Gefahr einer islamistischen Offensive in Ägypten?

Trau’ keinem über 80

Auch wenn der frühe Wahltermin in Ägypten der Muslimbruderschaft entgegenkommt: Weder in Ägypten noch in den anderen arabischen Staaten, die derzeit im Umbruch sind, besteht Grund, sich allzu sehr vor einer islamistischen Offensive zu fürchten.

»Die Ägypter sind am leichtesten von allen Menschen der Welt zu regieren. In dem Moment, wo du die Macht übernimmst, unterwerfen sie sich und kriechen zu dir, und du kannst mit ihnen machen, was du willst.« Das sagt Minister Kamal al-Fouli, eine Figur des wohl populärsten ägyptischen Films der vergangenen Jahre, »The Yacoubian Building«. So wenig Sinne die Aussage heute zu haben scheint, so passend wirkt sie im Film. Ohne jede Zukunftserwartung, fast apathisch, gehen die Charaktere ihren Tätigkeiten nach. Die Korruption durchdringt die persönlichen Beziehungen, Moral existiert nur als Fassade, hinter der kein persönlicher Anstand übrig bleibt. Verstaubt wirken die Kulissen, wie verblichene Fotografien. Beklommen geht man aus dem Kino, es ist, als habe man zwei Stunden zugesehen, wie Fliegen auf einem Klebestreifen zappeln.
Dieser deprimierende Film konnte zum Kassenschlager werden, weil er die Verhältnisse treffend schilderte: So war Ägypten – bedrückend, verstaubt. Dabei war Ägypten selbstverständlich nicht die schlimmste aller Diktaturen. Die Menschen schimpften durchaus auf das Regime, erzählten sich im Kaffeehaus laut Mubarak-Witze. In Syrien stecken die Menschen die Köpfe zusammen, tuscheln, wenn sie über das Regime reden. In Tunesien verstummte jedes Gespräch, sobald man etwas irgendwie Politisches sagte.

Man muss wissen, wie trostlos das Leben in der Diktatur war, um zu begreifen, dass gerade Unglaubliches geschieht. Wie aus dem Nichts sind Millionen von mutigen jungen Menschen auf­getaucht, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen – eine Spezies, von der es in Ägypten noch vor sieben Jahren nur eine Handvoll zu geben schien. Tatsächlich fand bereits vor fünf Jahren, im Dezember 2005, die erste große Anti-Mubarak-Demonstration in Kairo statt. Sie richtete sich gegen den Plan, dass der Sohn Gamal dem Vater Hosni als Präsident nachfolgen sollte. Rund 200 Demonstranten schwenkten, von einer Überzahl von Sicherheitskräften eingekesselt, vor dem Justizgebäude ihre Transparente: mutig, aber doch irgendwie trostlos.
»Kifaya« (Es reicht!) nannten sie ihre Bewegung. Darin fanden sich auch Gruppen junger Leute, die anfingen, sich über das Internet zu organisieren. Blogger schrieben über Menschenrechtsverletzungen und stellten Fotos von Übergriffen der Sicherheitskräfte ins Netz. 2008 zählte die ägyptische Regierung 160 000 Blogger. Als im Frühjahr 2008 die Arbeiter in der Industriestadt Mahalla streikten, gründete die Studentin Esraa Abd-El Fattah eine Facebook-Gruppe, die zur Unterstützung aufrief. Tausende legten in wenigen Stunden die Grundlage für die »Jugendbewegung des 6. April«, die heute rund 124 000 Mitglieder zählt.

Das Internet ermöglichte den jungen Aktivisten, sich anonym zu organisieren. Wer sich vorsichtig darin bewegte, war vor staatlicher Repression zunächst sicher. Darüber hinaus war das Internet auch ein korruptionsfreier Raum, frei von althergebrachten Hierarchien. Hier war es möglich, eigene Gedanken zu äußern, ohne den alten Herren zu huldigen. Wenn man in Hinblick auf die Revolten in der arabischen Welt den demographischen Faktor erwähnt, meint man damit meist, dass mehr als 60 Prozent der Bevölkerung jünger als 30 Jahre sind. Doch auch die fortschreitende Alterung der Menschen hat eine Rolle gespielt: Das offizielle Ägypten, ob Regierung oder Opposition, wirkte steinalt. Der ehemalige Staatspräsident Hosni Mubarak wird im Mai 83 Jahre alt. Auch der Vorsitzende der links-nationalistischen Tagammu, Rifat Said, ist mittlerweile 78 Jahre alt und schon eine gefühlte Ewigkeit im Amt. Der bis 2010 amtierende Führer der Muslimbrüder Muhammed Mahdi Akef ist so alt wie Mubarak, sein frisch gewählter Nachfolger ist mit 68 vergleichweise jung.
In einer Gesellschaft, die den Jungen traditionell ein hohes Maß an Respekt für die Älteren abverlangt, blieb in den politischen Organisationen für die Jüngeren kaum Platz. Zwar gab es Jugendsektionen, gehört hat man von denen allerdings nur bei den Muslimbrüdern. Durchsetzen konnten sie sich mit ihren Ideen aber auch dort nicht. Im Internet entstand erstmals ein Raum für freie Debatte. In ihm entwickelte die Jugend ein Selbstbewusstsein, das die repressive Atmosphäre des Regimes ihren Eltern noch ausgetrieben hatte. Während die alten Oppositionsparteien sich immer mehr dem Regime andienten, gingen die Jugendlichen auf die Straße.
Dennoch wehren sich die Internetaktivisten dagegen, die Lorbeeren für die Revolte einzuheimsen. »Glaubt denen nicht, die euch sagen, dies sei eine Facebook-Revolution«, sagt etwa Wael Ghonim, der Gründer der Gruppe »Wir alle sind Khaled Said«, deren Name an einen von Polizisten zu Tode geprügelten Blogger erinnert. Der mehrfach preisgekrönte Menschenrechtsblogger Wael Abbas sagt: »Facebook hat zu Beginn eine Rolle gespielt, doch dann war es eine Revolution des Volkes. Ohne das Volk hätte es die Revolution niemals gegeben.« Keinesfalls wollen sie Helden sein, denn davon haben sie genug: Als Nationalhelden haben schließlich auch die Nassers und Assads und Husseins einmal angefangen.
Die ägyptischen Internetaktivisten sind so basisdemokratisch, wie es große Teile der globalisierungskritischen Bewegung Anfang des Jahrtausends waren. Doch trägt diese basisdemokratische Grundhaltung auch eine Demokratie außerhalb von Cyberspace und Massendemonstrationen?

