Welche Chancen bieten die revolutionären Bewegungen in Nordafrika und dem Nahen Osten für die globale Linke?

Revolution wider den Neoliberalismus

Die revolutionären Bewegungen in Nord­afrika und im Nahen Osten sind nicht nur Bewegungen für Demokratie, sondern auch für soziale Rechte. Bei aller Widersprüchlichkeit, die Revolutionen immer ­inhärent ist: Sie bieten nicht nur eine Chance für die Region, sondern auch für eine sich neu formierende globale Linke.

Die Veränderungen in der arabischen Welt drohen weder auf islamische, antiisraelische Revolutionen hinauszulaufen, wie an dieser Stelle Stephan Grigat befürchtete (Jungle World, 09/2011), noch sind sie liberale Revolutionen, wie Oliver Piecha (08/2011) erhoffte. Es hat weder Sinn, sie allein aus der von Grigat geteilten israelischen, noch aus der von Piecha geteilten westlich-liberalen Perspektive zu analysieren. Vielmehr verknüpfen die Revolutionen demokratische, sozial- und wirtschaftspolitische Forderungen und sind damit anti-neoliberal.
Denn sowohl das tunesische als auch das ägyptische Regime hatte seit den neunziger Jahren eine Reihe neoliberaler Deregulierungsprogramme durchgeführt, die die Perspektiven der Arbeiterklasse auf einen Aufstieg in die Mittelschicht zugunsten einer neuen Oberschicht zunichte gemacht hatten. Die Hoffnung auf den Aufstieg in die Mittelschicht bildet jedoch das Kernstück dessen, was viele Politikwissenschaftler als authoritarian bargain bezeichnen, also den unausgesprochenen Kuhhandel eines Regimes mit der Bevölkerung, bei dem letztere ihre politischen Freiheiten gegen Aufstiegshoffnungen eintauscht. Dass neoliberale Wirtschaftspolitik nicht mit ­politischem Liberalismus verwechselt werden darf, bewiesen die »Chicago Boys« bereits in den siebziger Jahren im Chile Pinochets. Dass die Versprechungen des authoritarian bargain von der Regierung nicht eingelöst würden, wurde erst mit der aktuellen Wirtschaftskrise deutlich.
So verbanden die Proteste in Tunesien, die den Anfang der Umstürze in der Region markierten, von Beginn an soziale mit demokratischen Forderungen. Angefangen hatten sie als Bewegung der arbeitslosen Unterschichten, bald schlossen sich verschiedenste Jugendliche und Gewerkschaften den Protesten an. Ohne das Eingreifen der Gewerkschaften, die sich in Tunesien auch unter der Herrschaft Ben Alis eine relative Autonomie erhalten konnten, wäre es dem Regime vielleicht noch einmal gelungen, die Proteste zu unterdrücken. Erst als der Gewerkschaftsdachverband UGTT erfolgreich zum Generalstreik aufgerufen hatte, sah sich Ben Ali gezwungen, ins Ausland zu fliehen. Die Gewerkschaften waren es auch, die nach seiner Flucht Gegenmacht organisieren konnten. Dass die Gewerkschafter aus der ersten Übergangsregierung austraten, dass sie Organisationsformen für Arbeiterinnen und Arbeitern schufen und den Druck auf der Straße aufrecht erhielten, waren wesentliche Faktoren dafür, dass es dem tunesischen Regime nicht gelang, einfach nur den Präsidenten auszuwechseln und die Herrschaftsstrukturen im Land unangetastet zu lassen. Seit Januar treiben die Gewerkschaften die Revolution weiter voran. Jugendliche, Menschenrechtsgruppen und Lohnabhängige ziehen dabei am selben Strang.
Von der damit verbundenen politischen Liberalisierung profitieren selbstverständlich auch die organisierten Vertreter des politischen Islam. Einige konnten aus dem Exil zurückkehren und werden nicht länger in die Folterkeller des Regimes gesperrt. Doch konnte in Tunesien bislang weder die En-Nahda noch sonst irgendeine islamistische Gruppierung auch nur einen Achtungserfolg erzielen.

Zweifellos ist in Ägypten der Einfluss der Muslimbruderschaft stärker. Dass der fast 84jährige populäre Fernsehprediger Yussuf al-Qaradawi, der aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft stammt und im Zuge der Revolution nach 40 Jahren Exil nach Ägypten zurückkehrte, jüngst auf dem Tahrir-Platz predigen konnte, ist allerdings ein Zeichen der Normalisierung und kein Signal dafür, dass die ägyptische Revolution einen islamisch-antiisraelischen Charakter anzunehmen drohe, wie Stephan Grigat behauptete. Selbstverständlich ist al-Qaradawi alles andere als ein Freund Israels. Qaradawi ist kein charismatischer Revo­lutionsführer, kein Khomeini der Muslimbruderschaft und nicht einmal einer ihrer führenden Köpfe, sondern lediglich ein populärer Prediger.
Die Muslimbruderschaft wird, sofern das Militär in Ägypten die Macht an ein demokratisches System überträgt, zweifellos eine politische Rolle spielen. Dass sie die politische Macht übernimmt, wäre jedoch nur vorstellbar, wenn alle anderen politischen Kräfte völlig versagen. Fraglich bleibt sogar, ob sie überhaupt als einheitliche politische Kraft bestehen bleibt. Die ägyptische Muslimbruderschaft ist von vielen inneren Konflikten durchzogen. Dabei geht es nicht nur um Differenzen zwischen radikaleren und gemäßigteren Strömungen, sondern auch um Klassengegensätze. Während ein großer Teil der gebildeten Führungsschicht dank der neoliberalen Wirtschaftspolitik von Mubarak von ihren florierenden mittelständischen Unternehmen profitierte, waren andere Muslimbrüder in den Armenvierteln aktiv und versuchten dort, sich eine Basis zu schaffen. Die Tendenz zur Aufsplitterung der Bewegung hielt in den vergangenen Jahren an und verstärkte sich, so dass intensiv ausgetragene Richtungskämpfe innerhalb der Organisation die Folge waren. Ein Teil des postislamistischen Flügels der Muslimbruderschaft, der sich ähnlich der türkischen AKP als konservative Partei in einer pluralistischen Demokratie etablieren will, verließ bereits 1996 die Mutterorganisation und gründete mit der Hizb al-Wasat eine mittlerweile legale Oppositionspartei.

