Der Fall zu Guttenberg und die Wissenschaft

Herr Lepsius, der Kampf geht weiter

Was sagt der Fall zu Guttenberg über den Zustand der Wissenschaft aus? Einige Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit in den technologisierten Gesellschaften.

Der Fall zu Guttenberg ist ein Ausnahmefall, denn es sind zwei Universitätsprofessoren, die den Sturz des Ministers eingeleitet und dann forciert haben. Kurz sei noch einmal rekapituliert: Es war der Bremer Juraprofessor Andreas Fischer-Lescano, der zu Guttenbergs Dissertation aus fachlichem Interesse gelesen hat, sie als an Verfassungsrechtsfragen interessierter Wissenschaftler für inhaltlich schwach und an manchen Stellen seicht befand und neun der vielen Stellen der Dissertation entdeckte, die von anderen stammten und nicht als Zitate ausgewiesen waren. Mit seiner wissenschaftlichen Kritik der Arbeit, die er in einer Fachzeitschrift veröffentlichte, war für Fischer-Lescano der Fall zu Guttenberg auch schon beendet. Anfragen von Anne Will, Johannes B. Kerner und Thomas Gottschalks »Menschen 2011« lehnte er ab, wie die Süddeutsche Zeitung in einem Porträt des Juristen schrieb. Ein Fernsehprofessor wollte Fischer-Lescano nicht werden.
Genauso verhält es sich auch mit dem Bayreuther Staatsrechtsprofessor Oliver Lepsius, dessen für zu Guttenbergs Rücktritt entscheidende Äußerungen über Youtube immense Verbreitung fanden – ein Highlight einer alten Wahrheitsauffassung der Wissenschaften, wie man sie zumindest an den Universitäten schon für ausgestorben hielt. Da stand ein in jeder Beziehung uncharismatischer Professor vor der Kamera und sagte nichts als die Wahrheit, einen Betrug nannte er einen Betrug und einen Betrüger einen Betrüger. Als uneitler Professor im Pflichtanzug wirkte er dabei wie eine »Persönlichkeit« der Wissenschaften, die direkt aus Max Webers berühmter Rede über den »Inneren Beruf zur Wissenschaft« entsprungen zu sein schien. Eine Persönlichkeit, die, wie Weber meinte, »rein der Sache« zu dienen habe. Weber hatte die Rede über den Beruf der Wissenschaft 1919 in München vor revolutionär gesinnten Studenten gehalten und dabei vor allem gegen die »Götzen« der »Persönlichkeit« und des »Erlebens« im wissenschaftlichen Betrieb nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs Partei ergriffen. Und ein solcher Widergänger des Weberschen Fachbetriebsprofessors hatte es nun geschafft, so weit in die Politik hineinzuwirken, dass die Politik sich seinem Urteil beugen musste – ohne dass Lepsius das gefordert hatte. Das ist neu und nicht der Normalfall.
Der Normalfall im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik in den modernen Industriegesellschaften kommt eher in einem Satz zum Ausdruck, den Franz Josef Strauß Ende der fünfziger Jahre über den Kernphysiker und Nobelpreisträger Otto Hahn geäußert hat. Hahn sei »ein alter Trottel, der die Tränen nicht halten und nachts nicht schlafen kann, wenn er an Hiroshima denkt«, hatte Strauß damals gesagt. Anlass der Äußerung war die »Göttinger Erklärung« aus dem Jahr 1957, in der Atomphysiker um Hahn vor einem verharmlosenden Umgang mit Atomwaffen gewarnt hatten, nachdem bekannt geworden war, dass der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Verteidigungsminister Strauß Atomwaffen für die gerade einmal zwei Jahre alte Bundeswehr beschaffen wollten. Inhaltlich sagt der Satz von Strauß damals wie heute, dass die wissenschaftliche Intelligenz sich aus politischen Entscheidungen heraushalten soll.
Die technologisierten Gesellschaften der Moderne basieren zwar auf wissenschaftlichen Errungenschaften, garantiert wird die Wissenschaft aber allein durch die politischen und ökonomischen Mächte, und die bestimmen, wohin die Gesellschaft sich entwickelt. Wissenschaftler haben in diesem Machtgefüge der zivilen und militärischen Mächte nur Experten zu sein, nicht Entscheidungsträger. Diesem Machtstatus trug Angela Merkel, die selbst untadelig in einer sich zumindest sozialistisch nennenden Gesellschaft als Quantenphysikerin promoviert wurde, auf ihre Art und Weise Rechnung, indem sie den Politiker zu Guttenberg von seiner wissenschaftlichen Arbeit unterschieden wissen wollte. Dass das bei zu Guttenberg nicht funktionierte, heißt aber nicht, dass es nicht bleibt, wie es war und ist.

