Über die türkische TV-Serie »Was hat Fatmagül verbrochen?«

Patriarchat und Verbrechen

Die türkische Soap »Was hat Fatmagül verbrochen?«, in deren Mittelpunkt eine vergewaltigte Frau steht, ist vor allem bei traditionsbewussten Familien populär.

Die 16jährige Funda schaut gebannt ihre Lieblingsserie. Die Hauptfigur, Fatmagül, weint gerade bitterlich und kreischt plötzlich hysterisch: »Warum sind die Menschen nur so schlecht?« Dann setzt die Werbepause ein, gerade in dem Moment, als die Heldin erfährt, dass ihr Ex-Verlobter Mustafa bestochen worden ist, damit er nichts gegen die Istanbuler Familien unternimmt, von deren Söhnen sie am Strand ihres Heimatdorfes an der Mittelmeerküste vergewaltigt worden ist. Lange hatte der Fischer Mustafa seine Verlobte Fatmagül selbst für die Schuldige gehalten. Deren intrigante Schwägerin war ebenfalls von den Familien der Täter bestochen worden, um Fatmagül davon zu überzeugen, dass es besser sei, mit niemandem über die Vergewaltigung zu reden. Stattdessen wurde das Mädchen dazu gedrängt zu behaupten, sie habe eine Affäre mit dem jungen Kerim gehabt, einem Handwerker aus dem Dorf und Schulfreund der Vergewaltiger, woraufhin sie mit dem Mann verheiratetet wurde, um die Schande für die Familie in Grenzen zu halten. Die Familie zog anschließend nach Istanbul, um dem Gerede zu entgehen.
Die türkische Frauenbewegung kämpft seit den Achtzigern für fundamentale rechtliche Reformen: für die freie Berufs- und Wohnortwahl verheirateter Frauen, unabhängig von der Erlaubnis des Ehemanns, für die Abschaffung der Institution des »männlichen Oberhauptes der Familie«. Im Rahmen der Anpassung an EU-Normen wurden 2004 viele juris­tische Rahmenbedingungen wie die Bestrafung von Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe neu geschaffen. Doch leider änderte sich damit noch nicht die Lebenssituation der Frauen. Aydeniz Alisbah Tuskan, Vorsitzende des Frauenrechtszentrums der Istanbuler Anwaltskammer, wies jüngst darauf hin, dass jede dritte Frau in der Türkei häusliche Gewalt erlebt und die meisten Betroffenen das auch als »normal« empfinden. Das größte Problem dieser Frauen ist ihre finanzielle Abhängigkeit. Die Arbeitsmarktstatistiken zeigen, dass es in nur einem Jahr einen dramatischen Rückgang von 32 auf 22 Prozent in der Frauenbeschäftigungsquote in der Türkei gab. Die internationale Wirtschaftskrise hat zu zahlreichen Entlassungen im Niedriglohnsektor geführt, so etwa in der Textilindustrie, aber auch in Dienstleistungssektoren wie dem Bankenwesen. Hier arbeiten überproportional viele Frauen.
Fernsehserien sind eine willkommene Zerstreuung gerade für viele sozial schwache Familien in der Türkei. Die Schülerin Funda und ihre Mutter Havva sehen die Serie »Was hat Fatmagül verbrochen?« jeden Donnerstagabend. Vor einer Sitzgruppe aus bequemen, billigen Polstermöbeln steht ein riesiger Flachbildschirm auf einer Kommode. Ein Foto an der Wand zeigt das Bergdorf in Mittelanatolien, aus dem Havva 1997 mit achtzehn Jahren nach Istanbul zog. Damals war Funda schon zwei Jahre alt, Havvas Ehemann Mustafa Özkul, auch gerade erst neunzehn geworden, arbeitete bereits seit ein paar Monaten in einer Textilfabrik im aufstrebenden Industrieviertel Zeytinburnu. Doch bereits die Wirtschaftskrise 2001 kostete ihn den schlecht bezahlten, aber sicheren Job. Die Özkuls haben seitdem sehr wenig Geld, Mustafa arbeitet als Gelegenheitshandwerker, Havva als Putzfrau. Das Fernsehen sorgt für die Unterhaltung an langen Abenden. Ausgehen ist in Istanbul viel zu teuer. Nur Funda geht manchmal ins Kino in die Nachmittagsvorstellung.
Die Serie um Fatmagül zieht jeden Donnerstag ein Drittel aller türkischen Zuschauer vor den Fernseher. Es sind vor allem aus der Provinz stammende Familien wie die Özkuls, die die Serie lieben. 70 Prozent aller Türken wohnen mittlerweile nicht mehr auf dem Land, sondern in Großstädten. Vor 20 Jahren war es genau umgekehrt. Doch die Wertvorstellungen ändern sich nicht so schnell wie der Wohnort.
Die Medienforscherin Hülya Tanriöver meint, dass die Serie die patriarchalischen Werte im Bewusstsein vieler Zuschauer geschickt instrumentalisiert. Die Neu-Städter erkennen darin ein Schicksal, das ihren Rollenvorstellungen entspricht. Sie identifizieren sich damit stärker als mit dem modernen, urbanen Leben in der Türkei. »Bei uns existieren mehrere Welten nebeneinander«, sagt Tanriöver. »Meine Studenten etwa leben ein freies Leben, wie Gleichalt­rige in anderen Metropolen auch.« Auf dem Campus der Bilgi-Universität sitzen junge Frauen und Männer in modischer Kleidung locker beisammen. Die Filmabteilung der Hochschule machte vor sechs Wochen Schlagzeilen, weil Studenten einen Pornofilm als Abschlussarbeit produziert hatten. »The porn project« hat nichts mit der Geschichte einer Fatmagül zu tun. Die Hauptdarstellerin übte sich eher in Domina-Posen. »Nicht dass wir das Porno-Projekt unseres Kommilitonen besonders emanzipatorisch finden«, kommentiert die 22jährige Sibel, »aber natürlich entstand dieser Film auch als eine Art Protest gegen Geschichten wie die von Fatmagül«.
