Stellt drei Bücher über die Lage im Nahen Osten vor

Was der Liveticker nicht bringt

Von Kairo über Teheran zurück ins irakische Nassiriyah in der Ära Saddam Husseins: Oliver M. Piecha stellt drei literarische Neuerscheinungen vor, die helfen können, die Lage im Nahen Osten besser zu verstehen.

Die jüngsten Vorgänge in der Welt des Nahen Ostens haben wieder einmal bewiesen, dass weder so genannte Experten noch Geheimdienste besonders hellseherisch veranlagt sind. Alle erklären die Dinge immer nur im Nachhinein. Womöglich lesen sie einfach zu wenig Literatur. Denn hier werden zwischen Buchdeckeln tiefere Wahrheiten über Gesellschaften, Revolutionen und Proteste preisgegeben als in einem »Nachrichtenticker«.
So auch in Chalid al-Chamissis Roman »Im Taxi«, der aus 58 Miniaturen besteht und die Kairoer Taxifahrer zu Wort kommen lässt, bei denen der Erzähler eingestiegen ist. Es sind Geschichten von Korruption, Verzweiflung, Wut und dem Verlust von »Würde«. Man erfährt von den kleinen alltäglichen Demütigungen durch eine irrwitzige Bürokratie und eine durch und durch korrupte Polizei, wobei das nur die Auswüchse eines politisches Systems sind, das längst so dysfunktional und lächerlich geworden ist, dass die Menschen sich nurmehr kopfschüttelnd fragen, warum die Regierung ihnen das Überleben eigentlich so absurd schwer macht. Und während der Präsident – Hosni Mubarak – auf Plakaten verkündet, die neue U-Bahn sei »sein Geschenk« an das Volk, notiert der Autor entnervt: »Eigentlich müssten wir Verblödungspillen schlucken, um all das zu ertragen.« Worüber seine Taxifahrer klagen, das ist nicht zuletzt das Gefühl, wie unmündige Kinder behandelt zu werden, ganz so, »als würde das ganze Volk noch immer Windeln tragen«. Eines hat al-Chamissi mit seinem 2007 im Original erschienenen Buch erreicht: Man fragt sich nach der Lektüre nicht mehr, warum Mubarak so schnell gestürzt worden ist, sondern nur noch, warum er sich so lange an der Macht halten konnte. Denn diese Regierung war längst bankrott. »Im Taxi« schildert die Vorgeschichte der Revolution vom Tahrir-Platz, hier lässt der Erzähler einen Fahrer sagen: »Geht es mich überhaupt etwas an, dass das mal unser Land war? Heute ist es doch ihrs, und sie machen damit, was sie wollen.« Mittlerweile haben die Ägypter sich ihr Land zurückgenommen.
Al-Chamissi liefert ein kollektives Psychogramm der ägyptischen Gesellschaft, zuweilen geschieht dies womöglich auch eher unfreiwillig. Dafür sprechen die Restbestände antiimperialistischer wie antiamerikanischer Ressen­timents, die auch in politischen Äußerungen des Autors auftauchen. An allem, das lernt der Leser im Kairoer Taxi, sind letztlich die Amerikaner schuld. Der arabische Weg zu Würde und Erwachsenheit, er wird irgendwann auch noch zu hundertprozentiger Selbstverantwortung und unbarmherziger Selbstreflexion ganz ohne Ausflüchte führen müssen, sonst wird er immer wieder Gefahr laufen, abzuirren. Die Revolution vom Tahrir-Platz ist kein Abschluss, sondern ein Anfang.
Parsua Bashi sendet dem Leser ihrer »Briefe aus Teheran« weniger deutliche Botschaften. Dafür gibt sie handfeste Haushaltstips: Wie macht man zum Beispiel Wein aus Möhren? (Es klingt nach sehr viel Aufwand.) Warum kaufen viele Teheraner kistenweise Weintrauben zur Erntezeit, und wie kann man Drinks aus Apotheken­alkohol geschmacklich aufpeppen? Es entsteht das bizarre Bild eines Alltags, der normal und absonderlich zugleich erscheint. Dabei weiten sich kleine Beobachtungen zu gesellschaftlichen Szenarien, etwa wenn Bashi erklärt, warum Liebespaare, bei denen der Mann aus der Provinz stammt und die Frau aus Teheran, oft scheitern. (Womöglich bittet er zuerst nur ganz harmlos, sie solle ihm zuliebe beim Besuch seiner Eltern ausnahmsweise einen Tschador anlegen.) Der