Über Sex und Elend. Vorabdruck aus »Erich Mühsam: Tagebücher«

»Ich muss der Schweinerei endlich energisch zu Leibe gehen!«

»Ich will ehrlich sein, soweit ich es von mir selbst nur kann, und ich will auch nicht vor einer Entblößung meiner Geschlechtlichkeit halt machen.« In seinen Tagebuchaufzeichnungen berichtet der Anarchist und Schriftsteller Erich Mühsam vom Elend der Deutschen, die keine Gesinnung haben, von einer von ihm getätigten »Deflorierung«, den Schwierigkeiten eines Sexuallebens mit Tripper und dem Zickenkrieg zwischen »Elschen« Lasker-Schüler und dem »geilen kleinen Nähmädchen« Emmy.

Château d’Oex. la Soldanelle, 22. August 1910. Montag.

Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dies Heft zu kaufen. Es soll mein Tagebuch sein. Ich glaube kaum, dass ich es in der Art führen werde wie damals im Gefängnis. Dazu gibt’s hier bei aller Beschäftigungslosigkeit und bei aller Langeweile zu viel zu tun; dazu habe ich auch hier bei aller Zeitbindung und bei aller Willensbeschränkung noch immer zu viel Freiheit. Ich werde schwerlich jeden Tag zu Eintragungen kommen – und jedenfalls kaum je zu ausführlichen. So werde ich mich also einrichten müssen.
Dass ich hier bin, ist merkwürdig genug. Eine Sanatoriumskur hielt ich schon während des Prozesses (22.–25. Juni) und vorher für nötig. Im Juli musste ich noch erst für die zweite Monatshälfte nach Frankfurt ans Cabaret (Mary Irber: Rotschildt-Maitresse); nach acht Tagen mit Krach fort. Dann Berlin, wo ich sämtliche Geschwister traf. Unterzeichnung eines ärgerlichen Familienkontraktes in der großväterlichen Erbschaftsangelegenheit (Ich sage zu allem »Ja«, bis sich eines Tages die Achse dreht.) Papa, der im April einen schweren Herzschwächeanfall hatte und zur Rekonvaleszenz nach Kudowa geschickt war, kam über Berlin zurück. Mehrere Tage dort mit ihm zusammen. Für beide Teile gleich qualvoll. Immer wieder die gleiche Taktik: Wir vermeiden Anstößiges, wir vermeiden, miteinander allein zu sein, wir gehn vorsichtig umeinander herum. Er sucht manchmal Gelegenheit zu spitzen Anzüglichkeiten. Ich halte das Maul.
Nach seiner Abreise untersuchten mich Hans und Julius, stellten Herzerweiterung fest und angehende Arterienverkalkung. Sanatorium: dringendes Erfordernis. Ich wollte statt dessen nach Aeschi zu Johannes. Nein: Geld gibt’s nur für reguläres Sanatorium. Nach langen Schwierigkeiten setze ich durch, dass ich in die Schweiz kann, suche Château d’Oex aus dem Bäder­almanach heraus. Meine Geschwister haben ganze 300 Mk bewilligt (mit was für Opfergeschrei!). Reise usw. – alles auf eigene Kosten. Leider habe ich mich in der Wahl des Ortes, wo ich seit Freitagabend bin, anscheinend geirrt. Erstens ist er noch so weit von Aeschi, dass an häufiges Beisammensein mit dem Freund nicht zu denken ist, dann sind die übrigen Kurgäste (fast lauter Französisch sprechende Damen) ganz unzugänglich und ich fortgesetzt allein, und schließlich langweilt mich auch die Landschaft. Hohe Berge, Triften, Matten – Ansichtskartenschönheit. Und kein bisschen Wasser! – Ich glaube nicht, dass ich länger als eine Woche hierbleiben werde.
Auf der Herreise besuchte ich Johannes in Aeschi, traf ihn riesig wohl an, kaum verändert gegen früher, aber gesünder und weniger romantisch überspannt. Iza (seine Frau! – dass ich nicht lache!) ist verreist. Er liebt sie wirklich und ich freue mich sehr, dass diese furchtbare Not von ihm genommen scheint. Eben schickte ich ihm das Reisegeld hierher. Käme er doch rasch!
Ich komme mir sehr einsam vor – und nicht nur die örtliche Abgeschiedenheit tut das. Frieda ist von Frick schwanger. Lotte ist mit Strich auf Reisen und ich weiß nicht wo. Uli haust wieder in München und schreibt in jedem Brief um Geld. Spela verließ ich in Berlin sterbenskrank, Schenniß kümmert sich um sie, aber ich glaube, da ist nichts mehr zu hoffen. Landauer will durchaus einen Sozialist-Artikel noch in diesen Tagen von mir. Ich darf aber nicht viel schreiben und mich nicht anstrengen.
Johannes gab mir drei Bände der Tagebücher Varnhagens von Ense mit, die ich gierig lese. Damals lohnte es noch, Tagebücher zu schreiben! Trotz der Armseligkeit der vormärzlichen Politiker – welche bewegte Zeit! Welche Beziehung zwischen Geistigkeit und Öffentlichkeit! Welche Teilnahme der großen Geister (Varnhagen, Humboldt, Tieck, Bettina v. Arnim usw.) an den Geschehnissen des Tages! – Und heute? Unsre Zeit ist bei Gott nicht minder armselig, unsre Regierungen nicht minder jämmerlich, unsre Politik nicht minder schikanös, knechtschaffen und vormärzlich. Nur eins unterscheidet unsre Tage von Varnhagens: Heut ist auch das Volk interesselos, und die Geistigkeit nimmt schon gar nicht teil an allem, was vorgeht! – Ich werde in dies Tagebuch nicht viel Zeitprophetisches zu vermerken haben.