Der Angriff auf die Stellung der Professoren und Intellektuellen der Wissenschaften wurde aber auch von links geführt. Es war Karl Marx, der 1842 in der Rheinischen Zeitung folgenden Satz geschrieben hat: »Die Gelehrten von Fach, (…) die Doktoren und sonstigen Ohren, die (…) mit ihrer vornehmen Pedanterie und ihren winzig-mikrologischen Dissertationen, sie haben sich zwischen das Volk und den Geist, zwischen das Leben und die Wissenschaft, zwischen die Freiheit und den Menschen gestellt.« Wenn man Marx Böses will, kann man seinen Satz in einem Zusammenhang mit den Kampagnen der Bild-Zeitung für zu Guttenberg und Franz Josef Wagners Aufruf »Scheiß auf den Doktor« lesen. Das »Volk« jedenfalls, wie es sich die Bild-Zeitung und große Teile der CSU vorstellen, drischt zurzeit ähnlich auf die Doktoren der strengen Wissenschaft ein – Fischer-Lescano etwa erhält zahlreiche Hass-Mails.
Marx ging es aber natürlich um eine andere Spaltung als die zwischen einem sogenannten einfachen Volk und den Doktoren der Wissenschaft, zu denen er ja selbst zählte. Marx gehörte in der Nachfolge Hegels zu jenen Intellektuellen, die bereits die Austreibung der revolutionären Kräfte aus den Universitäten am eigenen Leib zu spüren bekamen. Man kann diese Austreibungsgeschichte, die die mit ursprünglich reformistisch-revolutionärem Impetus gegründeten Universitäten in Fachkräftebereitstellungsunternehmen für Staat, Militär und Wirtschaft verwandelte, für alle entwickelten Länder einschließlich der USA und der Sowjetunion schreiben.
Eine Ausnahme bildet lediglich Frankreich, wo bis zu Nicolas Sarkozys Großangriff auf die Universitäten das in Richtung Jean-Paul Sartres gesprochene Diktum Charles de Gaulles galt, »einen Voltaire verhaftet man nicht«. Dadurch war es in Frankreich bis in die vergangenen Jahre möglich, dass die Intellektuellen auf Distanz zum Staat bleiben konnten und etwa ein linksradikaler Philosoph wie Alain Badiou das philosophische Institut einer der angesehensten Eliteschulen des Landes leiten konnte.

In Deutschland ging das schon zu Marx’ Zeiten nicht mehr. Der lange Jahre an der Freien Universität Berlin lehrende jüdische Philosoph Jacob Taubes hat die Geschichte der Vernichtung des revolutionären Potentials in den universitären Wissenschaften 1963 in seinem Aufsatz »Die Intellektuellen und die Universität« analysiert. Für ihn war die Humboldtsche Universitätsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts das deutsche Pendant zur französischen Revolution. Die pädagogische Reform, so Taubes, war Surrogat für die politische Emanzipation. Allein die Bildung sollte schon adeln und so über den Mangel an politischem Einfluss hinwegtäuschen.
Diese Konstruktion hielt aber nicht lange, denn die revolutionären Implikationen der offiziell konservativen Staatsphilosophie Hegels konnten nicht übersehen werden. In der Universität selbst wurden dadurch aber die linken Hegelianer wie Ludwig Feuerbach, Marx oder Arnold Ruge selbst auffällig – und wurden ausgeschlossen: Feuerbach musste seine Erlanger Privatdozentur aufgeben, Ruge seine Dozentur in Halle, Marx konnte sich nicht mehr habilitieren. Für Taubes zieht damit die Kritik aus der Universität aus. Für ihn war es kein Wunder, dass drei der wichtigsten Denker des 19. Jahrhunderts, Karl Marx, Charles Darwin und Friedrich Nietzsche, ihre Arbeit außerhalb der Universitäten erledigten. Marx und Darwin waren nie Professoren an einer Universität, wobei Darwin nicht mal promoviert worden war, und Nietzsche hatte seine Professur schon wieder aufgegeben, als er seine wichtigsten Werke schrieb.

Trotzdem machten die Wissenschaften an den Universitäten natürlich weiter – und zwar so erfolgreich wie nie zuvor. Und zwar auch, weil der technologische Fortschritt sehr gut verschleiern konnte, dass das System der Wissenschaften der politischen Herrschaft unterworfen bleibt, die vorausbestimmt, »was wirklich von Vernunft und Freiheit in die Wirklichkeit eingehen kann« (Taubes). Aber für Taubes war auch immer klar, dass eine Kritik der Wissenschaften nicht hinter den Stand der verwissenschaftlichten, industriellen Gesellschaft zurückfallen dürfe – kommt doch die Idee einer vom Naturzwang emanzipierten Gesellschaft erst in der industriellen Gesellschaft in die Nähe ihrer Verwirklichung.
Ein wirkliches Problem bleibt aber, in welcher Form die kritische Funktion der Wissenschaft institutionalisiert werden kann. Für Taubes, der 1987 starb, war dieser Ort nicht mehr die Universität, die sich schon in den achtziger Jahren so weit auf den Weg ihrer Ökonomisierung begeben hatte, dass Taubes’ Kollege, der Religionsphilosoph und FU-Gründungsstudent Klaus Heinrich, bereits im selben Jahr einen Vortrag mit dem Titel »Zur Geistlosigkeit der Universität heute« hielt.
Der Fall zu Guttenberg bringt mit aller Deutlichkeit ans Licht, dass die Doktoren, die die Universität heute promoviert, vorrangig für Politik und Wirtschaft produziert werden, so dass man es nicht einmal mehr an den Universitäten für notwendig erachtet, ihre sogenannten Forschungsarbeiten auch zu lesen. Die Forderungen von Wirtschaft und Politik, die Universitäten hätten sich nach ihren Bedürfnissen zu richten, waren im Falle zu Guttenbergs ebenso erfüllt wie im Fall von Kristina Schröder oder den promovierten Guttenberg-Verteidigern in den Medien. Überraschend bleibt allein die Tatsache, dass der kritische Geist der Wissenschaften an den Universitäten noch in Einzelnen unerschrocken lebt. Fast will man ausrufen: Oliver Lepsius, der Kampf geht weiter! Wenn der Weltgeist seine Legionen in die Wirklichkeit entlässt, dann bebt sogar Bayreuth. Wenigstens für ein paar Tage.