Tonfall der Erzählung ist angenehm unaufdringlich. Wie funktioniert der Teheraner Nahverkehr, und warum haben die verblassenden Märtyrerporträts auf Hausmauern aus dem Krieg zwischen Iran und Irak propagandistisch ausgedient? Was Bashi beschreibt, sind Fragmente einer Sicht auf die Gesellschaft in Teheran, und man beginnt zu ahnen, dass es nicht die Demonstrationen sind, die das System der Islamischen Republik Iran unterhöhlen werden, sondern die Popularität von Fast-Food-Läden, in denen junge Menschen wie die Tochter der Autorin sich an riesigen Sandwiches delektieren, die in Soßen und ­Ketchup ertränkt werden.
»Briefe aus Teheran« ist 2010 entstanden, nachdem Bashi ein paar Jahre in der Schweiz verbracht hatte. Das Buch fängt die Stimmung der Zeit nach dem Ende der Straßenproteste der »Grünen Bewegung« ein. Politisch war das eine bleierne Zeit, und wenn die Autorin kurz nach dem Jahrestag der Wahlen von 2009 ein Aktivistenpaar interviewt, dann geht es dabei schnell um die Frage nach dem Rückzug ins Private angesichts der unabwägbaren Risiken öffentlichen Demonstrierens. Subversiver wirkt da das Interview der Autorin mit ihrer eigenen Tochter, deren postpubertäre Befindlichkeiten jenseits konkreter politischer Artikulation darauf hinweisen, dass durch die Etablierung einer Parallelwelt eine tiefgreifende Säkularisierung dieses »Mullahstaats« im Privaten längst stattgefunden hat. Voreheliche sexuelle Beziehungen erscheinen da als etwas so selbstverständlich Gelebtes wie das Wissen darum, wann und wo man als Frau den Schleier besser überkorrekt trägt und wie viel das Bestechen eines Sittenwächters kostet. Es gibt natürlich auch einen Alltag im Iran, davon erzählt Parsua Bashi. Hinter allem aber lauert die Drohung ungeheuren Terrors.
Das Urerlebnis dieses Terrors schildert der längst in Deutschland lebende irakische Autor Abbas Khider in seinem Roman »Die Orangen des Präsidenten«. Die Handlung spielt in der Ära Saddam Husseins. Der Erzähler wird 1989, kurz nach dem Ende des Kriegs zwischen Iran und Irak, am Tage seiner Abiturprüfung verhaftet. Eine Verwechslung, er saß einfach nur im falschen Auto, ein dummer Zufall. Sogar seine Folterer geben es schließlich zu. Er sitzt zwei Jahre in Haft, er wird gedemütigt, man lässt ihn nahezu verhungern, und das alles ist sinnlos, in dem Sinn, dass es noch nicht einmal einen nachvollziehbaren politischen Grund für seine Verfolgung gibt. Der einzige Zweck ist der Terror an sich und seine Wirkung nach Innen und Außen. Saddam Husseins Regime war das verwirklichte Ideal des arabischen Führerstaats. Und Khiders Erzählung gibt den Blick frei auf den Sumpf oder vielmehr den Untergrund der herkömmlichen Staatlichkeit des Nahen Ostens, sie zeigt den Terror, die Willkür und die Verrohung. Der Protagonist wird schließlich 1991 beim Aufstand, der sich gegen Saddam Hussein richtete und der sich an den Rückzug der Iraker aus Kuwait anschloss, aus dem Gefängnis befreit. Im ganzen Süden des Irak wurde damals durch einen Volksaufstand die irakische Armee vertrieben. Auch Khiders Protagonist beschreibt diesen Aufbruch, mit den ersten Parteibüros entsteht die Andeutung eines neuen öffentlichen politischen Lebens. Bald aber wachsen die Zweifel des Erzählers. Warum unterstützen die Amerikaner den Aufstand nicht praktisch? Schließlich kehrt die irakische Armee zurück, und der Erzähler findet sich in einem Flüchtlingslager wieder. 20 Jahre später, 2011, dürfte einem Bewohner etwa des libyschen Bengasi die Handlung des Romans womöglich zu aktuell vorkommen.

Chalid al-Chamissi: Im Taxi. Lenos, Basel 2011, 187 Seiten, 19,90 Euro
Parsua Bashi: Briefe aus Teheran, Kein & Aber, Zürich 2010, 199 Seiten, 18,90 Euro
Abbas Khider: Die Orangen des Präsidenten. Nautilus, Berlin 2011, 160 Seiten, 16 Euro