Die Autobiographie von Emma Goldman, »Gelebtes Leben«

»Mein Leben war mit dem der Juden verknüpft«

Emma Goldman ist eine Symbolfigur des Anarchismus. Ihre Autobiografie »Gelebtes Leben« wurde gerade wieder neu aufgelegt.

Die US-amerikanische Anarchistin Emma Goldman wie auch ihr Lebensgefährte Alexander Berkman sind bekannt für ihre frühe Kritik am Bolschewismus und ihre Reflexionen militanter Politik und direkter Aktionen. Als Goldmans Autobiografie »Living My Life«, die sie 1931 veröffentlichte, 1978 erstmals auf Deutsch erschien, wurde sie auch als Beitrag zu einer neuen Frauenbewegung verstanden. Für Goldman (1869–1940) bedeutete Anarchismus nicht allein die Aufhebung staatlicher Gewalt, sondern die Befreiung des Individuums von allen gesellschaftlichen Zwängen. So setzte sie sich stets für die Rechte der Frau ein. Als ausgebildete Hebamme und Krankenschwester kannte sie die Lebenssituation von Frauen in den unteren Schichten sehr genau. Die schonungslose Ehrlichkeit, mit der sie die Probleme der freien Liebe schildert, macht ihre Lebenserinnerungen auch nach 80 Jahren noch erstaunlich aktuell. Dass Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen, war auch unter Anarchisten nicht unumstritten. Zwar sprachen sie von der »Gleichberechtigung der Geschlechter«, doch »die einzigen Männer, die nicht nur predigten, sondern auch danach handelten, waren die russischen und jüdischen Radikalen«, schreibt Goldman.
In der Neuauflage von »Gelebtes Leben« lässt sich noch ein weiterer Aspekt entdecken, der bislang kaum eine Rolle spielte: Goldman war eine selbstbewusste Jüdin, und sie registrierte aufmerksam judenfeindliche Ressentiments in ihrer Umgebung – auch innerhalb der politischen Linken. Goldman schreibt über ihr Selbstverständnis: »Mein Leben war mit dem der Juden verknüpft. Ihr geistiges Erbe war das meine, und ihre Werte waren in meine Existenz eingegangen.« Die Autobiografie endet mit Reflexionen über Goldmans und Alexander Berkmans Reisen durch Russland wenige Jahre nach der Revolution. Goldman kritisiert nicht nur, dass die ersten Bolschewiki, statt staatliche Gewalt abzuschaffen, einen neuen Staat geschaffen hatten, der Anarchistinnen und Anarchisten verfolgte und exekutieren ließ. Sie schildert auch – wie Alexander Berkman in »Der bolschewistische Mythos. Tagebuch aus der russischen Revolution 1920–1922« – die Sorge vor einem neuen Antisemitismus in Sowjetrussland.
Aus dem russischen Zarenreich floh Goldman als 17jährige vor allem vor ihrer Familie; die Judenfeindschaft in Osteuropa hatte sie bereits als Kind erfahren. Kurze Zeit später kam auch ihre Familie in die USA. Goldman datiert ihre »wahre Geburt« auf das Jahr 1889, mit ihrer Ankunft in New York. Entscheidend wurde für ihre politische Biografie der Haymarket-Aufstand in Chicago: Während einer Demonstration 1886 explodierte eine Bombe und tötete sieben Polizeibeamte und fünf Streikende. Obwohl ihnen keine Tatbeteiligung nachgewiesen wurde, verurteilte ein Gericht acht Anarchisten für die Tat, fünf wurden hingerichtet. Als Goldman von diesem Urteilsspruch erfuhr, hatte sie, wie sie schreibt, das Gefühl, die Männer zu »kennen«. Sie schloss sich der anarchistischen Bewegung in New York an, die von deutschen, jüdischen und russischen Migrantinnen und Migranten geprägt war, und stieg schnell zu einer prominenten Rednerin auf.
Mehrfach weist Goldman darauf hin, dass sich die radikalsten politischen Gruppen unter diesen nationalen Minderheiten fanden.
Sehr bald stand sie zwischen zwei Männern, dem deutschen Anarchisten Johann Most, Herausgeber der Zeitschrift Freiheit, und dem aus Russland stammenden Alexander Berkman, genannt Sascha. Als Most seinen Widersacher als »arroganten russischen Juden« bezeichnete, verteidigte Goldman ihre Liebesbeziehung zu Berkman. Sie betonte, dass auch sie »eine russische Jüdin« sei und fragte, »ob er, Most, der Anarchist, ein Antisemit wäre?«
Anders als viele Linke verheimlichte Goldman ihre jüdische Identität nicht. Einem Genossen, der seine Herkunft leugnete und froh war, wegen seiner »germanischen Beine« bewundert zu werden, erwiderte Goldman: »Wenn er deine jiddische Nase bewundert hätte, hättest du Grund, stolz zu sein.« Dabei galt ihre Solidarität nicht allein Jüdinnen und Juden. In einem Brief schrieb sie 1938, sie hätte zeit ihres Lebens den Zionismus »als den Traum der kapitalistischen Judenheit« abgelehnt. Aber zugleich verwies sie auf die nichtzionistischen Kommunen in Palästina, die den aus Europa fliehenden Menschen Schutz böten. Anders als die kommunistischen Parteien gestand sie zu dieser Zeit nicht nur der arabischen, sondern auch der jüdischen Bevölkerung in Palästina das Recht zu, dort heimisch zu werden. Allen, die das Land bearbeiteten, sollte es gehören. In der Autobiografie ist unübersehbar, dass Emma Goldmans politische Position stets ihre eigene Situation und Identität reflektierte. So wie sie es vorzog, sich als Frau ihre »eigenen Gedanken zu machen«, weil sie »die geistigen Fähigkeiten der Männer nicht so sehr beeindruckt« hatten, sprach sie sich als Jüdin gegen Diskriminierung aus.