Die Ausstrahlung der Vergewaltigungsszene in der Serie hatte landesweit Empörung aus­gelöst. Vier Minuten lang ist vor allem das weinende Gesicht von Fatmagül zu sehen, der Mund und Nase zugehalten werden, um ihre Schreie zu ersticken. Zuweilen taucht das grinsende Gesicht von einem der Vergewaltiger auf. Über 2 000 Zuschauer beschwerten sich bei der Fernsehaufsichtsbehörde. Die Vergewaltigungs­szene, die bis dahin in der Serie immer wieder als Rückblick wiederholt wurde, wird seitdem nicht mehr ausgestrahlt. Hundertfach ist die Szene allerdings jetzt im Internet verlinkt. Auch ein Computerspiel mit dem Titel »Lauf, Fatmagül, lauf« erfreut sich großer Beliebtheit. Der Spieler kann einen Fatmagül ähnelnden Avatar mit dem Cursor über das Spielfeld bewegen. Drei Verfolger tauchen auf, die den Vergewaltigern der Serie wie aus den Gesichtern geschnitten sind. Sobald Fatmagül gefangen wird, weint sie.
Die Verbindung von Sex und Gewalt übt offensichtlich einen großen Reiz aus, in der Türkei und anderswo. Eine Online-Recherche im deutschen Netz ist wenig erfreulich. Super-Mario vergewaltigt als Zeichentrickfigur die Prinzessin, ein Autor, der sich Ben Bischoff nennt, beschreibt auf www.eunuch.org genüsslich die Vergewal­tigung einer »geilen Schlampe«, und auf www.brutal-fucking.com wird gleich per Video gedemütigt, gezwungen und vollgespritzt. Obwohl die Videos nur mit einem Benutzerkonto zugänglich sind, ist die anale Vergewaltigung einer Frau als Beispielvideo gleich auf der ersten Seite der Homepage zu sehen. In der Türkei werden Pornoseiten mittlerweile grundsätzlich gesperrt, aber der findige User kann sich mit Proxyservern behelfen. Gleichzeitig ist eine gesellschaftliche Debatte um das Thema Gewalt an Frauen entbrannt, die sich im Februar zuspitzte, als der Theologie-Professor Orhan Çeker aus Konya verkündete, Frauen mit tiefen Dekolletés seien selbst schuld, wenn sie vergewaltigt würden. Später ließ er von seinem Anwalt eine Richtigstellung verbreiten: Eine Vergewaltigung sei immer nur die Schuld des Vergewaltigers, aber bei bloßer Belästigung sei das etwas anderes: »Wenn eine Frau ihr Dekolleté zur Schau stellt und sich anzüglich verhält, dann liegt die Schuld bei beiden.« Ein Sturm des Protestes brach los, die Staatsanwaltschaft von Konya ermittelt gegen Çeker.
Doch die Justiz entscheidet allzu oft im Sinne der Täter. Der 80jährige Hüseyin Üzmez, früher Kolumnist bei der islamistischen Tageszeitung Vakit, wurde nach zweieinhalb Jahren aus der Haft entlassen, nachdem er bereits in zwei Instanzen des sexuellen Missbrauchs einer 14jährgen für schuldig befunden und zu 13 Jahren Haft verurteilt worden war. Trotz der mög­lichen Gefährdung des Opfers und der Gefährlichkeit eines uneinsichtigen pädophilen Täters erfolgte seine Freilassung bereits das zweite Mal mit Hinweis auf seine bereits verbüßte Haftzeit und die andauernde Revision. Nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe 2009 hatte der konservative Journalist mit seinen Kommentaren (»Ich bin halt ein Casanova«) demonstriert, wie uneinsichtig er ist. Nach seiner Freilassung am 9.März verkündete er, seine Strafe nun verbüßt zu haben.
Auch andernorts urteilen Richter eher nach Stammtischmanier als auf Grundlage moderner Gesetze. Ein Gericht in Mardin verhängte im September 2010 gegen 26 erwachsene Männer, die eine Zwölfjährige mehrfach missbraucht hatten, Mindeststrafen von sechs Monaten bis vier Jahren. Die Begründung lautete: Das Mädchen sei von zwei Kupplerinnen angeboten worden und habe sich nicht ausreichend gewehrt. Zu den Vergewaltigern der Minderjährigen gehören der Direktor der staatlichen Aufsichtsbehörde für Stiftungen in der Kreisstadt Mardin, der als Schuldirektor mit Mädchen zu tun hatte, sowie der Chef der Landwirtschaftskammer und Direktor der Forstverwaltung. Anstatt den Machtmissbrauch von Funktionsträgern erschwerend zu bewerten, wurde die gute Führung der Angeklagten gelobt. Die »Kupplerinnen« bekamen dagegen neun Jahre Haft wegen ihres verwerflichen Lebenswandels.
Ein Blick auf die Kriminalstatistik zeigt: Die Anzahl an weiblichen Todesopfern steigt alarmierend. 2002 wurden 66 Morde an Frauen in der Familie aktenkundig, 2009 waren es 953. Statistisch werden täglich fünf Frauen in der Türkei ermordet. Die Proteste gegen die Verharmlosung von Männergewalt im Fernsehen haben einen handfesten Hintergrund.