Hat die größte Müllkippe Lateinamerikas besucht

»Hier gibt es immer Arbeit«

Jardim Gramacho ist nicht nur eine Favela am Rande von Rio de Janeiro, es ist auch die größte Müllkippe Lateinamerikas. Hier arbeiten die catadores, Sammler von Materialien, die sich zum Recyceln eignen. Ihr Leben ist von Armut und Unsicherheit geprägt, doch ihr Alltag sieht nicht so aus, wie bekannte Filme in den vergangenen Jahren das Leben in Armenvierteln der brasilianischen Städte darstellten.

Jardim Gramacho ist eine der unzähligen Favelas von Rio de Janeiro. Das Armenviertel liegt auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht, einige Kilometer vom Zentrum der Stadt entfernt. Die sonst so allgegenwärtige Jesusstatue kann man von hier aus gerade noch am Horizont erkennen. Im Gegensatz zu den innerstädtischen Favelas wirkt Jardim Gramacho eher wie ein Dorf, es gibt viel Platz und viel Natur, und es herrscht eine entspannte Atmosphäre.
Die wichtigste Verbindung der Favela zur Stadt ist der Müll, denn Jardim Gramacho hat auch eine der größten Müllkippen Lateinamerikas. Sie sichert einigen tausend catadores (Müllsammler) das Überleben, die Materialien zum Recyceln sammeln, wie Plastik, Papier, Metall oder Aluminium. Täglich kommen aus Rio bis zu 10 000 Tonnen Müll nach Jardim Gramacho. Die gesammelten Materialien werden dann getrennt, etwa nach Materialstärke und Farbe, sie werden zu Blöcken zusammengepresst und auf LKW geladen, mit denen sie zu Aufbereitungsanlagen gebracht werden. Hier dreht sich alles um das Recyceln, ob formell oder informell. Auch ein großer Teil der Behausungen wurde aus dem zusammengezimmert, was sich auf der Müllkippe finden lässt. So sehen die Fassaden vieler Hütten skurril aus, etwa, wenn sie vollständig aus Sonderangebot-Schildern bestehen.

Nilson ist wie die meisten Bewohner von Jardim Gramacho vor einigen Jahren aus Pernambuco, einer Region im Nordosten Brasiliens, hierhergekommen. Die schwierigen Lebensbedingungen, die Korruption und die Armut haben ihn dazu gebracht, seine Reise nach Rio anzutreten – die Stadt mit dem »Zuckerhut« und dem Copacabana-Strand, die Stadt, wo der Christus einen mit offenen Armen empfängt. Nicht nur auf die Touristen aus dem Ausland, sondern auch auf Brasilianer übt Rio diese Faszination aus, ein Image, das in den unzähligen telenovelas immer wieder inszeniert und zelebriert wird.
Kurz nach seiner Ankunft musste Nilson aber feststellen, wie hart das Leben in der Großstadt für einen Neuankömmling ist. Als Obdachloser war er Misshandlungen und Gewalt ausgesetzt. Dann erfuhr er von Jardim Gramacho. »Jemand von der Straße hatte mir erzählt, dass es eine Favela gibt, in der jeder sein Geld machen kann«, erzählt er, »ich wusste zwar nicht, dass ich auf einer Müllhalde arbeiten muss, aber es ist wirklich so, hier in Jardim Gramacho gibt es immer Arbeit.« Das Arbeiten auf der Mülldeponie ist sehr gefährlich, und Nilson hat weder einen Arbeitsvertrag noch irgendeine Art von sozialer Absicherung, aber er zögert nicht, die guten Seiten dieser Arbeit darzulegen: »Hey Mann, ich bin selbständig, ich habe keinen Boss und kann mir aussuchen, wann und wie lange ich arbeite.« Zu Beginn habe er sich für seine Arbeit geschämt, aber mittlerweile sei er sich der Wichtigkeit seiner Arbeit für die Natur und die Gesellschaft bewusst.