München, Sonntag, d. 2. Oktober 1910.

Jetzt habe ich glücklich das Zimmer in dieser Pension, in dem ich bleiben werde, und für die nächsten Tage steht mir die peinliche Aufgabe bevor, meine unzähligen Köfferchen und Kartons auszupacken. Denn ich will mich hier einrichten, als ob ich jahrelang wohnen bleiben sollte. Ist erst alles in Ordnung, dann hoffe ich, wird auch wieder rechte Arbeit in Gang kommen.
Landauers Artikel im neuen Sozialist befriedigt mich sehr, wenn ich ihn auch nicht überall unterschreiben möchte. Er konzediert meinen Absichten über die Freiheit in Sexualdingen mehr, als ich je erwartet hätte, und schränkt die maßlosen Schimpfereien des »Tarnowska«-Artikels sehr ein. Seine Verteidigung der Ehe präzisiert er dahin, dass unter Ehe auch Vielehe oder Gemeindeehe verstanden werden könne. Ferner gibt er die Einwirkung der Geschlechtlichkeit auf alles seelische Erleben zu, mithin auch in den Freundschaften von Mann zu Mann, von Frau zu Frau. Was er aber noch gegen meine Auffassungen aufrecht hält, fasst er in die versöhnlichste Form, z.B. in die Frage, ob wir denn die Freiheit der »verantwortungslosen Lust« überhaupt vertragen würden. Kurzum, ein sehr lieber, verständiger Artikel, in dem fast etwas wie Reue über den früheren durchklingt. Ich bin sehr froh, keinen Groll mehr gegen diesen Freund tragen zu brauchen. – Sehr gute Worte findet Landauer in der gleichen Nummer zu den Moabiter Streik­unruhen, die noch immer nicht ganz beendet zu sein scheinen. Das haarsträubende, stupide und viehische Verhalten der Polizei wird in ruhigen Worten kritisiert und der Verdacht angedeutet, dass die ganze merkwürdige Sache von Drahtziehern bewirkt worden ist, die nach einer Wahlperiode zur Besänftigung des durch Steuern, Teuerung und die Verfahrenheit der öffentlichen Dinge aufgebrachten Bürgertums suchen. Sehr wahrscheinlich! – Dumm und teilweise sogar infam ist das Verhalten der sozialdemokratischen Presse den Vorgängen gegenüber. So treffend der Vorwärts manches vorbringt, was sich gegen das brutale Losschlagen mit Säbeln auf Greise, Frauen und Kinder richtet, so falsch ist es, wenn er die Ursprünge dieser Krawalle dem »Mob« und »Janhagel« zuweist. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass grade die Arbeiter in sehr berechtigter Wut gegen die Streikbrecher, die unter dem Waffenschutz der hohen Polizei ihr jämmerliches Geschäft verrichten, vielleicht unter Drohungen protestiert haben. Dann ist die Poizetka mit Brownings und Plempe dazwischengefahren und hat eine wahre Revolte hergestellt. Es heißt, ernste Vorgänge entwürdigen, wenn man sie um zweifelhafter taktischer Vorteile willen unernst hinstellt. Der Vorwärts (von dem Münchner sozialdemokratischen Revolverblatt rede ich nicht) stände würdiger da, hätte er von vornherein jeden Angriff auf die Arbeiterverräter und die bezahlten Verbrecher in Schutzmannshelm gutgeheißen. Hätte ich nur den Varnhagen noch hier. Ich möchte so gern die Urteile dieses Konservativen über die Berliner Schutzmannschaft zitieren, die er gleich bei deren Entstehen fällte.
(…)
München, Montag, d. 3. Oktober 1910.

