Japans Super-Gau

Ahnungslos in Echtzeit

In Fukushima ist eine menschengemachte Katastrophe im Gange, die niemand mehr kontrollieren geschweige denn aufhalten kann. Darauf hinzuweisen, dass man schon immer wusste, dass die durch die Atomtechnologie entfesselten Risiken unvorstellbar und unkalkulierbar sind, ist müßig. Denn dieses Wissen hat die Katas­trophe nicht verhindern können.

Die Meldung aus dem DPA-Ticker lautet gerade: »Erste Reaktorhülle bricht. Strahlung steigt an.« Es ist Dienstagmittag, und damit ist alles hinfällig, was man bisher geschrieben hatte zur Unvergleichbarkeit des Tschernobyl-Reaktors in Hinblick auf den Weg der radioaktiven Dämpfe oder Wolken ins Freie. Die Atomkatastrophe in Japan hat in den vergangenen Tagen zum wiederholten Mal eine neue Dimension erreicht. Die Strahlung in der Umgebung steige dramatisch, meldet DPA zur Stunde. Zudem hat sich der Wind gedreht und weht nun in Richtung Süden, in Richtung Tokio also und damit in Richtung einer Metropole, in deren Einzugskreis 35 Millionen Menschen leben. Le Monde hat im Eiltempo eine sehr übersichtliche Grafik der Explosionsereignisse in den vier Reaktoren des Atomkomplexes Fukushima angefertigt. Chronologisch und mit Uhrzeiten in Minuten­genauigkeit kann man hier nachlesen, wo wann was explodierte.

Und trotzdem bekommt man nur Gestammel zustande. Man sieht von weit weg einem Ereignis zu, bei dem in Echtzeit nichts als Ahnungslosigkeit dokumentiert wird. Die Techniker, die für die Anlagen zuständig sind, verfolgen einen Prozess, den sie nicht verstehen und auf den sie nicht vorbereitet sind. Das Betreiberunternehmen Tepco, das dafür bekannt ist, bereits zu Zeiten des normalen Betriebs der Reaktoren etliche Sicherheitsstandards unterlaufen, Wartungspapiere gefälscht, Störfälle vertuscht und die Behörden und die Öffentlichkeit angelogen zu haben, behauptete lange, die Lage sei ernst, aber unter Kontrolle. Jetzt spricht selbst Tepco von einer »sehr schlimmen« Situation. Doch selbst wenn den Aussagen des Unternehmens und den Aussagen der Behörden noch irgendwie zu glauben wäre, wären sie mittlerweile weitestgehend bedeutungslos: Die Prognostik der Wissenschaft ist an ihre Grenzen gestoßen.
Die US-Marines, die bestimmt nicht zimperlich sind, wenn es um den Umgang mit Atomwaffen und Strahlen im tolerierbaren Bereich geht, verlassen Japan oder entfernen sich zumindest von der Küste. In vielen Krankenhäusern Japans ist der Strom ausgefallen, was schon unter normalen Umständen der blanke Horror wäre. Dazu wird jetzt noch gemeldet, dass die Betreiberfirma fast alle Mitarbeiter aus Fukushima abzieht, weil die Strahlung dort mittlerweile zu hoch geworden ist. In Tokio wird erhöhte Strahlung festgestellt, Panik kommt auf. Die Lufthansa zieht jetzt auch Konsequenzen und fliegt Tokio nicht mehr an. Der erste Gedanke ist: Und wie sollen jetzt die Menschen herauskommen? Zumindest ein paar, denn natürlich ist klar, dass 35 Millionen Menschen nicht fliehen können. Jedenfalls nicht alle auf einmal in eine Richtung. Aber auch solche Gedanken scheinen komplett blödsinnig. Kein von hier aus geschriebener Text kann der Wahrheit in Japan auch nur annähernd gerecht werden.

Man hat nicht einmal Lust, sich an seine alten Einsichten zu erinnern, die einen schon 1978 auf ein Flugblatt haben schreiben lassen, dass man Atomkraftwerke im Falle eines Erdbebens nie in den Griff bekommen wird. Das ist schal und geht am jetzigen Fall vorbei. Erstmals ist in Japan eingetreten, was bisher immer nur gedacht worden ist. Von der beispiellosen Katastrophe, auf die wir mit der entfesselten Macht der Atomenergie zusteuern würden, hatte Albert Einstein 1946 unter dem Eindruck von Hiroshima nur geschrieben. Er konnte sie damals, für ihn zum Glück, noch nicht kennenlernen.
Selbst die größten Atomkritiker hatten Hoffnung, der schlimmste Fall möge nicht eintreten. So hielt der Philosoph des Atomzeitaltes, Günther Anders, nicht viel vom Alles-oder-nichts-Standpunkt, den rigorose Atomkraftgegner wie Karl Jaspers einnahmen. Jaspers habe, hat Anders 1981 in seinem Buch die »Die atomare Drohung« geschrieben, mit seiner bedingungslosen, auf 500 Seiten ausgewälzten Kritik des atomaren Komplexes »einem Ertrinkenden einen Rettungsring vom Gewicht einer Universität zugeworfen«. Ein Wurf, der sich angesichts der Ereignisse derzeit von selbst verbietet und zu dem gerade auch niemand ansetzt – das ist der vielleicht einzig halbweg vernünftige Aspekt der derzeitigen Situation. Doch fragt man sich, wo die Atomlobbyisten wie der Pseudowissenschaftler Hans-Olaf Henkel, immerhin ehemaliger Präsident einer der wichtigsten Wissenschaftsgesellschaften des Landes, gerade eigentlich sind.