Jeder hat hier seine eigene Art zu arbeiten. Valter und andere, die der älteren Generationen angehören, kommen regelmäßig zur Deponie und absolvieren in einem regelmäßigen Rhythmus ihre sechs bis zehn Stunden Arbeit täglich. Danach fahren sie in die oft weiter entfernten Siedlungen zurück, in denen sie wohnen und in denen viele gar nicht wissen, womit sie ihr Geld verdienen.
Nilson und Juliano gehen das anders an, sie leben in unmittelbarer Nähe der Müllhalde und haben hier ihre Freunde und ihren Lebensmittelpunkt. Meist arbeiten sie nachts, weil die Hitze und der Gestank dann erträglicher sind. Sie gehören zu einem selbsternannten »Überfallkommando«. Wenn ein Transporter mit besonders begehrten Materialien kommt – wie zum Beispiel die schon an der Aufschrift erkennbaren LKW, die Müll aus den Shoppingcentern von Rio transportieren –, schlagen sie sofort zu. Schon beim Auskippen der Materialien suchen sie alles, was sich zum Recyceln eignet, heraus und können so in kurzer Zeit »relativ viel« Geld machen, wie sie erzählen. In den Pausen dazwischen spielen sie Fußball, kiffen oder erzählen sich die neuesten Geschichten aus dem Viertel. Nach einem langen Arbeitstag auf der Halde ist die Motivation nicht groß, direkt am nächsten Tag zurückzukehren. Dann genießen sie für ein paar Tage das Leben, verbringen Zeit mit der Familie oder machen Party.
Wegen der strukturellen Probleme ist es aus ihrer Sicht ohnehin nicht besonders sinnvoll, viel zu arbeiten und Geld zu sparen. Denn ohne eine Geburtsurkunde, einen Personalausweis und eine Adresse können sie kein Konto bei einer Bank eröffnen, abgesehen davon, dass es in Jardim Gramacho auch keine Banken gibt. Auch die Sparstrumpfmethode ist keine gute Alternative, denn häufig brennen die Hütten ab, da sie oft aus entflammbaren Materialien gebaut sind.
Das ist gerade erst Gordinho passiert. »Meinen Fernseher und meine Sammlung von Baseballmützen konnte ich retten, der ganze Rest ist in Flammen aufgegangen«, erzählt er. Vor allem die Baseballmützen liegen ihm sehr am Herzen. »Die habe ich alle von da oben«, sagt er. So nennen Insider die Müllhalde. »Man muss die nur ein paar Mal waschen und sie sehen aus wie neu!« Dass sonst alles verbrannt ist, nimmt er nicht so schwer. »Die Hütte war mir sowieso zu klein, die nächste wird besser.« So erzählt er guter Dinge, und immer mit einem kühlen Bier in Reichweite, er habe vor, zusammen mit seinen Kumpels eine neue Hütte zu bauen. Die Behausung seines Nachbars steht noch, weshalb dieser sich dumme Sprüche anhören muss: »Grogue, komm schon, ich zünde deine Bude auch noch an, dann bist du die endlich los und kannst dir was Vernünftiges bauen.«
So ist jeder gezwungen, sein Schicksal, so weit es geht, selbst in die Hand zu nehmen, die Bewohner von Jardim Gramacho sind sich bewusst, dass eine Veränderung ihrer Situation nur schwer zu erreichen ist. Aber wenn es dazu kommen sollte, dann soll es aus eigener Kraft bewerkstelligt werden.
Denn den Glauben an die Behörden haben die meisten schon vor langer Zeit verloren. Einige catadores fangen daher an, sich in einer Art Gewerkschaft zu organisieren, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu fordern. Solange solche Vorhaben jedoch keine Früchte tragen, genießen sie trotz der großen Schwierigkeiten des Alltags und der verheerenden gesundheitlichen Bedingungen das Leben, so gut es geht.

Mit den gängigen Geschichten aus auch hierzulande bekannten Filmen wie »City of God« und »Tropa de Elite« hat der Alltag in Jardim Gramacho nicht viel zu tun. In den Kinos und sonstigen Medien wird das Leben in der Favela als ein Leben inmitten von Drogenhandel und Bandenkrieg dargestellt. Das gibt es auch alles, nur spiegelt es nicht den Alltag und die Hauptbeschäftigung der Favelados wider.
»Ich bin doch nicht bescheuert, ich habe Familie. Bevor ich deale, arbeite ich lieber auf der Müllkippe!« meint Nilson dazu. Die Statistiken belegen das: Nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung in den Favelas ist in den Drogenhandel involviert, und das sind in der Regel die typischen »bösen Kerle«. Im Gegensatz zu dem, was viele Massenmedien häufig verbreiten, begegnen die Favelados den Härten des Lebens in ihren Vierteln oft mit Leichtigkeit und Ironie. Schon die Floskeln, mit denen man sich hier gegenseitig begrüßt, machen diesen Aspekt deutlich: »Wie geht’s?« – »Nur Schönheit!«
Die Stadtverwaltung von Rio bereitet sich auf die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 vor und möchte ein neues Bild der Stadt anbieten, wie man in Werbevideos feststellen kann. Bis dahin versuchen die Behörden mit allen Mitteln, die Favelas aus der Stadt zu drängen oder sie hinter »Schutzmauern« zu verstecken. Die Favela Dona Marta, wo Michael Jackson Mitte der neunziger Jahre den Videoclip zu dem Song »They Don’t Care About Us« drehte, ist mittlerweile von Betonmauern umgeben, weil sie von Lokalpolitikern als eine »Bedrohung« für die Bevölkerung eingestuft wurde.