Sollen diese Tagesaufzeichnungen für mich selbst als Erinnerungsstützen Wert haben, so müssen sie ehrlich sein, die notierten Ereignisse niemals fälschen und für mein gegenwärtiges Erleben wichtige Vorgänge nicht verschweigen. Die Rücksicht darauf, dass die Notizen einmal publiziert werden könnten, darf nichts entscheiden. Steht schon manches in diesem Heft, was die Veröffentlichung in den nächsten Jahrzehnten sowieso ausschließt, so werde ich mich auch nicht abschrecken lassen, Sachen einzutragen, die die Drucklegung zu meinen Lebzeiten – und vielleicht noch lange darüber hinaus – überhaupt verbieten. Ob sich in 80 oder 100 Jahren mal jemand findet, der meine Tagebücher der öffentlichen Mitteilung für wert halten und herausgeben wird, kann ich nicht wissen. Niemand, der aus dem Tagesgeschehen und Erleben heraus Notizen schreibt, kann deren Kulturdauer ermessen. Über den Wert von Tagebüchern entscheidet nicht das Talent des Verfassers – denn die Zusammenhanglosigkeit der Bemerkungen hindert doch die Entstehung eines literarischen Meisterwerks –, sondern der Rhythmus der allgemeinen und persönlichen Ereignisse, die registriert werden. Also ich will ehrlich sein, soweit ich es von mir selbst nur kann, und ich will auch nicht vor einer Entblößung meiner Geschlechtlichkeit halt machen. – Mit dem Stubenmädel hier habe ich seit heute nacht ein richtiges Verhältnis. Bisher hatten wir uns nur geküsst. Gestern hatte sie Ausgang und ich führte sie auf die Oktoberwiese, die heute geschlossen wurde, und nachts kam sie zu mir ins Zimmer. Es stellte sich die überraschende und merkwürdige Tatsache heraus, dass das zwanzigjährige Mädchen noch unberührt war, und so habe ich zum ersten Mal in meinen Leben eine Deflorierung vorgenommen. Und nicht minder merkwürdig ist, dass das gute Kind rasend in mich verliebt ist, ja, sich, wie sie mir beichtete, auf den ersten Blick in mich verliebt hat. Bei mir – ich glaube darin sicher zu sein – ist von Verliebtheit gar nicht die Spur vorhanden. Das Mädelchen rührt mich mit ihrer wilden Zärtlichkeit – ich bin darin so wenig verwöhnt. Es rührt mich umso mehr, als ich doch wirklich bei Frauen dieser Art sonst ganz abfalle und mir immer eingebildet habe, es gehöre schon eine ungeheure Differenziertheit dazu, wenn eine Frau zu mir in zärtlichen Empfindungen aufglühen kann. Die Kleine ist niedlich, aber keineswegs schön. Sie küsst prachtvoll und drückt sich alle Augenblicke zu mir ins Zimmer, um es tun zu können. Für mich hat dies Verhältnis den Reiz der Neuheit – und noch manchen andren Reiz. Nur dass sie Frieda heißt, ist greulich. Dieser Name hat in meinem Leben eine zu köstliche Bedeutung, als dass ich ihn für ein neues Erlebnis anwenden könnte. Ich werde für die Kleine schon einen Namen erfinden müssen. – Aber froh bin ich, dass ich endlich einmal – und doch hoffentlich für längere Wochen – sexuell versorgt bin.
(…)

München, Mittwoch, d. 5. Oktober 1910.