Mit dem Fall Mubaraks zeigte sich aber vor allem, dass es nicht zuletzt die Angstpropaganda des Regimes war, die die Stärke der islamistischen Opposition jahrelang übertrieben hatte. Denn auch die Revolution in Ägypten war von Anfang an von säkularen Jugendlichen und Lohnabhängigen getragen. Die Muslimbruderschaft wurde von den Ereignissen genauso überrascht wie die Regierung. Erst auf Druck der in der Muslimbruderschaft integrierten Jugendlichen schloss sich die islamische Oppositionsbewegung der Revolte an.
Begonnen hatten die Proteste säkulare Jugendliche und Lohnabhängige, die sich nach dem von der Polizei ermordeten Blogger »Wir sind alle Khaled Said« oder nach dem 2008 von der Polizei brutal niedergeschlagenen Streik der Arbeiter von al-Mahalla al-Kubra »Jugendbewegung des 6. April« nannten. Für sie ist der Kampf um Menschenrechte und Demokratie direkt verwoben mit dem Kampf um soziale Rechte, gegen Arbeitslosigkeit und die neoliberale Wirtschaftspolitik, die bis zum Sturz Mubaraks jede echte gewerkschaftliche Organisation unterband und wilde Streiks brutal unterdrückte. Dass sich am 30. Januar auf dem Tahrir-Platz mit der Federation of Egyptian Trade Unions ein unabhängiger Gewerkschaftsverband gründen konnte, ist ein deutliches Zeichen der neu gewonnenen Stärke der Arbeiterbewegung. Auch in Ägypten spielen die neuen unabhängigen Gewerkschaften eine entscheidende Rolle in der Abwehr konterre­volutionärer Restaurationsversuche des alten Regimes. Sie organisieren Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte, Universitätsangehörige und Lehrende, um für konkrete Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Auch durch Verbote der regierenden Streitkräfte lassen sie sich nicht davon abhalten, wenn nötig in Streik zu treten.
Selbstverständlich waren auf den Demonstrationen dieser Bewegung auch antisemitische Symbole zu sehen, auf die Grigat in seinem Beitrag zu Recht hinweist. Da das Regime in der Bevölkerung über Jahrzehnte antisemitische Ressentiments schürte, wäre alles andere erstaunlich. Wer von der heterogenen Protestbewegung Ägyptens erwartet, dass sie auf ihren Demonstrationen antisemitische Äußerungen verhindert, hat leider von der dortigen Realität keine Ahnung. Und was den Einfluss des iranischen Regimes betrifft: Auch die Oppositionsbewegung im Iran wurde gerade durch die Revolutionen in der arabischen Welt neu angefacht. Wie nervös das iranische Regime ist, zeigt der Umstand, dass nun erstmals Mousavi und Karoubi verhaftet wurden und im Parlament Abgeordnete bereits die Todesstrafe für die Präsidentschaftskandidaten von 2009 forderten.

Die neue ägyptische Regierung wird zwar nicht mehr so einfach vom Westen zu kaufen sein, wie es das Regime Hosni Mubaraks war. Dafür ergibt sich nun die einmalige Chance, dass Israel mit demokratischen Staaten, und damit mit den Bevölkerungen des Nahen Ostens, Frieden schließen könnte. Dazu muss allerdings auch Israel etwas beitragen. Wenn die israelische Regierung wenigstens bereit wäre, endlich den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland zu stoppen, um einer fairen Zweistaatenlösung nicht noch mehr Hindernisse in den Weg zu stellen, wäre dies ein Signal in die richtige Richtung. Ägypten hat derzeit keinerlei Interesse an einem Krieg mit Israel. Ein demokratisches System wird aber kaum die Blockade von Gaza weiter aufrechterhalten, da es an einer Normalisierung der Beziehungen zu allen Nachbarn, auch dem Gaza-Streifen, interessiert sein dürfte. Wenn Israel auf diese Veränderungen flexibel reagiert und versucht, sich diese um einer Lösung des Nahost-Konflikts willen zunutzen zu machen, läge darin eine große Chance für die Region.
Für die Linke besteht ein Anlass zum Optimismus darin, dass sich hier soziale Bewegungen gebildet haben, die sich als Teil eines globalen Widerstands gegen die von neoliberalen Strategen durchgesetzten sogenannten Reformen verstehen. Diese neuen sozialen Bewegungen verknüpfen Arbeiterrechte mit demokratischen Rechten, sie sind antiautoritär, undogmatisch und in der Arbeiterklasse verankert. Sie sollten nicht als Gefahr, sondern als potentielle Verbündete begriffen werden, Verbündete, mit denen es sicher viel zu diskutieren und zu streiten gibt, denen wir aber ebenso kritisch wie solidarisch begegnen sollten.