Aber vielleicht ist ja auch Henkel klar geworden, dass angesichts der japanischen Atomkatastrophe die Kategorien, die unsere Erkenntnis von Natur und Menschenwelt strukturieren, nicht nur versagen, sondern in die Irre führen. Günter Anders hat immer betont, dass das Furchtbare am Atomkomplex nicht die messbaren Strahlen oder die soundsovielfache Overkillkapazität aller Atombomben sind. Solche Zahlen hielt Anders angesichts der Dimensionen der Atomkraft für Beruhigungspillen für vorstellungsschwache Rationalisten. Die unvorstellbare Zerstörungskraft der Atomenergie erkannte Anders in dem, was er das »prometheische Gefälle« nannte. Damit bezeichnete er die Diskrepanz zwischen der menschlichen Herstellungsfähigkeit und seinen anderen Fähigkeiten, wie denen des Denkens, Wahrnehmens, Vorstellens, des Fühlens und Handelns. Eine Diskrepanz, die freilich schon vor der Kernspaltung aufgefallen war, etwa bei der Entwicklung von Schnellfeuerwaffen oder Lokomotiven, die schneller fuhren, als ihre Bediener denken konnten.
Mit der Kernspaltung und der ersten Atombombe hat diese Diskrepanz aber Dimensionen erfasst, die sich der Vorstellungskraft selbst einer mit dem Unendlichen rechnenden Wissenschaft entzogen. Die nukleartechnischen Geräte waren keine greifbaren Phänomene mehr, ihre Wirkungen nicht mehr in den Möglichkeiten selbst des philosophischen Denkens fassbar.
Die Atomtechnik hat alle Grenzen des Rationalen gesprengt, sie war zu einem Ideenmonster geworden, das den absoluten Zugriff auf das Sein nicht nur beanspruchte, sondern jederzeit für sich verwirklichen konnt, wie Anders es in philosophischen Begriffen formulierte.
Gerade ist es 15.45 Uhr, da meldet der Ticker, dass die Strahlenbelastung in Tokio dramatisch ansteigt. Ein Rezept, was dagegen getan werden kann, hat niemand und wird auch nie jemand haben. Man kann nur hoffen, dass der Wind dreht oder die atomaren Reaktionen zum Stillstand kommen. Aber genau das werden sie nicht tun. Günther Anders war 1981 so ehrlich, die »Resultatlosigkeit« seiner Darstellung einzugestehen. Dass er sie dennoch veröffentlichte, begründete er damit, dass es immer noch besser sei, ein wenig mehr als nichts zu tun und wenigstens die Aporien der atomaren Situation zu benennen. Eine solche Aporie der Atomtechnologie, das Nicht-Wissen auch der Experten, wie ein sich nun über Tage in qualvoller Länge hinziehender, von Menschen induzierter Prozess aufhalten lässt, zeigt sich in Japan gerade auf einem bisher kaum erreichten Niveau.

Von hier aus ist allein mit Verwunderung festzustellen, dass die Frage nach den Risiken der Atomenergie in vielen Teilen der Umwelt- und Naturschutzbewegung in den vergangenen Jahren kaum eine Rolle spielte. Für die japanischen Umweltaktivisten, die zu den aktivsten und teilweise radikalsten der Welt zählen, zeigt sich tragisch, welche unfassbaren Konsequenzen ihre politische Ohnmacht nach sich zieht. Dass Japan trotz Hiroshima und Nagasaki nie eine nennenswerte Anti-Atombewegung hervorgebracht hat, ist einer der Gründe für den landesweiten Betrieb von Atomkraftwerken.
Rätselhaft bleibt die japanische Anti-Atom-Abstinenz aber nicht nur wegen der Atombombenabwürfe am Ende des Zweiten Weltkriegs. Japan, das das einzige nichtwestliche Land war, in dem die Studentenproteste Ende der sechziger Jahre schon Anfang der siebziger auch in Umweltbewegungen mündeten, gehört zu den erdbebengefährdetsten Gebieten der Welt, und die Erdbebengefahr war schon früh ein wichtiges Argument der Anti-Atombewegungen – insbesondere der japanischen. Aber natürlich ist auch dieser historisierende Blick angesichts der realen Hilflosigkeit gegenüber der Situation lächerlich – wie vielleicht überhaupt jeder Versuch, dem Atomkomplex rational beschreibend zu begegnen.