Es passiert wenig. Mit den paar schönen warmen Tagen ist’s wieder vorbei. Die Katarrhzeit beginnt. – An Frau v. Ruttersheim habe ich den ersten noch sehr höflichen Mahnbrief geschrieben. Rößler meint, dass sie zahlen wird. Ich habe sehr große Zweifel. Immerhin: Ich denke viel an ihre herrlichen flammendroten Haare, obwohl ich sie doch nur einmal sah. – Mit Hardy war ich viel zusammen. Gestern las ich ihm einige Artikel von mir aus dem Sozialist, auch den Landauerschen »von der Ehe« vor. Er gab mir zu, dass so leicht kein andres Blatt eine so ausgezeichnete Polemik enthalten könnte. Er will Abonnent werden. Dann schimpften wir gemeinsam auf die Niederträchtigkeit, dass ich bei meiner Begabung als Dichter und Essayist nicht die Möglichkeit habe, etwas an einer Stelle zu publizieren, wo es gelesen würde. Ich müsste mir schon gradezu einen andern Namen beilegen, aber das tue ich nicht. Ich werde die Bande schon zwingen, mich zu lesen und meinen Namen anzuerkennen, obwohl er eine Überzeugung bezeichnet. Hadwiger sagte mir einmal vor Jahren schon: »Ein anständiger Mensch hat keine Gesinnung«. – Ich hielt das damals für einen Witz. Heut weiß ich, dass er in Deutschland allgemeine Geltung hat und dass man den, der unanständig genug ist, doch eine zu haben, mit dem Hungertode bestraft. – Das Gedicht zu Ferrers Gedächtnis habe ich gemacht und werd’s heute abschicken. Ich fürchte, es ist ein wenig deklamatorisch ausgefallen. Auch für das Montagsblatt muss ich heute was machen. Ich werde mir den unsagbar lächerlichen Parteitag der nationalliberalen Schlappschwänze vornehmen. – Wie die Blätter berichten, hat sich Kamerad Imhof in Offenbach erschossen. Angeblich wegen eines Strafverfahrens, das man wegen Hehlerei gegen ihn anhängig gemacht hat. An den Grund glaube ich nicht. Ich werde wohl bald näheres erfahren.

München, Sonntag, d. 7. Mai 1911.

Der elende Tripper! Ununterbrochen macht er sich bemerkbar, stört mich in meinen Absichten, lähmt meine Aktionen, vergiftet meine Laune. Nun laboriere ich seit drei Wochen dran, und noch merke ich fast gar keine Besserung. Morgen will ich noch einmal zu Hauschild. Ich muss der Schweinerei endlich energisch zu Leibe gehn. – Gestern abend war es wieder grässlich. Emmy war im Café – ich hatte vorher im Luitpold Eduard Joël und Frau getroffen – ; sie war sichtlich geil auf mich und bat mich, ich möchte sie, ehe ich in die Torggelstube gehe, heimbegleiten. Ich tat das, ging mit hinauf zu ihr ins Atelier und regte mich an ihren Küssen furchtbar auf. Dann zog sie sich um und ich sah sie nackt, was mich so toll machte, dass ich vor Schmerz und Wollust hätte schreien mögen. Das enge Suspensorium wäre unter dem Druck des mächtig gestrafften Gliedes beinahe gerissen. Wir waren beide sehr betrübt, dass wir nicht tun konnten, worauf wir beide brannten. – Genau dieselbe Geschichte wie vor fünf Jahren in Wien, wo ich nackt neben der ebenfalls geschlechtskranken Irma Karczewska lag. Wir küssten uns wie wahnsinnig und mühten uns, wenigstens mit Mund und Fingern einander genüge zu tun, aber schließlich war der Widerstand des Schmerzes doch immer noch größer als der Antrieb der Lust. Das war damals die Tragik: dass wir uns erst kennen gelernt hatten und dann bald auseinandergingen, sodass wir nie dazu kamen, einen richtigen Koitus miteinander zu vollziehen.
Schon nachmittags war ich bei Emmy gewesen. Morax und Frl. Vital waren da, und ich zeichnete einen Bilderbogen zu der Schauerballade, die Emmy und Morax zusammen bei Kati vortragen wollen. Es sind sehr lustige Bilder geworden, die Emmy sehr primitiv und dadurch umso wirksamer antuschte. – Eduard Joël ist ein netter Kerl. Aber unsere Interessen gehn doch allmählich weit auseinander, und ich kann nicht leugnen, dass ich seine Gesellschaft umso mehr schätze, je deutlicher mir die Möglichkeit scheint, von ihm Geld für den Kain herauszuschinden. Angebohrt habe ich schon. Heute nachmittag werde ich wieder mit dem Ehepaar beisammen sein. Ob etwas herausschauen wird?
