Hat den regierungskritischen Blogger Itamar Shaltiel in Israel getroffen

Auf der schiefen Bahn

Nicht dass er Noam Chomsky besonders mögen würde. Aber an dem Tag, als Israel dem Wissenschaftler die Einreise in die Westbank verweigerte, begann Itamar Shaltiel sein regierungskritisches Blog. Auf »Slippery Slope« dokumentiert er, was seiner Ansicht nach falsch läuft im Land.

In Israel«, schrieb Bradley Burston, Kolumnist der linksliberalen Zeitung Haaretz, Ende Februar im Hinblick auf die arabischen Revolten euphorisch, »hat die Revolution schon begonnen.« Sie werde im Internet und auf den Straßen, in besetzten Gebieten und im israelischen Kernland, in amerikanischen Synagogen und schließlich in der ganzen jüdischen Welt stattfinden. »Die Revolution zielt nicht nur auf das Ende der Besatzung, sondern auf den Anfang eines neuen Israel. Nicht für Siedler, diesmal. Für Israelis.«
Anzeichen für einen gesellschaftlichen Aufbruch sah er allerorten. Konkret verwies er auf die wöchentlichen Proteste in Sheikh Jarrah in Ostjerusalem, wo Wohnungen arabischer Bewohner zugunsten jüdischer Siedler geräumt werden. Im vorigen Jahr hatte sich die zionistische Linke so intensiv an den Demonstrationen beteiligt, dass der Journalist Joseph Dana, der einen binationalen Staat favorisiert, schon argwöhnte, die größte Herausforderung für die Protestbewegung sei nun deren Zionismus. Ganz anders schätzt der 32jährige Blogger Itamar Shaltiel die Situation in Israel ein. Seit Mai vergangengen Jahres führt er seinen Blog »Slippery Slope« (schiefe Bahn), dessen Untertitel »Notes from a Crumbling Democracy« lautet.
Shaltiel sitzt in einem Café in der Innenstadt von Tel Aviv. Die »Enklave« nannten kürzlich die Sozialwissenschaftler Tamar Hermann und David Newman diesen Ort, an dem Israel wie ein ganz normaler Teil des Westens wirkt, nicht wie einer, an dem autoritäre und fundamentalistische Positionen im Vormarsch sind. Shaltiel wirkt ein wenig gestresst, die Arbeit am Blog läuft neben seinem eigentlichen Job. Zwischenzeitlich wird er vor die Tür in den nasskalten Tel Aviver Frühling entschwinden. Zigarettenpause.
»Ich sehe keine politische Konstellation, die in der nächsten Zeit in Israel etwas ändern wird«, sagt Shaltiel, »zumindest nicht ohne Druck von außen. Die Arbeitspartei ist nicht mehr links.« Meretz, vielleicht das israelische Pendant der Grünen? »Eine tote Partei, in den Neunzigern steckengeblieben. Sie versuchen noch immer, Yitzhak Rabin wiederauferstehen zu lassen.« Beide Parteien zusammen erreichten bei der letzten Knesset-Wahl gerade einmal 13 Prozent. Und die außerparlamentarische Linke ist zwar gewachsen, hat sich radikalisiert und westeuropäische Aktionsformen adaptiert, bleibt aber ohne Anbindung an eine breite, sie tragende gesellschaftliche Strömung.
Seitdem ist der Weg für die Rechte frei – für ihre Projekte, Phantasmen, Obsessionen. Vor allem aber für die Lieblingsbeschäftigung der Rechten weltweit: der Definition dessen, wer zur Nation gehört und wer nicht. In den Fokus geraten wie üblich nationale Minderheiten, Migranten – und die Linke, Linksliberale eingeschlossen. Im Februar beschloss die Knesset ein Gesetz, das Nichtregierungsorganisationen (NGO) zukünftig verpflichtet, vierteljährlich ihre ausländische Finanzierung offenzulegen. Weitergehende Regelungen, etwa ein parlamentarisches Untersuchungskomitee für Menschenrechtsgruppen, scheiterten zunächst. Kritikern aus den Regierungsparteien, die diese Pläne mit der Kommunistenverfolgung unter McCarthy verglichen hatten, bescheinigte Außenminister Avigdor Lieberman, sie beabsichtigten, die »Interessen des nationalen Lagers in Israel zu opfern«. Liebermans Partei Yisrael Beitenu kündigte bereits weitere Verschärfungen für Ende des Jahres an.