Obwohl sie ursprünglich andere Aktionsformen nicht ablehnte, wirkte sie vor allem als Rednerin und Agitatorin. Ab 1906 gab sie die Zeitschrift Mother Earth heraus. Mehrmals wurde sie inhaftiert. Alexander Berkman saß nach einem Attentat auf einen Fabrikbesitzer 14 Jahre im Gefängnis. Unabhängig voneinander kamen sie jedoch zu dem Schluss, dass dieses Attentat sinnlos gewesen war. Eine solche Tat, schrieb Berkman aus der Haft, müsse »gesellschaftlich motiviert« sein, um etwas anderes zu sein als ein terroristischer Akt. 1919 kehrten Goldman und Berkman eher unfreiwillig nach Russland zurück. Sie wurden von den US-amerikanischen Behörden ausgebürgert und nach Russland gebracht, wo sie euphorisch empfangen wurden. Zunächst selbst begeistert von der russischen Revolution, die, so Goldman, nicht die Bolschewiki gemacht hätten, sondern die »das ganze russische Volk mühsam durchgeführt« habe, waren sie wegen der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands und der Verfolgung der anarchistischen Bewegung unter Lenin und Trotzki nach kürzester Zeit tief enttäuscht. Im Dezember 1921 verließen sie Sowjetrussland. Ihre Enttäuschung war grundsätzlich, sie betraf, wie Goldman sich eingestehen musste, »die Revolution selbst. Ihre Erscheinungsweise war so vollkommen verschieden von dem, was ich mir vorgestellt und als die Revolution propagiert hatte, dass ich nicht mehr wusste, was richtig war.«
Dazu kam die Besorgnis über einen neuen Antisemitismus. Berkman und Goldman führten Gespräche mit Jüdinnen und Juden über die Situation. Dass sie Jiddisch sprachen, sorgte für das nötige Vertrauen. In einem Dorf erklärten Jüdinnen und Juden, warum sie zu Lenin beteten – aber nicht zu Sinowjew oder Trotzki. Die würden ja »ihren eigenen Leuten helfen. Aber Lenin ist ein Goi, ein Nichtjude. Nun versteht ihr wohl, warum wir ihn segnen.« In einem anderen Ort räumte ein Jude ein, dass es zwar seit der Revolution keine Pogrome gegeben hatte. Aber er war der Meinung, dass »der Bolschewismus die antisemitische Einstellung der Massen verstärkt hatte«. Ein anderer sprach von »stillen Pogromen«:
Der Judenhass ließ sich einerseits auf Repräsentanten der alten Ordnung wie den General Slatschow-Krimski zurückführen, der sich vom Zaren losgesagt hatte und schwor, in der Roten Armee für den Bolschewismus zu kämpfen. Vor allem die Rote Armee schien ein Hort des alten Judenhasses. Die »Kommunisten im Norden«, schreibt Goldman, hätten »kein Recht, ihren ukrainischen Brüdern Antisemitismus vorzuwerfen, denn sie wussten sehr gut, wie verbreitet diese Einstellung in ihren eigenen Reihen war. Vor allem die Rote Armee war davon betroffen.« Andererseits verwies die neue Judenfeindschaft auch auf Ursachen in der neuen Gesellschaftsordnung, denn wieder galten »die Juden« als Sündenböcke.
Berkman und Goldman nahmen Teile von Leo Trotzkis Kritik am Antisemitismus unter Stalin vorweg. 1937, während der ersten großen Moskauer Schauprozesse, warnte Trotzki aus dem mexikanischen Exil vor einer neuen Verbindung aus dem alten Judenhass und einem sowjetischen Antisemitismus. Während aber Trotzki seine Kritik an der stalinistischen Bürokratie festmachte, war für Goldman, die in den dreißiger Jahren in Spanien war und die Rolle der Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg kritisierte, der Unterschied zwischen Stalin und den alten Bolschewiki weniger groß.
1923 veröffentlichte Goldman ihren Reisebericht »My Disillusionment in Russia«, dem 1925 ein zweiter Band folgte. »Der Titel war fürchterlich missverständlich«, schreibt sie in ihrer Autobiografie, denn er schien auszudrücken, dass sie »von der Revolution enttäuscht worden war und nicht von den pseudorevolutionären Methoden des kommunistischen Staates«.
Berkman publizierte 1925 »Der bolschewistische Mythos. Tagebuch aus der russischen Revolution 1920–1922«. In beiden Reiseberichten wie auch in »Gelebtes Leben« finden sich ihre Gespräche über den alten und neuen Antisemitismus. Für die beiden Symbolfiguren des US-amerikanischen Anarchismus gehörte die Wachsamkeit gegenüber den Erscheinungsformen der Judenfeindschaft zu ihrem politischen Selbstverständnis. Es sagt viel über die traditionelle Linke aus, dass dies aus heutiger Sicht bemerkenswert ist – wie auch dass dieser Aspekt in Emma Goldmans ereignisreichem Leben wieder entdeckt werden muss.

Emma Goldman: Gelebtes Leben. Aus dem Englischen von Marlen Breitinger, Renate Orywa, Sabine Vetter und Tina Petersen. Nautilus-Verlag, Hamburg 2010, 928 Seiten, 34,90 Euro