Nach dem Intermezzo in Emmys Atelier begleitete ich sie bis vor den »Simpl«. Das süße Ding trug auf dem ganzen Wege Leuchter und Kerze in der Hand, damit sie auf dem Heimweg die Treppen hinauffinde, zumal sie die Nacht Engert versprochen hatte. Sie erzählte mir das ganz arglos und mit vielem Bedauern darüber, dass ich nicht imstande bin, meine Pflicht zu tun. Sie könne unmöglich so lange allein schlafen. Dass es grade Engert sein sollte, war mir sehr fatal. Aber wer will den Weibern ihren Geschmack vorschreiben?
Dann also Torggelstube: Im Residenztheater war die Premiere der »Ratten« von Hauptmann gewesen, dazu Sonnabend, wo die Halbe-Gesellschaft erschien. So saß also eine lange Tafelrunde versammelt: Halbe und Frau, Waldau, Mi von Hagen, Steinrück, Dr. Mannheimer, das Mockerl, Lina Woiwode, Basil, Dr. Kutscher, Rößler usw., wozu dann noch Wedekind und schließlich Feuchtwanger und Dr. Uhde-Berneis kamen. Es wurde reichlich Bowle getrunken. Ich hatte das Zusehn und musste allerlei schlechte Witze deswegen ertragen. – Wir schrieben eine Glückwunschkarte zu dem Erfolg der »Ratten« an Gerhart Hauptmann. Die Terwin war wieder sehr lieb. Der Rest der Gesellschaft blieb bis nach halb vier Uhr nachts. Dann trennten wir uns. Gustel Waldau und besonders Steinrück waren stockbesoffen. – Übrigens waren auch Edgar und seine Frau Fritzi Schaffer dabei. Ich nahm, um mich nicht anzustrengen, ein Auto zur Heimfahrt. – Sehr bemerkenswert schien mir ein Gespräch zwischen Wedekind und Halbe. Wir sprachen über die Schauspielhaus-Aufführung von »Mutter Erde«. Wedekind meinte, das sei ein Stück, das durchaus in das ständige Repertoire der deutschen Theater gehöre. Es gebe noch manche solche Dramen, die ganz zu Unrecht abgesetzt seien. Er dachte dabei offenbar auch an eigne, nannte aber als Beispiel Hauptmanns »Fuhrmann Henschel«. Wedekind schlug Halbe nun eine gemeinsame Protest-Aktion vor. Die beiden Herren sezessionierten sich dann und berieten darüber. Aus dem, was sie nachher einander sagten, ging mir hervor, dass beide gewillt sind, der Sache Realität zu geben. Natürlich Halbe nur zögernd, skeptisch und vielleicht nicht ganz gern, Wedekind stürmisch, unpolitisch, draufgängerisch. So werden sie sich vielleicht auf eine ganz gescheite Aktion einigen, und eines Tages wird das deutsche Publikum vor einer sehr verblüffenden Sensation stehn. Ich hatte Neigung, die Spalten des Kain sogleich zur Verfügung zu stellen, fürchtete dann aber, aufdringlich zu scheinen, und schwieg.
Von Papa kam eine Ansichtskarte mit dem Holstentor drauf, in der er mir für die Gratulation zu seinem Examenstag und für die Zusendung der »Drucksache« dankt und über seinen (recht günstigen) Gesundheitszustand berichtet. Meine Andeutungen, dass ich zur Fortführung des Kain Geld brauche, hat er nicht verstanden. Außer andren Briefen einer von einem anonymen »Freund«, der die erste Nummer »passabel« fand, über die zweite schimpft und mich warnt, das Publikum zu ignorieren. Ob der Mann recht hat? Lion Feuchtwanger erklärte mir gestern genau das Gegenteil: die zweite Nummer habe ihm in jeder Hinsicht besser gefallen als die erste. Er lehnte das Programmgedicht »Kain« entschieden ab.
Heute vormittag kam Rößler. Wir gingen dann ins Stefanie, ich seit einem Jahr zum ersten Mal. Wirt und Geschäftsführer begrüßten mich mit Händedruck, Kellner und Gäste mit staunendem Grinsen.