In Eilat am Roten Meer initiierte Bürgermeister Meir Yitzhak Halevi (Kadima) eine Kampagne gegen afrikanische Flüchtlinge. Halevi ließ überall in der Stadt rote Fahnen als Warnung »vor der Eroberung durch Eindringlinge« aufhängen und verteilte Sticker mit der Aufschrift »Auch ich schütze unsere Heimat«. Vermieter sollen davon abgehalten werden, ihre Wohnung an Flüchtlinge zu vergeben.
Shaltiel dokumentiert diese Dinge auf seinem Blog in kurzen, nachrichtlich verfassten Meldungen. »Knesset-Mitglied Otniel Schneller (Kadima) rät dem Journalisten Gideon Levy, seine Staatsbürgerschaft wegen einer Kolumne in Yediot Akhronot aufzugeben«, lautet ein Eintrag vom 15. März. Datiert auf den 10. März heißt es: »Der Zuständige für die Erteilung eines Koscher-Zertifikats weigerte sich, ein solches einem Restaurant in Bat Yam auszustellen, weil dessen Inhaber, Yair Heiman, ein äthiopischer Immigrant ist. Er verlangte von Heiman die Vorlage von Dokumenten, die beweisen, dass er jüdisch ist. Aber auch zwei Monate nach deren Vorlage hat Heiman immer noch nicht das Zertifikat erhalten.« 9. März: »Das staatliche Unternehmen für die Rekonstrution und Entwicklung des Jüdischen Viertels in der Altstadt von Jerusalem versucht, einen Bewohner zu vertreiben, weil er nicht jüdisch ist. Der Direktor des Unternehmens, Shlomo Atias, sagte, Christen könnten im christlichen Viertel leben.« Dazu kommen Meldungen über Polizeiübergriffe, Attacken von Siedlern und Ultra-Orthodoxen.
Shaltiel vermeidet jegliche politische Wertung. Die lakonische Aneinanderreihung von Meldungen erzeugt eine Unmittelbarkeit, die analytische Artikel kaum erzielen könnten. Eigentlich will Shaltiel die gesellschaftliche Mitte erreichen, Wähler der Arbeitspartei oder von Kadima, »Leute, die sich selbst als vernünftig und normal betrachten«. »Vielleicht«, so hofft er, »kann der Blog sie zum Nachdenken über das, was hier passiert, bewegen.« Obwohl die Seite zu den meistdiskutierten Blogs in Israel gehört, dürfte er vor allem die linke Community erreichen: 20 000 Besucher hat die Seite im Monat. »Das ist in Israel schon viel«, sagt Shaltiel. Unter den Lesern sind Journalisten, Abgeordnete von Meretz und Hadash, der früheren kommunistischen Partei.
Seinen Blog erstellte er an dem Tag, als bekannt wurde, dass Israel Noam Chomsky, der im Mai 2010 an der palästinensischen Universität von Bir Zeit einen Vortrag halten wollte, das Einreisevisum verweigerte. »Kein normaler Staat würde so etwas tun«, sagt Shaltiel, der in Tel Aviv Linguistik studiert hat. »An meiner Uni war Linguistik gleich Chomsky. Auf seinem Fachgebiet ist er auch wirklich hilfreich. Aber in der Politik vermutet er hinter allem eine Verschwörung. Bei der Analyse der Massenmedien halte ich es daher eher mit Bourdieu«, sagt er. »Aber jeder Diskurs braucht jemanden, der eigentlich zu radikal ist, um Teil des Diskurses zu sein.«
Als skandalös empfindet er auch die neuen Regelungen für Nichtregierungsorganisationen. »Der Tenor ist: Ihr seid von ausländischem Geld abhängig, die Linke gehört nicht dazu«, kritisiert Shaltiel. »Wir hören immer öfter: Geht doch nach Gaza!« Der Vorteil sei: »Wenn man aus dem Zentrum der israelischen Politik gedrängt wird, wird man sich bewusst, wer man ist.« In der Linken überlegten manche, ob sie nicht aus Israel auswandern sollten, sagt er. Das Phänomen ist nicht unbedingt neu, wohl aber die Begründung, warum man auswandern will: Früher ging man aus Protest gegen den Umgang mit den Palästinensern, heute gäbe es die Sorge, dass man selbst zum Opfer staatlicher Maßnahmen werden könnte. Dennoch betont Shaltiel seine Verbundenheit mit dem Land, das er auf der schiefen Bahn wähnt: »Ich mag Israel. Die meisten meiner Freunde leben hier, ich mag Hebräisch, die israelische Kultur, den Kaffee. Wenn ich Israel nicht mögen würde, würde ich nicht bloggen.«
Und was ist nun mit dem Optimismus? Wie soll das alles enden? »Die Optimisten sagen, es muss erst schlechter werden, bevor es besser wird.« Ob er selbst zu den Optimisten zählt, hat er noch nicht entschieden.