Christliche Fundamentalisten demonstrierten in Münster

Drei Vaterunser für die Polizei

Am Wochenende marschierten erneut Abtreibungsgegner durch Münster. Die christlichen Fundamentalisten treibt auch die Sorge um die Zukunft Deutschlands um.

Wolfgang Hering ist dankbar: »Vergelt’s Gott!« Der Vorsitzende des Vereins Euro Pro Life richtet sich mit seinen Worten an die Bereitschaftspolizei, die mit einem großen Aufgebot den »1 000-­ Kreuze-Marsch« begleitet hat. Zum Abschluss der Kundgebung bittet er die Teilnehmenden um »drei Vaterunser für die Polizei«. Und er fügt hinzu: »Glauben Sie mir, einige der hier anwesenden Demonstranten hätten es gern gesehen, wenn ein Polizeiauto in Flammen aufgegangen wäre.« Die anwesenden Demonstranten und Demonstrantinnen warfen mit Konfetti und riefen: »Eure Kinder werden alle queer.« Sie beglei­teten die Veranstaltung mit Trillerpfeifen und Plakaten. Frauen haben mit Frauen, Männer mit Männern geknutscht, einige Kondome flogen durch die Luft – ein anderes Bild als in Herings Gewaltphantasie.

Solche Szenen spielen sich mittlerweile jährlich in Münster ab. Am Wochenende hatte Euro Pro Life zum sechsten Mal zu dem »Gebetszug« mit dem Slogan »1 000 Kreuze für das Leben« auf­gerufen. Etwa 150 Teilnehmer trugen weiße Kreuze »als Zeichen der Trauer um die ca. 1 000 vorgeburtlich getöteten Kinder, die an einem gewöhnlichen Werktag in Deutschland abgetrieben werden«. Eine Zahl, die frei erfunden ist – das Statistische Bundesamt verzeichnet etwa 300 Schwangerschaftsabbrüche am Tag, die Zahl sinkt jedoch. Für die selbsternannten »Lebensschützer« ist aber die Beendigung einer Schwangerschaft innerhalb der ersten zwölf Wochen gleichzusetzen mit der Tötung eines Kindes. Frauen, die sich für eine Abtreibung entscheiden, werden als »Mütter in Not« bezeichnet.
Anne Neugebauer vom Autonomen Frauen-Lesben-Plenum Münster sagt dazu: »Euro Pro Life pflegt ein ganz klar fundamentalistisches, christliches Rollenbild. Frauen sind als Ehefrauen und zum Gebären da.« Aber es geht nicht allein um die Rollenzuschreibung. »Deutschland wird nur eine Zukunft haben, wenn wir eine Kultur des Lebens aufbauen, statt Leben massenhaft zu zerstören«, heißt es in dem Aufruf von Euro Pro Life zu der Veranstaltung in Münster. Als Ziel des »Lebensschutzes« wird auf der Internetseite des Vereins die Erhöhung der Geburtenrate in Europa angeführt. Mit dieser Zielsetzung verschafft sich Euro Pro Life auch Sympathien in der rechts­extremen Szene.
In der Öffentlichkeit gelten die »Lebensschützer« als fundamentalistisch, das Bistum Münster stellt Euro Pro Life mittlerweile kein Kirchenhaus mehr zur Verfügung. Zum »Gebetszug« fanden sich 150 Menschen ein, nicht alle kamen aus Münster, der Veranstalter Hering reiste eigens aus München an. Selbst im katholischen Münster fehlt also die breite Unterstützung. An der Gegendemonstration nahmen etwa genauso viele Leute teil, die meisten kamen aus der linken Szene. Anders als etwa bei Demonstrationen gegen Nazi-Aufmärsche gab es keinen vehementen bürgerlichen Protest gegen den Marsch der Fundamentalisten.

Vor zwei Jahren nahm die Staatsanwaltschaft in Münster die Gegendemonstration zum Anlass, um gegen 120 Personen ein Strafverfahren einzuleiten. Neu an diesem Vorgehen war vor allem der Rückgriff auf Paragraf 21 des Versammlungsgesetzes. Demnach ist die »grobe Störung« einer nicht verbotenen Versammlung, verbunden mit der Absicht, sie »zu verhindern oder zu sprengen«, strafbar. Bisher wurde der Straftatbestand der Versammlungssprengung aber nur äußerst selten festgestellt – entsprechend gibt es kaum Urteile, in denen der vage Begriff der »groben Störung« genauer bestimmt wurde. Das friedliche Blockieren beispielsweise von Nazi-Aufmärschen zieht für gewöhnlich nur Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten nach sich. »Das Ganze ist völlig unverhältnismäßig«, sagt Rechtsanwalt Sebastian Nickel, einer der beteiligten Anwälte, »für den Aufzug bestand jederzeit die Möglichkeit, einen anderen Weg zu nehmen.«
Zudem ist die Beweislage dünn. Die Verfahren kommen schleppend voran, regelmäßig wurden die Hauptverhandlungen vertagt, weil die Beweismittel nicht vorlagen. Manchmal waren die als Zeugen geladenen Polizeibeamten nicht anwesend, manchmal die polizeilichen Videos nicht vorhanden. »Manche Verfahren sind noch nicht einmal in der ersten Instanz verhandelt worden, manche hängen beim Berufungsgericht«, berichtet Nickel. Erst im Februar bewegte sich etwas. Das Oberlandesgericht Hamm hob in einer Revision ein Urteil auf. »Das war eine schallende Ohrfeige, was die rechtliche Würdigung angeht«, sagt der Anwalt. Das Revisionsgericht habe sich der Auffassung angeschlossen, dass bei einer Umgehungsmöglichkeit keine Versammlungssprengung vorliege. Nun muss das Amtsgericht neu verhandeln.

Im vergangenen Jahr begleitete die Gegendemonstration den »1 000-Kreuze-Marsch« auf der gesamten Strecke, ohne dass es zu größeren Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Auf der Demonstration am Samstag griff die Polizei jedoch wieder härter durch. Ein Teil der Protestierenden wurde zwischenzeitlich in Gewahrsam genommen, von 105 Personen wurden die Personalien festgestellt. Der Aufzug der »Lebensschützer« begann mit einiger Verspätung und wurde durch Nebenstraßen umgeleitet. Nach Polizeiangaben haben die Demonstranten Strafverfahren wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz zu erwarten. Wird nun erneut wegen »Versammlungssprengung« ermittelt? Nickel gibt sich optimistisch: »Ich glaube nicht, dass die Behörden sich so etwas noch einmal antun, obwohl die Verfahren von 2009 noch gar nicht aufgearbeitet sind. Und mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts dürfte nun auch Vernunft einkehren.«
Es sei denn, es gibt für Euro Pro Life Beistand von ganz oben. So sagte Wolfgang Hering auf der Abschlusskundgebung, derzeit würden auch in München diverse Verfahren im Zusammenhang mit Protesten geführt. Er ermahnte die Teilnehmenden: »Beten Sie auch für diese Verfahren! Die Polizei versucht das kundig aufzuarbeiten.«