München, Montag, d. 8. Mai 1911.

Die »Ratten« von Hauptmann sind ein wunderschönes Stück. Ich sah es gestern bei der zweiten Aufführung im Residenztheater. Frau von Hagen hatte für mich eingereicht, nachdem Steinrück es bei der Premiere verbummelt hatte. Vielleicht die beste Tragikomödie, die in deutscher Sprache geschrieben ist. Der Vorwurf selbst ist ungeheuer stark. Eine Frau, die sich nach einem Kind namenlos sehnt – ihr erstes ist gestorben –, nimmt eines von einem polnischen Dienstmädchen in Pflege, täuscht es ihrem Mann, dem Maurerpolier John, der in Altona arbeitet, als eignes vor, und der meldet es beim Standesamt an. Pauline, die Polin, verlangt ihr Kind zurück. Konflikte. Das kranke Kind der Frau Knobbe wird von deren größerer Tochter Selma in der Johnschen Wohnung gehütet. In ihrer Angst gibt Frau John deren Kind an Pauline. Das kleine Knobbe-Kind stirbt, während sich die Mutter und Pauline drum streiten. Nun muss der Bruder der John, der verkommene Lude Bruno, helfen. Er tut es gründlich, indem er Pauline umbringt. Zum Schluss kommt alles an den Tag. Mitten hinein spielt die Komödie der Familie eines Theaterdirektors. Das Durcheinander von Groteske und Tragödie ist wundervoll gestaltet. Jede Figur prächtig gelungen, dabei – bei einer Szene, wo der Direktor mit seinen Schülern die Braut von Messina studiert – eine wunderfeine, im Stück völlig begründete theoretische Kontroverse zwischen Klassizismus und Naturalismus. Das Berliner Milieu, Sprache, Charakter der Menschen – einer der schönsten Hauptmanns. Und es war eine erfreuliche Aufführung unter Basils Regie. Außer dem Theaterdirektor Höfers, der seiner Rolle viel schuldig blieb, und seinen Schülern – außer dem Spitta v. Jacobis –, die aber wenig zu bedeuten haben im Stück, war jede Figur – trotz mancher Schwäche – famos. Frl. Schwarz gab die John. Freilich: Der Gedanke, dass die Rolle am Lessingtheater von Else Lehmann gespielt wird, kann einen wehmütig stimmen. Hier und da roch man die Regiebemerkung. Im Großen und Ganzen aber doch eine starke gute Leistung. Auch Basil als Maurerpolier John hatte vortreffliche Momente und überzeugte. Sehr stark war die Pauline der Terwin, die in Dialekt, Haltung, Gebärde und Wärme ganz auf der Höhe ihrer Aufgabe stand. Der Erich Spitta von B. v. Jacobi war sehr fein, viel schwächer seine Geliebte, die Walpurga von Frl. Neuhöfer. Schröders alter Pastor Spitta recht gut, ebenso die Frau des Theaterdirektors, die die Ramler spielte. Ganz ausgezeichnet gefiel mir wieder das kleine Fräulein Pricken, die aus der Selma eine richtige Zillesche Nutte machte. Ihr Äußeres war erstaunlich gut und auch im Spiel traf sie völlig die Berliner Jöhre. – Aber hoch über allen andern stand die Leistung Steinrücks als Bruno. Er hatte nur kurz auf der Bühne zu tun, aber während er da stand, ein Bild der Verkommenheit – mit dem gelinden Stich ins Sentimentale, das der Berliner Verbrecher zu kaschieren sucht, schlug einem die Angst an den Hals. Es war eine schauspielerische Leistung von unheimlicher Wucht und Geschlossenheit. – In Berlin hat das Stück einen Misserfolg gehabt. Hier ging das schlechteste Publikum mit, das am Residenztheater auszudenken ist, das Publikum der zweiten Aufführung, die noch dazu auf einen Sonntag fiel. Es muss schon an der Aufführung gelegen haben. Ich freue mich auch Fritz Basils wegen. Seine Regieführung ist ganz vorzüglich zu nennen.
Vorher war ich mit Joëls im Luitpold gewesen, hatte sie dann zu einem Spaziergang begleitet und zu mir ins Zimmer geführt. Es kann nicht schaden, wenn den Lübeckern berichtet wird, dass ich einigermaßen wohne. Schließlich bearbeitete ich ihn, mit Julius zu sprechen, ob nicht Papa evtl. doch etwas Geld für den Kain herausrücken möchte. Dann hätten sich die Stunden Bärenführerschaft ausgezahlt. Übrigens freute ich mich selbst des Wiedersehens.
Nach dem Theater »Simplizissimus«. Emmy hat ein Verhältnis mit dem kleinen Keller angefangen. Ich Esel habe die tolerantesten Prinzipien, dazu noch einen Tripper und war doch eifersüchtig. Natürlich ließ ich mir nicht das mindeste merken. Aber es ist doch eigentümlich, wie lieb ich das kleine Hurenweib habe. Sie trug mit Morax zusammen die schöne Ballade vom Räuber vor, der seinen Bruder abmurksen will und an seiner »blassen Brust« das Bild der Mutter findet. Der große Bilderbogen, den ich dazu gezeichnet habe, wirkte sehr lustig zu dem Leierkastenlied. Eine peinliche Überraschung wurde uns dadurch zuteil, dass die Ichenhäuser plötzlich mit Else Lasker-Schüler das Lokal betrat. Die eifersüchtige Megäre, die komplett wahnsinnig ist, hat Emmy in Berlin mit Schimpfreden und Drohungen nachgestellt. Nun war das arme Kind ganz verängstigt. Ich hoffe, sie fährt bald wieder ab. Es wäre recht widerwärtig, wenn Emmy wieder keine Ruhe vor ihr hätte. Ich bin aber entschlossen, trotz aller Freundlichkeiten der törichten Frau gegen mich und trotz meiner Verehrung für manche ihrer Gedichte, Emmy sehr energisch gegen sie zu verteidigen. – Heut nachmittag war Emmy bei mir. Sie erzählte, dass Keller bei ihr geschlafen habe. Wir gingen in den Englischen Garten, wo wir uns viel küssten, dann aß sie bei mir Mittag. – Danach ging ich zu Hauschild, der sich meinen armen Schwanz besah. Er verulkte mich, dass ich in meinen Jahren noch solche »Kinderkrankheiten« bekäme. Aber er fand, dass sich der Zustand wesentlich gebessert hat, empfahl mir, die bisherige Behandlung energisch fortzusetzen, und riet wieder sehr von Spritzen ab. Er stellte mir in Aussicht, dass ich in 14 Tagen gesund sein könne. Noch 14 Tage! Aber wenn nur dann die Geschichte vorüber ist!

