Die Wirtschaftspolitik der EU in Nordafrika

Freiheit ist gut, Zollfreiheit ist besser

Die EU will den nordafrikanischen Staaten eine neue »Partnerschaft« anbieten, langfristig soll eine gemeinsame Freihandelszone geschaffen werden.

Selten haben sich die Europäer so gründlich blamiert wie seit dem Beginn der politischen Umwälzungen in den nordafrikanischen Staaten. Wochenlang schauten die EU-Regierungen ratlos zu, wie ein autokratisches Regime nach dem anderen ins Wanken geriet. Obwohl die Europäer offiziell seit Jahren auf demokratische Reformen drängten, hatten sie sich mit dem Status quo in der Region bestens arrangiert. Seit in den Ländern der arabischen Welt fundamentale Veränderungen stattfinden, laufen die Europäer den Ereignissen hinterher.
So präsentierten sie Ende vergangener Woche auf einem Sondergipfel in Brüssel die »Partnerschaft für Demokratie und gemeinsamen Wohlstand«, ein Programm, das die Beziehungen zwischen der EU und den Mittelmeerländern neu definieren soll. Weil »die Menschen nicht nur nach Freiheit gerufen haben«, wie Werner Hoyer, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, erfahren hat, »sondern auch nach Brot«, will die EU insbesondere die wirtschaftliche Zusammenarbeit schnell verbessern. Vor allen im Dienstleistungs-, Agrar- und Fischereisektor möchte die EU-Kommission ihre Verhandlungen beschleunigen, um langfristig eine gemeinsame Freihandelszone zu schaffen – nach Meinung von Bundeskanzlerin Angela Merkel das »beste Stimulusprogramm für die Region«.
Demnach sollen noch in diesem Jahr Produkte aus der Region bevorzugt nach Europa eingeführt werden. Ähnliche Abkommen hat die EU bereits mit ehemaligen Kolonien ihrer Mitgliedsstaaten in Afrika, der Karibik und dem Pazifikraum geschlossen. Zudem will sie Investitionen in Nordafrika vereinfachen, weitere Projekte sind beim Solarstrom und der Flugsicherheit geplant.
Allerdings sprechen die Europäer schon seit Beginn des sogenannten Barcelona-Prozesses im Jahr 1995 über diese Themen. Viel geändert hat sich seitdem nicht. Zerknirscht räumten die EU-Regierungschefs bei dem Sondergipfel Fehler ein und versprachen, anstelle der einseitigen Unterstützung der herrschenden Regierungen künftig stärker die zivilgesellschaftlichen Institutionen in die Verhandlungen einzubeziehen. Eine von der EU finanzierte Plattform soll für den Austausch zwischen Parteien, Gewerkschaften, Unternehmern und Nichtregierungsorganisationen sorgen.

Verfahren werden soll dabei nach dem Prinzip »mehr für mehr«. Je größer die Reformbereitschaft eines Landes ist, desto mehr Hilfe soll es erhalten. Immerhin stehen in den kommenden zwei Jahren im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik vier Milliarden Euro zur Verfügung. Deren Vergabe soll »noch stärker als bisher« an Kriterien wie Demokratie, Achtung von Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit gekoppelt werden.
Viel weniger ist allerdings auch kaum vorstellbar. Die angeblich so heiligen Kriterien wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte hatten die EU-Vertreter bei den Verhandlungen in den vergangenen 15 Jahren zwar stets erwähnt. Die Erfolge des europäischen Bemühens um Reformen fallen dem »Arabischen Bericht über die menschliche Entwicklung« (AHDR) zufolge, der regelmäßig von der Uno verfasst wird, aber mehr als bescheiden aus. In dem Bericht vergleichen die Autoren die politischen Strukturen der arabischen Staaten mit »schwarzen Löchern«, in deren »Umfeld sich nichts bewegt und denen niemand entgehen kann«. Gemeinsam war den Staaten in den vergangenen Jahren lediglich ein »grundlegender Mangel an Rechtsstaatlichkeit, politischen Freiheiten, verantwortlichem Regierungshandeln, Schutz der Menschenrechte, Schutz religiöser und ethnischer Minderheiten und umfassender gesellschaftlicher Teilhabe«.
Die reaktionären politischen Strukturen korrespondieren mit der wirtschaftlichen Entwicklung in diesen Ländern. So lag nach Angaben des Internationalen Währungsfonds das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von Syrien im vergangenen Jahr bei 1 160 Dollar, was Platz 112 auf der Weltrangliste entspricht. In Tunesien, einem der verhältnismäßig wohlhabenden nordafrikanischen Staaten, beträgt es gerade mal 2 750 Dollar. In Ägypten, dem bevölkerungsreichsten Land der Region, müssen über 40 Prozent der Bevölkerung mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen. Im Vergleich dazu erscheinen selbst die Lebensbedingungen in den neuen osteuropäischen EU-Beitrittsländern als nahezu paradiesisch. In Rumänien betrug das durchschnittliche Einkommen 2010 rund 7 500 Dollar, in Tschechien lag es bei 18 500 Dollar.