Mittlerweile haben sich viele neue Parteien gegründet, die so klingende Namen tragen wie »Der neue Weg«, die »Tahrir-Revolutionäre«, »Ägyptischer Weizen«, »Verteidigung der Verdienste der Revolution«, »25. Januar« oder einfach »Die Pharaonen«. Etwas mehr vorstellen kann man sich unter der »Neuen linken Partei«, der »Befreiungsfront« und der an der türkischen AKP orientierten Partei für »Islamische Gerechtigkeit und Entwicklung«.
Nun haben am Samstag die Ägypter mit großer Mehrheit für eine Reihe von Verfassungsänderungen gestimmt, darunter die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten und weitere Wahlrechtsreformen. Damit ist der Weg für Wahlen im Juni frei. Mubaraks Partei NDP und die Muslimbrüder hatten das Referendum unterstützt. Alle anderen Oppositionsparteien sowie die Internetaktivisten hatten hingegen für ein »Nein« geworben, weil sie eine komplett neue Verfassung wollten. Zudem befürchten sie, dass die kurzfristig angesetzen Wahlen der NDP und den Muslimbrüdern einen Startvorteil verschaffen.
Nun mag man das Referendum als Zeichen werten, dass die Mehrheit der Ägypter dem Neuen noch nicht traut. Es mag sich darin ein Bedürfnis nach Sicherheit ausdrücken oder auch große Zustimmung für die Muslimbrüder. Sicher ist, dass die neuen Parteien bis zum geplanten Wahltermin im Juni kaum genug Zeit haben werden, sich so zu organisieren, dass ihre Programme den Wählern auch nur in Ansätzen bekannt sein werden. Der Sieg der Muslimbrüder bei den ersten freien Wahlen ist damit wahrscheinlicher geworden. Sie sind die einzige organisierte Opposition mit einer breiten Basis. Alle anderen haben entweder keine Basis oder keine Organisation.
Ein Wahlsieg der Muslimbrüder muss jedoch keine Katastrophe sein. Die Muslimbrüder sind im vergangenen Jahrzehnt nicht nur in ihrer Rhetorik immer moderater geworden. Sie haben sich auch konstruktiv in die Kifaya-Bewegung eingebracht, wo sie gemeinsam mit linken Gruppen demokratische Reformen forderten. In ihrem 2004 aufgelegten Programm plädieren sie für Demokratie und gleiche Bürgerrechte für Muslime wie Nicht-Muslime. Dass sie im selben Programm ein auf der Sharia basierendes Staatswesen anstreben, steht dazu im Widerspruch. Das ist Ausdruck interner Machtkämpfe, die die Muslimbrüder seit langem lähmen. Insbesondere die Jugend ist davon frustriert. Kürzlich gründete sich eine Gruppe »Koordinatoren der Revolution der Muslimbrüder-Jugend«, die Neuwahlen der Führung fordert. Bisher geben die Muslimbrüder ein Abziehbild des alten Regimes ab: eine Riege, die die Jungen nicht mitreden lässt. Das ist das Gegenteil dessen, wofür die Demonstranten auf die Straße gingen.

Auch international macht der Islamismus derzeit keine gute Figur – mit Ausnahme der AKP in der Türkei. Nur zögernd haben sich islamistische Gruppierungen den Revolten in der arabischen Welt angeschlossen. Einige stellen sich sogar dagegen. So haben die Taliban angesichts der internationalen Intervention in Libyen Führer der islamischen Welt aufgefordert, Libyen dabei zu helfen, sich »von den Tentakeln des Kolonialismus zu befreien«. Die iranischen Mullahs beschwören zwar den muslimischen Geist der Revolten, tatsächlich haben sich aber die arabischen Demonstranten an den Aktionsformen der grünen Bewegung im Iran orientiert. Das Regime im Iran ist heute für niemanden mehr ein Vorbild. Selbst die ägyptischen Muslimbrüder betonen, dass sie keinen Gottesstaat nach iranischem Muster wollen, sondern eher die AKP ihnen ein Vorbild sei. Die in den neunziger Jahren durch terroristische Aktionen bekannt gewordene Gruppe Jamaat Islamiya erklärte kürzlich in Alexandria, sie strebe den Säkularismus an. Die Aussage wurde kurz darauf wieder zurückgenommen. Seitdem streitet sich die Führung, ob sie überhaupt zu Wahlen antreten will.
Überall bietet sich das gleiche Bild: Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen rennen die Islamisten den Ereignissen hinterher. Sie mögen kurzfristig die Mittel haben, Wahlen zu gewinnen. Aber sie werden lange brauchen, um sich zu funktionierenden und dauerhaft attraktiven Parteien zu entwickeln – Zeit genug also für die jungen Aktivisten, sich in der Opposition eine Struktur zu geben. Sie haben einen großen Vorteil. Sie wissen recht gut, was sie wollen: Demokratie, Bürgerrechte und soziale Rechte – ohne Kompromisse und ohne Sharia.