München, Mittwoch, d. 10. Mai 1911.

Die Angelegenheit Else Lasker-Schüler – Emmy spitzt sich dramatisch zu. Ich erhielt einen langen Brief von Elschen, in dem sie Emmy als »geiles kleines Nähmädchen« beschimpft, in deren Mund ihr »erlauchter« Name (an einer andern Stelle »die Majestät meines Namens« – immer dick unterstrichen) nichts zu tun habe, und worin sie schließlich erklärt, sie lasse sich das Betreten öffentlicher Lokale nicht verbieten. Ich hielt es für ratsam, diplomatisch zu sein, und schrieb einen langen vorsichtigen Antwortbrief, von dem ich auch noch eine Abschrift nahm, sodass mir wieder die Zeit, wo ich hätte arbeiten mögen, zum Teufel ging. Ich bat die Lasker, mir persönlich den Gefallen zu tun, den Simpl. zu meiden. Abends im Café kriegte ich dann einen weiteren albernen Brief, in dem u. a. stand, sie (Tino von Bagdad) habe in Berlin nur Emmy aus dem Café entfernt wissen wollen, um den einzigen Ort, wo man sich aufhalten könne, nicht verflachen und verhuren zu lassen. Im übrigen: »Bei Philippi sehn wir uns wieder.« – Ich ging also mit in den »Simpl«, um bei eventuellem Krach Emmys Partei nehmen zu können. Aber Elschen kam nicht. Jedenfalls vermute ich, dass ihre Hysterie sie nicht ruhen lassen wird, bis nicht der Krach da war. Und wenn sie ihn nicht provoziert – Emmy ist auch nicht die Zahmste.
Nachmittags kam Rößler ins Café und dann zu mir zum Abendbrot. Auch Emmy erschien. Die beiden geilten sich aneinander auf, und nach dem Essen legte sich Rößler auf den Diwan und es begann ein Piacere, zu dem ich sittsam das Gaslicht ausdrehte. Da ich merkte, dass Emmy sich ganz auszog, und so schon wie auf Kohlen stand, da die Gruppe Tat auf mich wartete, ließ ich die beiden bald allein. – Es ist seltsam, dass ich auf den alten Rößler nicht eine Spur eifersüchtig bin. Die ganze Geschichte gestern machte mir einen diebischen Spaß. Ich musste über Emmys unbefangene Selbstverständlichkeit sehr lachen. Sie ist schon ein erotisches Genie. Sie will immer und jeder Mann und jede Situation ist ihr recht.
Mittags im Hofgarten hatte ich Uli und Lotte getroffen. Ich konstatierte mit vielem Schmerz, dass doch eine rechte Entfremdung zwischen uns eingetreten ist. Besonders Lotte sagte mir Bosheiten, die kaum mehr freundschaftlich zu deuten sind. Es wäre sehr schade, wenn das Puma in der Dauerehe mit Strich völlig verbürgerte. Ulis Naturell lässt die Entwicklung zum Glück nicht befürchten. Heut schreiben wir den 10. Mai. Mit Arbeiten und Korrespondenz bin ich ganz zurück. Mir graut, wenn ich mich meiner Pflichten erinnere.

München, Freitag, d. 19. Mai 1911.

