passus im Programmentwurf, der diese Probleme benennt: Ehrenmorde, Drogenhandel, islamischer Fundamentalismus. »Das müssen wir ansprechen, wenn wir für alle da sein wollen«, sagte sie. Die in Berlin lebenden Migranten hätten eben »Rechte, aber auch Pflichten«. Dass die besagte Textstelle vor allem von Parteilinken aus dem Bezirksverband Friedrichshain-Kreuzberg kritisiert wurde, lag nicht daran, dass der Punkt »Tourismus« in der Aufzählung fehlte. Vielmehr wurde bemängelt, dass der Entwurf Vorurteile gegenüber Migranten schüre. Ein Änderungsantrag, demzufolge dieser Teil aus dem Programm gestrichen werden sollte, wurde jedoch mit 81 zu 62 Stimmen knapp abgelehnt.
Für Künast dürfte das eine Erleichterung gewesen sein, denn eine weitere Blamage auf ihrem Weg zum Amt der Regierenden Bürgermeisterin hätte sie sich kaum leisten können. Seit ihrer Ankündigung im vergangenen November, als grüne Spitzenkandidatin bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus anzutreten, sinken ihre Umfragewerte stetig. Künast fiel unter anderem ­wegen ihrer Forderungen nach »Tempo 30« in der Innenstadt und nach der Abschaffung der Gymnasien beim stark umworbenen Bürgertum in Ungnade. Aufgeben wollen die Grünen diese Wähler­klientel aber keinesfalls. »Eine Stadt für alle!« lautet der Wahlkampfslogan, Künast soll die Arrivierten mit kosmopolitischem Gestus und vor allem wirtschaftlichem Pragmatismus überzeugen. So ist im Wahlprogramm selbstverständlich von »mittelständischen Unternehmen« die Rede, die wie in der Rhetorik der FDP als »das Rückgrat der Wirtschaft« bezeichnet werden.

Glück in wirtschaftlichen Dingen dürften die Grünen brauchen, sollten sie nach einem Wahlsieg den klammen Berliner Haushalt aufbessern wollen. Die Delegierten legten sich deshalb vorab schon einmal auf Einsparungen in Höhe von 500 Millionen Euro fest. Von diesen sollen 250 Millionen Euro durch das Streichen von Subventionen aufgebracht werden, auch im Sozialbereich.
Die Grünen wollten »die ganze Stadt umarmen«, verkündete Künast auf dem Parteitag. Angesichts solcher Sparvorhaben dürften nicht alle Berliner die Umarmung erwidern wollen. Unterstützung für die neuen Pläne wird es künftig immerhin vom neuen Parteivorstand um Bettina Jarasch und Daniel Wesener geben. Jarasch, die dem »Realo-Flügel« der Partei zugerechnet wird, rief den Delegierten zu: »Keine Angst vor der Volkspartei!« Doch von der Fundamentalopposition wollten ohnehin nur noch wenige Grüne im Saal etwas wissen. So löste Jaraschs Appell, dass sich die Partei »auch mit spießigen Themen wie saubere Straßen« auseinandersetzen solle, bei vielen Anwesenden geringere Aufregung aus, als wohl beabsichtigt war. Auch Wesener gibt sich eher wie ein loyaler Parteisoldat denn wie ein Vertreter des linken Flügels. »Nichts Schöneres« gebe es, als für die Grünen einen Wahlkampf zu bestreiten, sagte er. Zugleich offenbarte der langjährige Mitarbeiter von Hans-Christian Ströbele noch die ganz besondere Doppelstrategie seiner Partei: »Wir gehen auf’s Ganze, aber bleiben realistisch.«
Die Protestpartei mit bürgerlichem Antlitz also – dass die Taktik nicht unbedingt aufgehen muss, zeigte kürzlich das enttäuschende Wahlergebnis der Grünen in Hamburg, das ihnen nicht einmal eine Koalition mit der SPD einbrachte. Die Rolle als Vertreterin des »Wutbürgers«, die die Partei seit den Protesten gegen »Stuttgart 21« spielte, scheint ihr keine Vorteile mehr einzubringen: Nachdem Winfried Kretschmann lange Zeit als erster grüner Ministerpräsident gehandelt worden ist, liegen die baden-württembergischen Grünen in Umfragen wieder hinter den Sozialdemokraten.

In Berlin haben die Grünen den erfolgreichen Berliner Volksentscheid über die Offenlegung der Verträge zur Teilprivatisierung der städtischen Wasserbetriebe kürzlich als große Niederlage für die rot-rote Regierung ausgelegt, von »Wutbürgern«, die es zu vertreten gelte, wollte Jarasch auf dem Parteitag jedoch nichts wissen. »Es geht nicht nur um ein Dagegen«, sagte sie. »Denn Bürgerbeteiligung ist anstrengend, das weiß niemand besser als wir.« Bleibt es bei den derzeitigen Umfrageergebnissen, dürfte für die Grünen auch die Suche nach einem Koalitionspartner anstrengend werden: Wenn sie um jeden Preis Künast zur Regierenden Bürgermeisterin machen wollen, bliebe als Mehrheitsbeschafferin wohl nur die CDU übrig. Und angesichts der Art, wie die Grünen sich in ihrem Wahlprogramm der Integration annehmen, wären Verhandlungen mit der CDU zu diesem bisherigen Streitthema durchaus möglich.