Die kümmerliche wirtschaftliche Bilanz spiegelt sich auch im Handel wider. Während Tunesien fast 80 Prozent seiner Exporte mit Europa abwickelt, liegt der Anteil aller nordafrikanischer Länder an den europäischen Einfuhren bei rund einem Prozent. Ohne die Gas- und Öllieferungen aus Libyen wäre es sogar noch weniger.
Wirtschaftlich interessant ist die Region, von Rohstoffexporten abgesehen, für Europa bislang vor allem als touristisches Naherholungsgebiet. Wesentlich wichtiger war in der Vergangenheit hingegen die politische Unterstützung bei der Flüchtlingsabwehr und beim Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Hier hat die Zusammenarbeit wiederum gut funktioniert. Kein Wunder also, dass der Barcelona-Prozess, aus dem 2008 die »Union für das Mittelmeer« hervorging, bei der EU nicht gerade für Furore sorgte.
Dennoch könnte die Region künftig für Europa gerade wegen des niedrigen Lebensstandards von Interesse sein, zumal mittlerweile in den osteuropäischen Staaten die Löhne deutlich steigen. Eine Freihandelszone nach dem Vorbild der Nafta zwischen den USA und Mexiko würde den Europäern ein enormes Reservoir an billigen Arbeitskräften und einen potentiellen Absatzmarkt mit mehr als 180 Millionen Einwohnern direkt vor ihrer Haustür erschließen. Überdies besteht in ­allen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wie Infrastruktur, Verkehr, Bildung und Gesundheit ein gewaltiger Modernisierungsbedarf. Erste Anzeichen gibt es dafür bereits, seit 2003 haben die Direktinvestitionen internationaler Unternehmen kontinuierlich zugenommen.

Eine solche Freihandelszone ist allerdings mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen verbunden – auf der südlichen ­Seite des Mittelmeers, versteht sich. Bislang besteht dort ein nennenswerter industrieller Sektor nur in Ägypten. Ähnlich wie in den ehemaligen realsozialistischen Ländern würden die zumeist wenig produktiven Staatsunternehmen eine direkte Konkurrenz auf dem Weltmarkt kaum überstehen. Die anderen Länder in der Region sind stark landwirtschaftlich geprägt und verfügen über einen großen informellen Sektor mit einem hohen Anteil an Kleingewerbe. Für die zahlreichen Kleinunternehmen würden die bisherigen Nischen verschwinden.
Wie die künftige Entwicklung aussehen dürfte, zeigt sich bereits auf dem Agrarmarkt, wo die einheimischen Bauern keine Chance haben, mit den hochsubventionierten EU-Agrarproduzenten zu konkurrieren. Die meisten afrikanischen Länder sind derzeit von Lebensmitteleinfuhren abhängig, die arabischen Staaten mit Ägypten an der Spitze sind sogar zu den größten Getreide­importeuren der Welt geworden. In Tunesien, Algerien und Ägypten müssen durchschnittliche Haushalte 40 bis 50 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.
So lässt sich schon jetzt erahnen, dass es »mehr für mehr« nur im Doppelpack geben wird. Der Ruf nach mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist für die Europäer kaum vorstellbar ohne die Forderung, dass die nordafrikanischen Staaten ihre Zölle auf industrielle und agrarische Produkte aufheben müssen. Tröstlich für diese Länder ist immerhin, dass es schlimmer als in der Vergangenheit kaum werden kann.