Mit dem Tripper geht es jetzt merklich besser. Nur noch ganz geringer Ausfluss und fast keine Schmerzen mehr beim Schiffen. Natürlich werde ich noch sehr vorsichtig sein, bis ich völlig geheilt und dessen sicher bin: weder saufen noch vögeln. Aber in einer, längstens in zwei Wochen hoffe ich gründlich nachholen zu können. Wenn nur Emmy verfügbar bleibt! Bei ihrem umfänglichen Liebesleben scheint sie sich auch etwas zugezogen (zu) haben. Mehrere ihrer letzten Männer haben Beschwerden bemerkt, und nun habe ich veranlasst, dass sie heute zum Arzt geht, damit sie, falls nötig, sogleich etwas für ihre Gesundheit tun kann. Aber für mich wäre es scheußlich, wenn ich gleich wieder nicht wüsste, wo ich mit meiner überschüssigen Kraft bleiben soll.
Mit dem Kain bin ich noch immer völlig im Rückstand. Ich muss endlich mal mit Steinebach sprechen, um zu erfahren, ob die nächste Nummer überhaupt sicher herauskommen kann. An Julius Muhr in Wien habe ich geschrieben und ihn um eine Unterstützung für das Blatt gebeten. Aber es scheint sehr fraglich, ob er schicken wird. Vielleicht gibt Steinebach selbst Kredit, sodass es weiter gehn kann. Jedenfalls bin ich sehr in Sorge. – Dass Papa sich nicht rührt, ärgert mich schwer. Ich habe es ihm wirklich nahe genug gelegt, mir zu helfen, und er brauchte sich, wenn er mir schon 3 000 Mk vorstreckte, deshalb auch nicht einen Schnaps entgehn zu lassen. Ich begreife den alten Mann nicht. Er muss sich doch sagen, dass der Wunsch, er möchte sterben, nachgrade Leidenschaft in mir werden muss. Ich habe keinen Anzug am Leibe, mit dem ich mich in einträglicherer Gesellschaft sehn lassen kann. Ich trage zerrissene Stiefel, weil mich die 4 Mk 50 reuen, die das Besohlen kostet. Ich habe viel zu wenig Wäsche, und überall hapert’s und fehlt’s. Sobald der Vater stirbt, bin ich ein begüterter Mann. Warum macht er mir das so fühlbar? Sehr merkwürdig!

München, Sonnabend, d. 27. Mai 1911.

Von vorgestern ist einiges zu notieren, vor allem eine arge Sünde. Emmy verführte mich zum Koitus. Ich warnte sie, ich sträubte mich, ich kämpfte gegen mich, aber ich war schwach. Nun werde ich sie wohl angesteckt haben, und Kätchens Tripper wird die Runde durch München machen. Gestern ging, wie mir schien, Emmy mit Bolz nach Hause – und auch auf Oppenheimer scheint sie es abgesehn zu haben. – An mir rächte sich die Überanstrengung sehr unangenehm. Nachmittags saß ich mit Emmy im Café und spielte grade mit Morax Schach. Da kam Engert herein, die gewaltige Mähne bis auf die Haut weggeschoren. Er sah scheußlich aus, und ich machte eine entsprechende Bemerkung. Da schlug er mir – ganz ohne feindselige Absicht – seinen Hut auf den Kopf und muss dabei eine sehr empfindliche Stelle, wohl das Ende des Rückenmarks, getroffen haben. Ich glaubte, ich müsse sterben. Das Blut schlug erst in den Kopf, dann zum Herzen, ich tastete umher, und Emmy erzählte, ich hätte furchtbar ausgesehn, mit verdrehten Augen und grünen Lippen. Wer weiß, was für ein bedenkliches Symptom das ist. Ich will doch für alle Fälle meine Bestimmungen für den Todesfall treffen. Eines Tages sterbe ich, und dann fällt womöglich der Ertrag meiner Arbeiten statt Johannes Nohl meiner Familie zu. Und das will ich wahrhaftig nicht verantworten. –
Mit dem Kain geht es langsam vorwärts. Am dritten Juni soll die dritte Nummer erscheinen. Ich denke, morgen werde ich das ganze Heft fertig haben. Aber der Dalles ist scheußlich. Ich bin ganz und gar abgebrannt. Doch fand ich eben ganz zufällig in den Abgründen einer zerrissenen Westentasche, tief im Futter vergraben, ein 50-Pfennig-Stück. Es ist doch etwas mit dem Unterbewusstsein. Ich habe nicht etwa nach der Münze gesucht, aber ich bin überzeugt, wenn ich’s nicht ganz nötig gebraucht hätte, hätte ich sie auch nicht gefunden. Jetzt wieder an die Arbeit!

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Erich Mühsam: Tagebücher, Band 1, 1910–1911. Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens. Verbrecher-Verlag, Berlin 2011. 340 Seiten, 28 Euro. Der Band erscheint nächste Woche.

Die Webseite , die seit gestern freigeschaltet ist, begleitet die Veröffentlichung der gesammelten Tagebücher Erich Mühsams (1919–1924), die 15 Bände umfassen und im Laufe der nächsten sieben Jahre erscheinen sollen. Die Webseite enthält neben dem auch in Buchform erhältlichen Text das mit dem Text verlinkte, kommentierte Register und das Abbild des Originals (digitalisierte Handschrift).